zwei Jahren und einem Preisgeld von einer halben Million US-Dollar für den Läufer, der in den teilnehmenden Rennen die meisten Punkte gesammelt hatte. Die Serie 2009–2010 sollte in New York enden. Keiner der anderen Mitbewerber um das Preisgeld würde dort jedoch starten, weshalb derjenige, der in Chicago zuerst ins Ziel käme – Sammy oder Kebede – das Ding nach Hause holen würde.
Nach seinem Ausstieg in London flog Sammy mit seinem Trainer Federico Rosa nach Italien, wo sein ramponiertes Gelenk intensiv behandelt wurde. Im Juni startete er bei einem Halbmarathon in Sizilien, aber das Knie machte noch immer Probleme und Sammy stieg erneut aus. Das nächste Rennen im Kalender war der Berlin-Marathon im September. Er sagte ab und konzentrierte sich stattdessen auf Chicago. Trotz der zusätzlichen vier Wochen Vorbereitungszeit durfte jetzt nichts mehr dazwischen kommen.
Aber es gab weitere Rückschläge. Als das Knie endlich geheilt war, fing Sammys unterer Rücken an zu mucken. Er trainierte trotz der Schmerzen, so gut er konnte, und war kurz davor, in Form zu kommen, als der Magenvirus zuschlug.
Während seiner Genesung wurde Sammy klar, dass er trotz der holprigen Vorbereitung an den Start gehen wollte, und wenn er nur verhinderte, dass Kebede die halbe Million Prämie kassierte. Sein Trainer Rosa stimmte der Entscheidung widerstrebend zu, bestand aber darauf, dass Sammy es verhalten angehen und hinter den Führenden bleiben sollte, um zu versuchen, das Rennen langsam zu halten, und das, was er an Kraftreserven hatte, für einen späten Angriff aufzuheben.
Vorsichtige Renntaktiken waren nicht Sammys Ding. Sein Rennstil ließ sich am besten mit brutal aggressiv beschreiben. Bei den Olympischen Spielen hatte er bereits von der Startlinie aus die erste Überraschungsattacke gesetzt. Olympische Marathons sind dafür bekannt, taktisch und eher langsam gelaufen zu werden, selbst wenn sie nicht in der Pekinger Sommerhitze bei 28 Grad Celsius stattfinden. Sammy brannte die ersten 1,5 Kilometer in 4:41 Minuten in den Asphalt – Weltrekordgeschwindigkeit. Nur 19 Läufer schafften es bis dahin, mit ihm mitzuhalten. Bei der 10-Kilometer-Marke war die Führungsgruppe auf acht Läufer geschrumpft. Sammy ließ nicht locker. Ein Verfolger nach dem anderen musste abreißen lassen. Er rannte die letzten paar Kilometer komplett allein, überquerte die Ziellinie in 2:06:39 Stunden und unterbot, nein, pulverisierte den bisherigen Weltrekord um fast drei Minuten. Einige Beobachter bezeichneten es als die größte Marathonvorstellung, die es jemals gegeben hat. Sammy war 21 Jahre alt.
Der 10. Oktober 2010 war kein heißer Tag in Chicago, aber es war warm. Die Temperatur war bereits auf 19 Grad geklettert, als das Rennen um 7.30 Uhr morgens startete. Sammy sortierte sich brav am Ende der Führungsgruppe ein. Shadrack Kosgei, einer von zwei angeworbenen Hasen, führte eine 12-köpfige Gruppe, die nur aus Afrikanern bestand, in 15:03 Minuten zu Kilometer 5 – eine eher moderate Geschwindigkeit. Kebede, in Purpur und Schwarz gekleidet, blieb in Sammys Nähe.
Federico Rosa, der das Rennen aus dem VIP-Fahrzeug an der Spitze des Feldes beobachtete, sah sofort, dass Sammy unruhig war. Der Olympia-Sieger mit der Zahnlücke war mit seinem kindlichen hüpfenden Schritt und den geraden, weit vom Körper abstehenden Armen und gespreizten Fingern, die auf Hüfthöhe in der Luft herumpendelten, in der Menge schnell auszumachen. Millimeterweise schob er sich nach vorn, erinnerte sich dann selbst an die Vorgabe und ließ sich unschuldig wieder zurückfallen.
Tu es nicht, dachte Rosa.
Es war umsonst. Nach 14 Kilometern zog Sammy davon. Er rannte an den Hasen vorbei und zog die Geschwindigkeit von 4:50 Minuten pro Meile auf 4:40 an. Alle außer einem Läufer in seiner Nähe gingen die Tempoverschärfung ohne große Mühe mit. Es war noch relativ früh im Rennen. Nur Robert Cheruiyot, der amtierende Sieger des Boston-Marathons geriet unter Druck. Er hing kurz am Ende der Gruppe, bevor er abreißen lassen musste.
Obwohl Sammy der Anstifter war, fühlte er sich nicht besser als der Mann, den er gerade aus der Spitzengruppe geschubst hatte. Angstschübe schossen durch seinen Körper, als er feststellte, dass seine Beine und sein Instinkt an diesem Tag nicht gleichgeschaltet waren. Der junge Kenianer reduzierte das Tempo und übergab die Kontrolle den Hasen. Die Geschwindigkeit fiel, und Cheruiyot kämpfte sich zurück in die Gruppe.
Kebede, der vielleicht die Schwäche seines Kontrahenten erkannt hatte, schob sich nun nach vorn. Er griff nicht sofort an, aber seine Gegner wussten, dass das nur eine Frage der Zeit sein würde. Der erste große Angriff kam bei Kilometer 29. Cheruiyot musste erneut abreißen lassen, diesmal endgültig. Dann begann das Gemetzel.
Bei Kilometer 32 schlug Kebede nochmals zu, und die Spitzengruppe flog sofort auseinander. Fünf der verbleibenden acht Läufer – darunter Vincent Kipruto mit einer Marathonbestzeit von 2:05 Stunden und Deriba Merga mit einer Halbmarathonbestzeit von 59 Minuten – verschwanden wie durch eine Falltür. Wusch! Weg waren sie.
Die einzigen Überlebenden waren Sammy und der 20-jährige Äthiopier Feyisa Lelisa, der im Frühjahr in Rotterdam 2:05:23 Stunden gelaufen war. Diese Männer verfolgten Kebede wie zu Evakuierende den letzten Zug, die Münder schmerzverzerrt. Im Gegensatz zum ersten Angriff hörte dieser nicht auf. Es hatte schon fast etwas von Hohn, wie der Äthiopier seine Verfolger mit versteinertem Gesichter hinter sich herzog und jeden noch so zaghaften Versuch einer Tempoverschärfung mit einer eigenen parierte, sodass der Abstand zwischen ihnen – etwa zwei Schritte – nicht kleiner wurde.
Als es auf Kilometer 37 zuging, bogen die drei Läufer, die nun wie an einer Perlenschnur aufgereiht hintereinander liefen, in einer scharfen Linkskurve von der Wentworth Avenue ab auf die 33rd Street. Sammy verlängerte seinen Schritt in einem verzweifelten Versuch, dranzubleiben. Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und seine Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, alles deutete auf eine unmittelbar bevorstehende Implosion hin. Er hatte den düsteren Ausdruck eine Kletterers, der an einem langsam reißenden Seil hängt. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die knapp zwei Meter zwischen sich und Kebede gerichtet und in keinster Weise auf die noch fast fünf zu laufenden Kilometer bis ins Ziel. Alles hing ab vom Jetzt. Aber aus zwei Metern wurden vier Meter, aus vier Metern wurden sieben. Das Seil war gerissen. Sammy begann, die Hoffnung aufzugeben.
Auch Sammys zahlreiche Fans auf der ganzen Welt, die das Rennen live im Fernsehen oder im Internet verfolgten, gaben die Hoffnung langsam auf. Einige von denjenigen, die in interaktiven Foren unterwegs waren, während sie zuschauten, erklärten das Rennen zu diesem Zeitpunkt für zu Ende und beklagten sich über mangelnden Kampfgeist des Kenianers, der völlig untypisch für ihn war.
»Kebede gewinnt … verdammt!«, schrieb ein enttäuschter Wanjiru-Fan auf letsrun.com.
Man kann den Zuschauern nicht vorwerfen, dass sie Sammy so schnell abschrieben. Schließlich laufen Kenianer nicht »für sich« oder »machen ihr eigenes Rennen« wie Läufer aus anderen Nationen. Diese Ansätze kennen sie nicht. Wenn ein kenianischer Läufer bei einem Rennen antritt, um zu gewinnen, übernimmt er entweder die Führung oder bleibt so lange er nur irgendwie kann bei demjenigen, der führt. Er wird jede Tempoverschärfung mitgehen, egal wie nahe er schon an seinem Limit läuft. Sogar wenn es mit ziemlicher Sicherheit bedeutet, dass er explodiert, auf den letzten zehn Kilometern fünf Minuten verliert und auf den achten Platz durchgereicht wird, er wird es tun. Denn wenn du nicht gewinnen kannst, kannst du auch gleich Achter werden.
Von einem amerikanischen Läufer, der 5 Kilometer vor der Ziellinie 20 Meter hinter einem immer stärker werdenden Führenden herläuft, könnte man denken, er teilt sich seine Kraft clever ein. Aber Sammy war Kenianer, und dass er nicht aufschloss, konnte nur eins heißen: Er hatte keine Kraft mehr, die er sich einteilen konnte.
Sammy wusste das besser als jeder andere. Als Kebede sich immer weiter von ihm absetzte, wanderten die Gedanken des Olympia-Siegers zu dem Mann drei Schritte hinter ihm. Sein Ziel wechselte abrupt davon, das Rennen (und einen dicken Scheck) gewinnen zu wollen, dahin, den zweiten Platz zu halten und das immer noch üppige Preisgeld zu bekommen, das es dafür gab. Aber genau in diesem Augenblick wurde Kebede etwas langsamer. Sammy konnte die atemberaubende Geschwindigkeit von Kebede nicht halten, aber der Äthiopier selbst konnte es auch nicht. Davon ermutigt suchte Sammy in sich nach dem Willen, die Lücke zu schließen – und fand ihn. Lelisa schloss ebenfalls auf. Sie waren wieder zu dritt.
Aber nicht