in seinen Schatten. Lelisa musste endgültig abreißen lassen. Ein intensiver Willenskampf tobte nun zwischen den beiden alten Gegnern. Sammy war entschlossen, die Führung zu übernehmen, und sei es nur ein Zentimeter. Kebede war entschlossen, Sammy diesen Zentimeter nicht zu überlassen. Sammy schaffte es trotzdem, sich einen minimalen Vorsprung zu erkämpfen. Er konnte ihn genau zwei Sekunden lang halten, bevor Kebede wieder aufholte. Auf den nächsten 400 Metern rannten die beiden Kontrahenten Ellbogen an Ellbogen, mit synchron rotierenden Schultern und wippenden Köpfe.
Beide Männer litten nun sichtlich, aber die Aura der Kontrolle waberte noch immer um den Äthiopier herum. Als sie an der Zeitnahme bei Kilometer 40 vorbeikamen, lag Kebede einen Schritt vor Sammy, also machte er Druck. Innerhalb von Sekunden war Sammy wieder 20 Meter abgeschlagen, im freien Fall. Seine Hoffnungen sanken auf ein neues Tief.
Aber dann sah er etwas: Kebede schaute sich immer wieder um. Nicht einmal, nicht zweimal – dreimal. Jedes Mal blickte er über die linke Schulter. Sammy wechselte sachte auf die rechte Straßenseite. Als Kebede sich wieder umsah, war Sammy nicht mehr zu sehen.
Im Glauben, ihm endlich den Gnadenstoß versetzt zu haben, wurde Kebede etwas langsamer. Sammy nicht. Er kämpfte sich noch einmal an seinen Rivalen heran. Als es noch etwa 1,5 Kilometer bis ins Ziel waren, begann Kebede Zurufe der Zuschauer zu hören, kurz nachdem er sie passiert hatte. Er blickte über seine rechte Schulter – und da war Sammy. Kebede richtete seinen Blick wieder nach vorn, nahm sein Kinn herunter und bereitete sich darauf vor, den Willen des Kenianers zu brechen. Einen Augenblick später schoss Sammy an seiner linken Schulter vorbei.
Der Herausforderer reagierte schnell und parierte Sammys Beinahe-Sprint. Trotz der Rafinesse war Sammys Plan nicht aufgegangen. Er hatte keine Wahl und musste das Tempo verlangsamen. Umgehend startete Kebede den Gegenangriff und zeigte sich damit ebenso gewieft. Irgendwie wurde der holprige Schritt des Äthiopiers wieder geschmeidig. Er flog die Michigan Avenue hinunter mit dem Vertrauen eines Mannes, der wusste, dass er die letzte Kugel seines Kontrahenten abgefangen und überlebt hatte. Sammy lag plötzlich drei Schritte zurück. Diesmal schien es – endlich – vorbei.
Es war nicht vorbei. Ohne jegliche Kraftreserven in den Beinen ruderte Sammy wild mit den Armen, als ob er sie benutzen wollte, um seine ausgelaugten unteren Extremitäten damit auf Touren zu bringen. Es sah nicht schön aus, aber es funktionierte. Er holte auf. Kebede fühlte ihn, blickte sich um und sah seinen bereits dreimal gestorbenen Gegner wieder auferstanden und auf seinen Fersen. Kebede gab gerade noch rechtzeitig Gas, um Sammy einen halben Schritt hinter sich zu halten. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit still zu stehen, Sammy eingefroren einen Hauch entfernt von Kebedes Schulter. Sammys unfokussierter Blick ließ darauf schließen, dass er innerlich rechnete. Im nächsten Moment peitschte Sammy seinen Körper zu einem ausgewachsenen Sprint – die Art von absoluter, keine Reserven schonender Anstrengung, die niemand länger als zehn oder zwölf Sekunden aushalten kann, nicht einmal mit ausgeruhten Beinen. Es war verrückt. Aber Kebede sah das nicht so. Auch er sprintete. Die beiden Männer rannten volles Tempo, Hüfte an Hüfte, als ob sie nur noch Meter von der Ziellinie entfernt wären – es war tatsächlich noch gut einen Kilometer zu laufen.
Sammy Wanjirus Fans auf der ganzen Welt schrien vor ihren Fernsehapparaten und Computermonitoren. Toni Reavis, einer der Sprecher, die die Fernsehübertragung vor Ort kommentierten, hatte sich schon heiser geschrien.
Diese Situation konnte nicht andauern und das tat sie auch nicht. Als der selbstmörderische Sprint langsam auslief, lag Kebede wieder in Führung. Trotz Sammys unvorstellbarer Willensstärke war es bei jedem Schritt klar, dass Kebede der Stärkere war. Kebede hielt die Führung, als die Läufer die vorletzte Kurve des Rennens, eine Rechtskurve auf die Roosevelt Road, nahmen.
Es gibt nur einen Hügel im Chicago-Marathon und der ist genau an dieser Stelle, knapp vor Kilometer 42. Vor dem Rennen hatten Sammy und sein Trainer beschlossen, dass Sammy hier seinen Angriff starten sollte, wenn sich die Möglichkeit ergab. Rosa hatte nicht erwartet, dass sie sich ergeben würde. Im Stillen hatte er schon beschlossen, dass angesichts der Umstände selbst ein dritter Platz noch hervorragend wäre.
Sammy lief auf den ersten zehn Metern des steilen Anstiegs hinter Kebede her. Er nutzte die Gunst, unsichtbar zu sein, und katapultierte seinen geschundenen Körper in einen letzten Sprint. Er schoss rechts an Kebede vorbei. Kebede konterte mit allem, was er hatte, aber konnte der Kraft seines Kontrahenten nicht standhalten. Mit einem grauenvollen Ausdruck in den Augen, der diese Kraft Lügen strafte, schaute sich Sammy verstohlen dreimal kurz um, bevor er sich von Kebede absetzte, der bereits aufgegeben hatte. Sammy kam 19 Sekunden vor dem zerstörten Äthiopier ins Ziel und kollabierte auf dem Bürgersteig wie ein Schlachtopfer.
»ES WAR DIE GRÖSSTE Überraschung, die ich je erlebt habe«, gestand Federico Rosa später den Reportern.
Was Rosa im Gegensatz zum Publikum wusste: Die Knieverletzung und der Magenvirus waren die geringsten Probleme, die Sammy zu lösen hatte, um seinen Titel in Chicago zu verteidigen. Das größere Problem war sein selbstzerstörerischer Lebensstil, dem er verfallen war, nachdem sein Olympia-Sieg ihn zu einer kleinen Gottheit und einem echten Milliardär in seinem Heimatland gemacht hatte. Noch im Juni hatte Sammy jede Nacht getrunken, und wenn er sich körperlich betätigte, dann meistens im Bett irgendwelcher Groupies. Im Juli lag Sammy knapp fünf Kilo über seinem Wettkampfgewicht. Im August war er noch nicht in der Lage, mit schwächeren Läufern im Training mitzuhalten. Im September sagte Sammys Trainer in Kenia, Claudio Berardelli, zu Rosa, dass Sammy den Chicago-Marathon nicht zu Ende bringen würde, falls er dumm genug sein sollte, überhaupt anzutreten.
Wie schaffte es Sammy also, dass er das Rennen nicht nur beendete, sondern sogar gewann? Carey Pinkowski, der Rennleiter des Chicago-Marathons, hatte eine Theorie.
»Sammy hat heute sein Herz bewiesen«, sagte er bei der Pressekonferenz nach dem Rennen.
Im Sport ist »Herz« eine Metapher für mentale Fitness. Pinkowskis Theorie war, dass Sammy seine physische Schwäche durch psychische Stärke überwand. So muss es gewesen sein. Wäre das Rennen wie ein Boxkampf gewertet worden, hätte Kebede jede Runde gewonnen, außer der, die zählte, die letzte, in der Sammy ihn mit einem Schlag k. o. gehauen hatte. In vergangenen Marathonduellen mit ähnlicher Dynamik hatte der Läufer, der an Kebedes Stelle war – also derjenige, der in besserer Verfassung zu sein schien und die Attacken der anderen schneller parierte – immer gewonnen. Es war für jeden sachkundigen Beobachter klar, dass Sammy näher am Limit seiner körperliche Fähigkeiten war als Kebede.
Die physiologischen Faktoren, die die Leistung in einem Marathon limitieren, sind bekannt. Einer dieser Faktoren ist die Entleerung der Glykogenspeicher der arbeitenden Muskulatur. Wenn Pinkowskis Theorie richtig war, hätte eine Gewebeprobe aus der Beinmuskulatur von Sammy und Kebede im Ziel niedrigere Glykogenwerte beim Sieger ergeben.
Ist das möglich? Kann der schwächere, stärker ermüdete Mann wirklich ein so hart umkämpftes Rennen, bei dem mit so hohem Einsatz gelaufen wurde, gewinnen? Bis vor Kurzem noch hätten Sportwissenschaftler gesagt, dass der physisch schwächere Athlet seinen stärkeren Rivalen nicht allein durch die Fähigkeit höherer mentaler Fitness besiegen könne. Von den 1920ern bis in die 1990er-Jahre wurde das Gebiet der Sportwissenschaft von einem streng biologischen Modell der Ausdauerleistung dominiert, das Kopf und Gehirn komplett aus den Betrachtungen ausschloss. Diesem Modell zufolge wird die Ausdauerleistung einzig durch die Physiologie unterhalb des Halses bestimmt und von harten Restriktionen begrenzt, wie der maximalen Geschwindigkeit, die ein Läufer über eine bestimmte Strecke halten kann, bevor die Glykogenspeicher leer sind.
Ein neueres Modell der Ausdauerleistung bezieht den Körper und den Kopf, beziehungsweise das Gehirn, mit ein. Diese alternative Theorie wurde von seinem ursprünglichen Entwickler, Samuele Marcora, das »Psychobiologische Modell« genannt. Diesem Modell zufolge findet Erschöpfung während eines echten Ausdauerwettkampfs nicht dann statt, wenn der Körper eine harte physische Grenze, zum Beispiel vollkommen leere Glykogenspeicher, erreicht, sondern wenn der Athlet das Maximum an wahrgenommener Anstrengung fühlt, das er willens oder in der Lage ist zu ertragen. Harte physikalische Grenzen existieren natürlich, aber kein Athlet erreicht sie jemals, weil er immer erst an das rein psychologische Limit der wahrgenommenen