Flynn zettelte alsbald einen heftigen Bieterkrieg zwischen den führenden Laufschuhmarken an. Jennys Einbruch bei den NCAAs hatte das Glänzen in den Augen der Marketingverantwortlichen nicht verschwinden lassen. Im Januar unterschrieb Jenny einen Mehrjahres-Vertrag mit New Balance. Drei Wochen später verpflichtete sie einen neuen Trainer und legte ihre Fitness in die Hände von Juli Benson, einer ehemaligen Olympia-Mitteldistanzläuferin, die nun Cross-Country-Läufer und Leichtathleten an der U. S. Airforce Academy in Colorado Springs trainierte.
Benson und Jenny kamen überein, dass sie sich eine längere Wettkampfpause gönnen würde, um ihre mentalen und körperlichen Akkus aufzuladen und sich aufs Training zu konzentrieren. Ihr erstes Rennen als Profi waren die 1.500 Meter beim Payton Jordan Invitational, das am 1. Mai 2010 an der Stanford Universität ausgetragen wurde. Sie hatte in ihrem Interview mit Flotrack am Morgen nach der Katastrophe mit Nachdruck geschworen, dass sich so ein Debakel wie in Terre Haute nicht wiederholen würde. Aber als ihr Debüt näher rückte, drückte die Erinnerung schwer auf ihr Gemüt. Trotz ihrer Aufregung gewann sie locker. Nachdem sie die Ziellinie überquert hatte, feierte Jenny, als hätte sie gerade Olympia-Gold gewonnen. Ein paar Tage später hatte ich die Gelegenheit, Jenny zu fragen, ob ihre Erleichterung etwas mit dem Trauma ihres letzten Rennens zu tun gehabt hatte.
»Die Freude, die am Ende meines Rennens aus mir herausgebrochen ist, war tatsächlich der Triumph über dieses Trauma«, antwortete sie mir. »Allein, nur durch dieses erste Rennen zu kommen, war schon ein mentaler Sieg.«
Mit dieser Last von den Schultern konnte Jenny sich nun auf ihr großes Ziel, auf der Weltbühne zu gewinnen, konzentrieren. Im Februar 2011, sie war inzwischen verheiratet und trug den Nachnamen Simpson, gewann sie die Rennen über 1.500 und 3.000 Meter bei den USA Track and Field Indoor Championships. Vier Monate später wurde sie über die 1.500 Meter Zweite hinter Morgan Uceny bei den USA Track and Field Championships und qualifizierte sich für die Weltmeisterschaft in Daegu, Südkorea. In Daegu kam Jenny von den Vorläufen ins Semifinale und schließlich ins Finale.
Das Frauen-Finale mit 12 Teilnehmerinnen fand unter den Lichtern des Daegu Stadions am Abend des 1. Septembers um 20.55 Uhr statt. Die besten Kurzstrecklerinnen der Welt gingen hinter der gebogenen Startlinie in Position, Jenny stand auf der äußersten Bahn. Sie sah nervös aus und war es auch – so nervös, wie sie an der Startlinie der NCAA Cross Country Championship 2009 vor 21 Monaten gewesen war. Aber ihre Gedanken waren andere.
Jennys erster Gedanke war, dass 25 Prozent der Frauen in diesem Rennen eine Medaille mit nach Hause nehmen würden – ziemlich gute Gewinnchancen also. Ihr nächster Gedanke war, dass sie sich nicht wirklich auf ihr Glück verlassen wollte; sie wollte um einen Platz in den Top 3 kämpfen. Ihr letzter Gedanke war, dass die amerikanische Nationalhymne ihr zu Ehren gespielt werden würde, wenn sie das Rennen gewinnen sollte, und dass ihre Schwester Emily, die gerade der Armee beigetreten war, die Zeremonie später sehen und hören würde. Alle elf Frauen zu ihrer Linken zu schlagen würde härter werden als alles, was Jenny zuvor gemacht hatte – es würde ihr alles abverlangen und vielleicht würde nicht einmal das gut genug sein. Aber sie war entschlossen, sich nicht mit weniger zufrieden zu geben.
Der Startschuss knallte und die Läuferinnen schossen über die schlumpfblaue Bahn auf der Suche nach einer taktisch vorteilhaften Position – nicht in Führung, aber in der Nähe der Führenden. Jenny kam nicht schnell genug aus ihrem Startblock und durchlief die erste Kurve als Vorletzte.
Wie so oft in 1.500-Meter-Rennen der Fall, geriet das Tempo im Feld nach dem ersten wilden Gefecht um die Positionen schnell ins Stocken. Jenny nutzte die reduzierte Geschwindigkeit, um auszuscheren und nach vorn zu laufen, wo sie sich rechts von der früh in Führung gegangenen Mimi Belete aus Bahrain einordnete. Maryam Jamal, ebenfalls aus Bahrain, fand Jennys Idee ziemlich gut und tat es ihr gleich. Sie zog nach vorn und setzte sich direkt vor Jenny, bevor sie langsamer wurde und den Neuling einen Platz nach hinten zwang.
Belete blieb jedoch ganz vorn und führte das Feld über 400 Meter in einer recht langsamen Zeit von 1:08,78 Minuten. Die Spurtstarken im Feld, besonders Natalia Rodriguez aus Spanien, hätten nicht glücklicher sein können. Wenn das Trödeln weiterging, wären diejenigen, die am Schluss richtig Gas geben können, gut positioniert, um das Rennen in der letzten Runde an sich zu reißen.
Es war im Interesse aller anderen, ein ehrliches Rennen zu machen, dennoch traute sich niemand, die Bürde der Führung von Belete zu nehmen, die ihrerseits das Tempo moderat anzog, aber nicht genug, um irgendjemanden unter Druck zu setzen. Die gedrängte Pulkformation, in der die Läuferinnen unterwegs waren, führte dazu, dass sich viele Ellbogen in Rippen bohrten und Spikes mit Schienbeinen in Kontakt kamen.
Belete passierte die 800-Meter-Marke nach 2:13,94 Minuten. Es waren noch 300 Meter, bevor die letzte Runde eingeläutet werden würde, und die Läuferinnen begannen, verstärkt zu drängeln. Die Läuferinnen von hinten drückten nach vorn. Diejenigen, die am Rand eingeklemmt waren, erzwangen sich ihren Weg nach außen. Die Frauen, die bereits gut positioniert waren, kämpften um ihren Platz. Jenny gewann einen Platz und rutschte von Position 12 auf 11, wo sie zumindest außer Reichweite von Ellbogen und Spikes war.
Rodriguez war die erste, die Beletes Führung anfocht. Das setzte eine Kettenreaktion in Gang. Alle warfen sich auf einmal nach vorn, in einem Versuch, der Spanierin an den Fersen zu bleiben. Obiri touchierte Rodriguez’ Ferse von hinten und die Kenianerin stürzte auf die Bahn. Morgan Uceny konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren und ging ebenfalls zu Boden. Jenny fand eine schmale Lücke zwischen den Gestürzten. Das Gedränge unter den verbleibenden Läuferinnen wurde nur noch schlimmer: Einige Athletinnen schoben sich auf die dritte und vierte Bahn in dem panischen Versuch, nach vorn zu kommen, während diejenigen, die in der Mitte eingekeilt waren, versuchten, über die Läuferinnen vor sich hinwegzurennen.
Als die letzte Runde eingeläutet wurde, war Jenny an letzter Stelle einer achtköpfigen Führungsgruppe, in der auch eine kämpfende Jamal – die fast gestürzt war – direkt rechts neben ihr lief. Jenny musste nach vorn, und um das zu schaffen, musste sie von der Bahninnenseite wegkommen. Sie wurde gerade so viel langsamer, dass Jamal einen Schritt vor ihr rannte, zog nach rechts und flog an Jamal und Karakaya vorbei, während die nun führende Rodriguez die Gruppe aus der zweiten Kurve in die Gerade führte.
Das Tempo wurde immer schneller, als sie auf Kurve drei zurannten. Jenny war jetzt nur noch einen Schritt hinter Rodriguez, steckte aber hinter der Norwegerin Ingvill Bovim auf Bahn zwei fest und musste ein paar Extrameter zurücklegen.
Beim Einbiegen auf die Zielgerade machte Jenny einen noch größeren Bogen bis auf Bahn drei. Rodriguez hatte sich nun von ihrer direkten Verfolgerin Kalkidan Gezahegne aus Äthiopien abgesetzt.
Mit schwingenden Armen schoss Jenny an Bovim vorbei. Jeder ausgreifende Schritt schluckte zweimal so viel Bahn, so schien es, wie die kürzer werdenden Schritte von Rodriguez. Vierzig Meter vor der Ziellinie setzte sich Jenny an die Spitze.
Die Britin Hannah England kämpfte wie eine Löwin hinter ihr, aber mit nur noch 20 verbleibenden Rennmetern konnte sie keinen Boden mehr gut machen. Jenny lief nach 4:05,40 Minuten als Erste über die Ziellinie. Sie war die neue Weltmeisterin über 1.500 Meter.
Jenny legte die Hände auf den Kopf und schüttelte ihn in ekstatischem Unglauben. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Sie sprang mit ihren Fäusten in der Luft auf und ab, zog ihre Knie hoch wie ein Cheerleader am höchsten Punkt eines Sprungs. In einem Interview Minuten später gab Jenny das zu, was diese Sequenz merkwürdigen Verhaltens bereits offenkundig gemacht hatte: Sie hatte das wirklich nicht erwartet. Sie hatte lediglich erwartet, dass sie härter laufen würde als jemals zuvor und dass sie sich dem Kampf ihres Lebens würde stellen müssen bei dem Versuch, dorthin zu kommen, wo sie jetzt war. Und was genau der Grund dafür war, dass sie war, wo sie war.
Jenny wurde von einer großen amerikanischen Flagge aus ihrem Delirium, in dem sie sich seit ihrem Finish befand, gerettet, die sie sich umwickelte wie einen Umhang, als sie auf die Siegesrunde ging.
In weniger als zwei Jahren hatte sich Jenny Barringer (Simpson) von einem 163. Platz bei einer College-Meisterschaft auf den ersten Platz in einem Weltmeisterschafts-Finale katapultiert. Sie war gefallen. Aber sie war wieder aufgestanden – und hatte gelernt, dass