Arten von Unwohlsein und Stress zurechtzukommen, die der Ausdauersport gern austeilt – angefangen mit der Anstrengungswahrnehmung bis hin zu den vielen Herausforderungen, die damit zusammenhängen, wie beispielsweise die Angst vor dem Versagen. Sie müssen die Fähigkeiten zur Bewältigung, die beim Meistern dieser Herausforderungen am effektivsten sind, entdecken, üben und perfektionieren. Ich bezeichne diese hochentwickelte Fähigkeit zur Bewältigung im Ausdauersport als mentale Fitness.
Die traditionelle Sportpsychologie ist nur bedingt von Nutzen, wenn es darum geht, mentale Fitness zu entwickeln. Vor der Gehirn-Revolution, als Geist und Körper getrennt voneinander behandelt wurden und die Biologie fast alles erklärte (obwohl sie das nicht tat), musste sich die Sportpsychologie auf einen winzigen Teil am Rande der Sport-Sphäre beschränken. Sie bestand aus einem Sammelsurium von Techniken, die ganz offensichtlich nicht physisch waren, wie Visualisierung und Zielsetzung, und sie wurde fast immer außerhalb des Sportkontexts selbst angewandt. Diese immer gleichen Tricks wurden den Athleten in allen Sportarten aufgedrängt – solchen, in denen Anstrengungswahrnehmung nur eine kleine Rolle spielt wie im Basketball, und solchen, in denen Anstrengungswahrnehmung alles ist: Ausdauersport.
Die Gehirn-Revolution hat zur Entstehung einer neuen Art der Sportpsychologie geführt. Einer, die sich auf dem Psychobiologischen Modell der Ausdauerleistung gründet und daher speziell für diese Disziplinen anzuwenden ist. Die neue Psychologie unterscheidet sich von der alten in zwei entscheidenden Punkten. Erstens fokussiert sie sich ganz auf die Entwicklung mentaler Fitness oder darauf, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die, direkt oder indirekt, das Verhältnis eines Athleten zur wahrgenommenen Anstrengung so verändert, dass sich seine Leistung verbessert. Es ist eine Psychologie, die den Kopf über den Körper stellt.
Zweitens übernehmen Sie selbst, der Athlet, in der neuen Sportpsychologie die Rolle des Sportpsychologen. Warum? Weil man nur dann wirklich gut darin wird, mit dem Unwohlsein und dem Stress umzugehen, die mit Ausdauersport einhergehen, wenn man sie am eigenen Leib erfährt. Visualisierungs- und Zielsetzungsübungen allein werden Ihrem Kopf nicht helfen, die Rebellion Ihres Körpers in den härtesten Augenblicken des Rennens zu unterdrücken. Um mentale Fitness zu erlangen, muss man sich diesen Herausforderungen ebenso stellen, wie man auch ums Training nicht herumkommt, wenn man physisch fit werden möchte. Bewältigung ist schließlich eine Reaktion auf Unwohlsein und Stress.
Sein eigener Sportpsychologe zu sein, bedeutet aber mehr, als auf die harte Tour aus Erfahrungen zu lernen. Es besteht ein entscheidender Unterschied darin, sich blind in athletische Herausforderungen zu stürzen, und darin, eben diesen mit Vorwissen über ihre Natur zu begegnen, und zu wissen, welche Bewältigungsmethoden sich bei anderen Athleten als effektiv erwiesen haben. Die übergeordnete Mission der neuen Ausdauersportpsychologie ist es, die Athleten mit diesem Wissen auszustatten, damit sie »das Rad nicht neu erfinden« müssen bei ihren Versuchen, das Unwohlsein und den Stress in ihrem Sport zu bewältigen, sondern erfolgreich als ihr eigener Sportpsychologe fungieren können.
Die beste Wissensquelle für die effektivsten Methoden, mit den Herausforderungen im Ausdauersport umzugehen, ist das Beispiel, das Spitzen-Ausdauersportler geben. Die Methoden, auf die die besten Athleten vertrauen, um die höchsten und am häufigsten auftretenden mentalen Barrieren zu überwinden und so mehr Leistung bringen zu können, sind quasi per Definition die effektivsten Bewältigungsstrategien für alle Athleten. Champions sind die ultimativen Vorbilder – das gilt für die Sportpsychologie ebenso wie für Training und Ernährung. Es ist unmöglich, auf Topniveau in irgendeinem relevanten Ausdauersportbereich erfolgreich zu sein, wenn man sich mit dem Zweitbesten zufrieden gibt. Kein Athlet, egal wie talentiert er ist, kann auf der internationalen Bühne gewinnen, ohne die gesamte Kraft seines Kopfes zu nutzen, um sowohl seine Belastungstoleranz zu maximieren als auch die Leistung, die er aus dieser Belastbarkeit generiert. Bedenken Sie, wie viel mehr als ich Hunter Kemper erreicht hat, mit vielleicht nur ein wenig mehr rohem physischen Talent.
Um von den Besten zu lernen, genügt es nicht, ihren Geschichten vom Bewältigen zu lauschen. Wir müssen auch wissen, wie wir diese Beispiele interpretieren. Was ist die grundlegende Natur der Herausforderungen, denen sich die erfolgreichsten Wettkämpfer gestellt und die sie überwunden haben? Wie können wir die Bewältigungsstrategien, die sie anwenden, um diese Herausforderungen zu meistern, so verstehen, dass wir sie auf unsere eigenen Erfahrungen übertragen können? Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen, um vom Beispiel der Besten profitieren zu können. Das Psychobiologische Modell des Ausdauersports hilft uns dabei. Indem wir diese neue Wissenschaft auf Fallstudien von Spitzenathleten anwenden, können wir daraus Lektionen für die Praxis ableiten, die sich dann auf unsere eigene sportliche Reise anwenden lassen.
Es war eine Kombination aus Nachempfinden und wissenschaftlicher Interpretation, die meinen Weg zur Erlösung im zweiten Abschnitt meines Lebens als Ausdauersportler ebnete. Als Läufer in der High School hatte ich nicht das geringste wissenschaftliche Verständnis für die Ängste, die mich zurückhielten. Ich erkannte auch nicht, dass Spitzenathleten die gleichen Ängste haben und überwinden. Als erwachsener Läufer und Triathlet bin ich diese Ängste direkt angegangen – in meiner Rolle als mein eigener Sportpsychologe, bewaffnet mit dem Wissen über ihre neuropsychologische Essenz und mit der Inspiration, die ich aus den Beispielen von Spitzenathleten zog, die die effektivsten Wege aufzeigten, damit umzugehen. Durch dieses Wissen allein habe ich die Herausforderungen, die ich bestehen wollte, nicht gemeistert. Aber es gab mir das, was notwendig war, um aktiv meine sportliche Erfahrung dafür einzusetzen, meine mentale Fitness zu verbessern.
Die Aufgabe dieses Buchs ist es, Sie dabei zu unterstützen, Ihr eigener Sportpsychologe zu werden – ein kompetenter und sich stets verbessernder Anwender der neuen Psychologie des Ausdauersports. Sie werden auf den folgenden Seiten keine Techniken oder Übungen finden. Das gehört in die traditionelle Sportpsychologie. Stattdessen werden Sie mit wahren Geschichten über Bewältigung in Berührung kommen, die hauptsächlich aus dem Spitzenbereich des Ausdauersports stammen und als »Lehrmomente« dienen, wenn man sie aus Sicht des Psychobiologischen Modells des Ausdauersports
betrachtet.
In jedem Rennen stellt etwas (das wir nun als Anstrengungswahrnehmung spezifizieren können) einem Athleten eine einfache Frage: Wie sehr willst du das? Damit man das eigene Potenzial als Athlet umsetzen kann, muss man mit einer Version dieser Antwort reagieren: Mehr. Und dann muss man es beweisen. Es ist ein einfaches Prinzip, das unglaublich schwer in der Praxis umzusetzen ist – viel schwieriger als herauszufinden, wie man trainieren, was man essen und welche Schuhe man tragen sollte. Hier ist mein Versprechen an Sie: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, wird Ihre Antwort auf die wichtigste Frage im Ausdauersport nie mehr dieselbe sein.
Kapitel 1 Ein Rennen ist wie über glühende Kohlen zu laufen
KAPITEL 1
Ein Rennen ist wie über
glühende Kohlen zu laufen
BEI EINER PRESSEKONFERENZ einen Tag vor dem Chicago-Marathon 2010 gestand Titelverteidiger Sammy Wanjiru, dass er aktuell nur zu 75 Prozent fit sei. Er bluffte nicht. Drei Wochen zuvor hatte sich Sammy einen Magenvirus eingefangen, aufgrund dessen er einige Schlüsseleinheiten hatte ausfallen lassen müssen. Während er das Bett hütete, überlegte er, ob er Chicago absagen und stattdessen einen Monat später in New York starten sollte.
Wäre die Krankheit sein einziges Problem gewesen, hätte Sammy keinen so drastischen Schritt in Erwägung gezogen. Aber 2010 war insgesamt ein schweres Jahr für den 23-jährigen Helden aus Kenia gewesen. In der Vorbereitung auf den London-Marathon im April, bei dem er ebenfalls Titelverteidiger war, war Sammy gestolpert und hatte sich am rechten Knie verletzt. Er startete trotzdem, aber die Verletzung brach wieder auf und er musste nach 15 Kilometern aufgeben. Tsegaye Kebede aus Äthiopien gewann das Rennen.
Wenn Sammy einen Rivalen hatte, dann war es dieser Mann. Kebede war im Vorjahr beim London-Marathon Zweiter hinter Sammy geworden und holte sich Bronze, als Sammy bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking im Marathon Gold gewann. Kebede stand auf der Starterliste für den Chicago-Marathon 2010, und das könnte der Grund gewesen sein, warum Sammy sich gegen eine Absage entschied, obwohl er nicht ganz fit war. Die beiden Männer rangierten auf Platz