Alissa einen Entschluss. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie nicht abgeliefert hatte. Das Bedauern und die Wut gegen sich selbst, die sie fühlte, waren nichts Neues, aber etwas war anders. Dieses Mal hatte sie das Scheitern endgültig satt.
Alissas nächstes großes Rennen war ein noch wichtigeres: die Olympia-Qualifikation im Marathon. Sie wurde am 14. Januar 2012 in Houston ausgetragen, und am Start standen die stärksten jemals versammelten Marathonläuferinnen Amerikas. Alissas oberstes Ziel war es nicht, sich für die Olympia-Mannschaft zu qualifizieren, unter den Top Ten zu finishen oder persönliche Bestzeit zu laufen (obwohl sie all das natürlich wollte). Ihr Ziel war es, alles zu geben und den Rest einfach auf sich zukommen zu lassen. Nach knapp 16 Kilometern lag Alissa auf dem 13. Platz. Anstatt jedoch ihr Herz zu verlieren und sich zurückfallen zu lassen, erinnerte sie sich daran, dass sie sich nach dem Rennen viel schlechter fühlen würde, wenn sie nicht weiterkämpfte, als sie sich im Rennen je fühlen könnte, wenn sie weiter Druck machte. Also machte sie weiter Druck, während die anderen um sie herum wegbrachen. Alissa überholte auf den letzten 16 Kilometern fünf Läuferinnen und kam als Achte ins Ziel. Ihre Zeit von 2:31:56 Stunden lag um fast sechs Minuten unter ihrer bisherigen persönlichen Bestzeit. Wäre sie die gleiche Zeit vier Jahre früher gelaufen, wäre sie zu den Olympischen Spielen gefahren.
Nach dem Rennen gab Alissa ein Fernsehinterview für Flotrack. Es dauerte fünfeinhalb Minuten und während der gesamten Frage-Antwort-Zeit konnte sie nicht aufhören zu lächeln.
»Das löst in mir eine solche Vorfreude auf die Zukunft aus«, sagte sie über ihre Leistung. »Ich hatte viele Probleme mit meinem Selbstvertrauen in der Vergangenheit. Jetzt kann ich das alles hinter mir lassen.«
Athleten können also lernen, besser über glühende Kohlen zu gehen. Alissa McKaigs Geschichte beweist es. Sie erlaubt auch einen Einblick in die Art und Weise, wie der Prozess funktioniert. Die Standardformel lautet folgendermaßen: Unterentwickelte Bewältigungsfähigkeiten lassen einen Athleten sich auf irgendeine Weise abmühen. Die Erfahrung dieses Ringens mit sich ruft eine adaptive Antwort seitens des Athleten hervor. Diese Antwort lässt früher oder später die Bewältigungsfähigkeiten effektiver werden. In Alissas Fall führte mangelndes Selbstvertrauen dazu, dass sie bei einem wichtigen Rennen nicht abliefern konnte. Ihr Versagen führte zu dem Entschluss »nie wieder«, und dieser Schwur brachte sie dazu, einen hilfreichen Trick zu entdecken. In entscheidenden Augenblicken des Rennens verglich sie ihr aktuelles körperliches Leiden mit dem emotionalen Leiden, das sie erwarten würde, wenn sie sich selbst erlaubte, wieder einmal nicht alles zu geben. Diese spezielle Bewältigungsstrategie ist eine spezifische Manifestation einer umfassenderen Fähigkeit, der wütenden Entschlossenheit, auf die ich in Kapitel 6 näher eingehen werde.
Weil die angewandten Bewältigungsstrategien den Bewältigungsstil einer Person oder ihre Persönlichkeit ausmachen, könnte man sagen, dass Alissa McKaig in der olympischen Marathon-Qualifikation 2012 nicht die Person war, die 2011 bei den USA Track and Field Outdoor Championships nicht abliefern konnte. Die »Probleme mit dem Selbstvertrauen«, die sie überwand, beschränkten sich nicht auf den Sport, sondern beeinflussten auch alle anderen Bereiche ihres Lebens. Diese Probleme haben nur zufällig im Sport den größten Schaden angerichtet, weil die Verfolgung ihrer sportlichen Träume ihr Selbstvertrauen vor eine größere Prüfung stellte als irgendetwas sonst, das sie im Leben tat. Aus dem gleichen Grund eröffnete das Laufen Alissa aber auch die besten Möglichkeiten, allgemein eine Person mit mehr Selbstvertrauen zu werden. Wenn man sie in diesem Interview nach der Olympia-Qualifikation sprechen hört, hört man mehr als eine Frau, die gerade einen hilfreichen neuen Trick gelernt hat; man hört eine Frau, die sich auf einer tiefen Ebene verändert hat, die sich anders sieht als vorher.
Einige Bewältigungsstrategien sind kontextspezifisch und man kann sie sich aneignen, ohne dass der übergeordnete Bewältigungsstil einer Person angetastet wird. Ein Beispiel für eine Ausdauersport-spezifische Bewältigungsstrategie ist, seine gesammelte Rennerfahrung zu nutzen, um sein Tempogefühl zu verfeinern – die Kunst, die aggressivste Geschwindigkeit zu finden, die man bis ins Ziel halten kann, ohne die Schwelle der maximalen Toleranz wahrgenommener Anstrengung zu überschreiten. Aber ein Athlet wird niemals seine mentale Fitness maximieren können, wenn er nur kontextspezifische Bewältigungsstrategien erwirbt; er muss seinen allgemeinen Bewältigungsstil verbessern, indem er sich – zu einem gewissen Grad – als Person verändert.
Psychologen unterscheiden zwischen Fähigkeiten und Charakterzügen. Ein Charakterzug ist im Grunde eine verallgemeinerte oder nicht kontextspezifische Bewältigungsfähigkeit. Beispiele für Charakterzüge, die für die Bewältigung relevant sind: Grundsätzliche Selbstwirksamkeit (oder der Glaube an die eigene Kompetenz) und ein innerer Kontrollmechanismus (oder der Glaube, dass man der Kapitän seines Schiffs ist und nicht nur eine Marionette des Schicksals). Kein Athlet kann seine mentale Fitness maximieren, wenn er nicht auch Charakterzüge wie grundsätzliche Selbstwirksamkeit oder Kontrollmechanismen verbessert, und zwar zusätzlich zum Erwerb kontextspezifischer Fähigkeiten wie ein feines Tempogefühl.
Experimentelle Forschung bestätigt das, was Alissa McKaig im wahren Leben bewiesen hat: dass es dem Menschen möglich ist, durch den Erwerb kontextspezifischer Bewältigungsstrategien umfassendere, für Bewältigung relevante Charakterzüge zu entwickeln. Einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet ist Ronald Smith, ein Sportpsychologe an der Universität von Washington. In einer 1989 veröffentlichten Studie, die im Zuge eines Selbstverteidigungsprojekts für Frauen durchgeführt und im Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlicht wurde, fand Smith heraus, dass Selbstverteidigungstraining nicht nur die Fähigkeiten der Frauen verbesserte, sich zu wehren, sondern auch »umfassendere Aspekte der Persönlichkeit wie physische Selbstwirksamkeit und Durchsetzungsvermögen«. Das funktioniert auf die gleiche Art und Weise im Ausdauersport. Manchmal ist die einzige Möglichkeit, ein Hindernis, das der eigenen Entwicklung als Athlet im Weg steht, zu überwinden, indem man eine spezifische Fähigkeit erwirbt, die es erfordert, sich als Person weiterzuentwickeln – ein Schritt vorwärts auf Charakterzug-Ebene.
Einfach nur Sport zu treiben führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, dass ein Athlet einen reiferen und effektiveren Bewältigungsstil entwickelt. Das geschieht nur in dem Maße, in dem der Athlet sich selbst in den Sport investiert und in dem er bewusst das innere Ringen als Herausforderung für das eigene Selbst wahrnimmt. Der sechsmalige Ironman-Sieger Mark Allen traf den Nagel auf den Kopf, als er Ausdauerwettkämpfe beschrieb als »einen Test seiner selbst als Person zusätzlich zu einem Test seiner selbst als Athlet«. Doch er war nicht immer so weise gewesen. Allen verlor den Ironman sechsmal aufgrund mentaler Selbstsabotage, bevor er es seinem inneren Ringen erlaubte, ihn zu verändern, und er anfing zu gewinnen.
Die Frage, die ein Teil Ihres Selbst in den entscheidenden Augenblicken eines Rennens stellt – wie sehr willst du das? – ist eigentlich eine Einladung dazu, sich selbst zu erkunden. Nicht alle Athleten nehmen diese Einladung an. Wenn Sie beim »Lauf über glühende Kohlen« der Beste werden möchten, der Sie sein können, – mehr noch, wenn Sie alles aus dem sportlichen Erleben herausholen möchten, was möglich ist, – dann werden Sie diese Einladung annehmen. Die Reise mit dem Ziel, ein mental fitter Athlet zu werden, ist größtenteils auch eine Reise persönlicher Entwicklung.
Wir sehen dies besonders deutlich am Beispiel von Alissa McKaig. Vor der Krise, die ihren Durchbruch herbeiführte, hatte sie zwei Jahre lang mit einem Sportpsychologen an ihrem Selbstbewusstseins-Problem gearbeitet. Die Werkzeuge, die er ihr an die Hand gegeben hatte, waren jedoch nutzlos gewesen, bevor sie diese Erfahrung machte. Die Techniken, die Sportpsychologen traditionell lehren, gehen allein einfach nicht tief genug, um Athleten in kritischen Momenten zu retten, wenn ihre Seele selbst dazu herausgefordert wird zu reagieren. Keine Methode des mentalen Trainings oder der Therapie, die in Alltagskleidung durchgeführt wird, kann es mit der Kraft erlebter Erfahrungen aufnehmen, wenn es darum geht, effektive Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Alissa erinnerte sich selbst daran, dass sie viel lieber litt, weil sie sich bis ins Ziel kämpfte, als dass sie die Schande aushielt, aufgegeben zu haben. Doch diese Methode hätte für sie nicht funktioniert, wenn sie nicht so oft die Erfahrung gemacht hätte, wie schlimm es war, nicht abgeliefert zu haben. So fokussiert und spezifisch diese