Matt Fitzgerald

Siegen ist Kopfsache


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Kopf von außen gefüttert wird, und das beeinflusst, was er erzeugt. Der britische Neurowissenschaftler Vincent Walsh behauptet sogar, dass sportliche Wettkämpfe die größte Herausforderung seien, der sich das menschliche Gehirn stellen kann – eine größere Herausforderung gar als reine Denkaufgaben wie die Lösung von Differenzialgleichungen und eine größere Herausforderung für das Gehirn als für den Körper.

      Wenn Sie das für übertrieben halten, bedenken Sie: Man braucht keine Muskeln für Ausdauersportwettkämpfe oder irgendeine andere Form der Bewegung, wenn man es genau nimmt. Sie sind absolut verzicht- und austauschbar. Heutzutage können Tetraplegiker, Menschen mit einer Querschnittslähmung, Roboter-Extremitäten via Elektroden, die am Kopf befestigt sind, mit ihren Gedanken kontrollieren. Bald wird es vollständig Gelähmten möglich sein, festgeschnallt in einem mechanischen Körper oder ihn von außen steuernd, an Ausdauersportwettkämpfen teilzunehmen. Werden diese kybernetischen Athleten unermüdlich sein? Nein. Ihre Leistungsfähigkeit wird vom Kopf begrenzt werden, genau wie es die Leistung gesunder Athleten immer schon war.

      Einen Roboterkörper mit seinen Gedanken zu kontrollieren, ist nicht einfach, selbst wenn der Roboterkörper die ganze Arbeit macht – weil er eben nicht die ganze Arbeit macht. Nach ungefähr 30 Minuten essen mit einem Roboterarm schlägt die Ermüdung zu und macht es unmöglich, fortzufahren. Es gibt keinen Unterschied zwischen diesem Phänomen und einem Mountainbiker, der am letzten Anstieg des Rennens vom Hungerast erwischt wird. In beiden Fällen passiert der Zusammenbruch im Kopf als Folge der mentalen Anstrengung, den Körper – sei es einer aus Fleisch und Blut oder aus Metall – weiter dazu zu treiben, Arbeit zu verrichten.

      Auch wenn die Wissenschaft erst vor Kurzem erkannt hat, dass Ausdauer im Grunde etwas Psychologisches ist, wusste das der Volksmund schon immer. Wenn wir sagen, jemand hat Ausdauer bewiesen, was meinen wir damit? Wir wollen damit sagen, dass er eine harte Zeit durchlebt hat. Ein Wanderer kann Ausdauer beweisen, indem er es aushält, 36 Stunden lang bei Kälte auf einem Berg herumzuirren, ein Marineoffizier kann Ausdauer beweisen, wenn er während der »Hell Week« des SEAL-Trainingsprogramms sieben Tage Schlafentzug schafft (so wie mein Vater während des Vietnam-Kriegs). Aber wenn man der Kälte ausgesetzt ist oder nicht schlafen darf, ist es nicht der biologische Effekt, den man aushalten muss, sondern das Erlebnis, das Erfahren eben dieser Situationen. Wenn der Wanderer die Kälte nicht spüren oder der Marineoffizier seine Müdigkeit nicht wahrnehmen würde, gäbe es keinen Grund, ihnen dazu zu gratulieren, dass sie diese Qual überstanden haben.

      Ausdauersportler beweisen Ausdauer im Wortsinn. Sie halten stundenlanges Training durch, die Entbehrungen eines asketischen Lebensstils und alle möglichen Gebrechen und Schmerzen. Aber was Ausdauersportler vor allem aushalten müssen, ist nicht die eigentliche Anstrengung, sondern die Wahrnehmung der Anstrengung. Das ist der Begriff, den Wissenschaftler nun benutzen, um das zu benennen, womit Athleten normalerweise beschreiben, »wie hart« sich eine Belastung in einem bestimmten Moment anfühlt, und er stellt das zentrale Konzept des Psychobiologischen Modells im Ausdauersport dar. Es war meine Wahrnehmung von Anstrengung, die mich beim Field Day 1982 so schockierte und an der ich später in meiner High-School-Läuferkarriere immer wieder scheiterte. Und es ist die Wahrnehmung von Anstrengung, so legen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nahe, die einen Mountainbiker im Wettkampf am letzten Hügel einen Hungerast erleiden lässt, die einen Gelähmten, der einen Roboterarm mit seinen Gedanken führt, nach 30 Minuten gegen eine Wand laufen lässt, und die die Ausdauerleistung in allen möglichen Situationen begrenzt. Die wichtigste Entdeckung im Zuge der Gehirn-Revolution im Ausdauersport und die wichtigste Wahrheit, die Sie als Ausdauersportler kennen können, ist diese: Man kann als Ausdauersportler nur besser werden, wenn man seine Beziehung zur Anstrengungswahrnehmung ändert.

      Sogar etwas, das so offensichtlich körperlich ist wie Training, unterliegt diesem Prinzip. Der Trainingsprozess erhöht die körperlichen Kapazitäten eines Athleten, aber gleichzeitig verändert sich das Verhältnis zur Anstrengungswahrnehmung. Je fitter der Athlet wird, desto leichter fühlt es sich für ihn an, zu schwimmen, Rad zu fahren, zu laufen oder was auch immer in jeder erdenklichen Geschwindigkeit zu tun. Und das ist der Grund, warum sich die Leistung verbessert. Wenn sich die körperlichen Fähigkeiten des Athleten verbessern würden, aber das Verhältnis zur Anstrengungswahrnehmung nicht entsprechend, würden sich die Rennergebnisse nicht verändern, weil der Athlet psychisch nicht in der Lage wäre, auf diese verbesserten körperlichen Kapazitäten zurückzugreifen.

      In der Realität könnte das eben beschriebene Szenario niemals stattfinden. Anstrengungswahrnehmung ist in ihrer Essenz der Widerstand des Körpers, sich dem Willen des Kopfes zu unterwerfen. Je fitter der Athlet wird, desto weniger Widerstand setzt der Körper dem Kopf entgegen. Deshalb kann man ein höheres körperliches Fitnesslevel immer fühlen.

      Daneben gibt es noch eine ganze Reihe von Faktoren, die den Kopf betreffen, die ebenfalls die Anstrengungswahrnehmung eines Athleten verändern und damit seine Leistungsfähigkeit verbessern können. Einige dieser Faktoren erhöhen das, was aufgrund eines bestimmten Anstrengungsgrades »herauskommt« (zum Beispiel die Geschwindigkeit), genau wie Training auch. Ein solcher Faktor ist die inhibitorische, also hemmende Kontrolle oder die Fähigkeit, auf aufgabenrelevanter Ebene fokussiert zu bleiben (zum Beispiel auf den Gegner vor einem), wenn ein ablenkender Einfluss auftritt (zum Beispiel die Erinnerung daran, dass man gegen den gleichen Gegner schon einmal verloren hat). Eine im Jahr 2014 von Samuele Marcora durchgeführte Studie zeigte, dass ein kognitiver Test, der darauf ausgelegt war, den inhibitorischen Kontrollmechanismus des Gehirns zu ermüden, die Anstrengungswahrnehmung während eines darauf folgenden 5-Kilometer-Laufs erhöhte und die Leistung verringerte. Ein Jahr später berichteten Forscher der Universität von Padua in PLOS ONE, dass Läufer, die auf einer Messskala für inhibitorische Kontrolle höhere Ergebnisse erzielten, besser in einem Ultramarathon abschnitten.

      Andere Faktoren erhöhen die Schwelle, wie viel wahrgenommene Anstrengung ein Athlet tolerieren kann (oder wird). Ein offensichtliches Beispiel dafür ist seine Motivation. Ich habe es hauptsächlich meiner größeren Motivation zu verdanken, dass ich inzwischen mehr wahrgenommene Anstrengung tolerieren kann und als Ausdauersportler kein Kopf-Fall mehr bin.

      Nicht alle Ausdauersportler sind Kopf-Fälle, aber es liegt in der Natur des Sports, den sie betreiben, dass sie alle sich psychologischen Herausforderungen stellen müssen. Und sämtliche dieser Herausforderungen hängen entweder direkt oder indirekt mit der Anstrengungswahrnehmung zusammen. Wenn Wettkämpfe nicht so unglaublich hart wären, wären Athleten nicht mit Momenten des Selbstzweifels konfrontiert, hätten keine Angst vor einem Rennen, ärgerten sich nach dem Zieleinlauf nicht über den Wettkampf, fühlten sich nicht geistig ausgebrannt oder eingeschüchtert. Sogar die meisten Trainingsfehler, zum Beispiel Übertraining, resultieren aus dieser Angst vor dem Leiden.

      Psychologen benutzen den Begriff Bewältigung, um die verhaltensbezogene, emotionale und kognitive Reaktion einer Person auf Unwohlsein und Stress zu beschreiben. Im Ausdauersport geht es hauptsächlich um Unwohlsein und Stress; deshalb geht es dabei auch hauptsächlich um Bewältigung. In einem Rennen ist es die Aufgabe der Muskeln, zu leisten. Die Aufgabe des Kopfes ist es, zu bewältigen. Aber es gibt einen Haken: Die Muskeln können nur Leistung bringen, wenn der Kopf in der Lage ist, die Situation auch zu bewältigen. Ausdauersport ist deshalb ein Spiel von »Kopf über Körper«.

      Im Ausdauersport umfasst erfolgreiche Bewältigung jedes Verhalten, jede Emotion, jeden Gedanken oder jede Kombination aus diesen, womit eine bessere Leistung erzielt wird. Anders ausgedrückt bedeutet erfolgreiche Bewältigung im Ausdauersport jede Reaktion eines Athleten auf Unwohlsein und Stress, die sein Verhältnis zur Ausdauerwahrnehmung positiv beeinflusst, entweder indem sich die Belastbarkeit des Athleten verbessert oder indem der Athlet mehr aus der für ihn möglichen Anstrengung zieht.

      Einige Bewältigungsstrategien sind effektiver als andere. Eine Verletzung vorzutäuschen, um das Leiden während des Rennens zu beenden, so wie ich es in der High School tat, ist ein Beispiel für eine nicht sehr effektive Bewältigungsstrategie. Sich von Spitzenathleten inspirieren zu lassen, um ein höheres Maß an Unwohlsein ertragen zu können, wie ich es im zweiten Abschnitt meines Lebens als Ausdauersportler tat, ist ein Beispiel für eine effektivere Bewältigungsstrategie.

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