Dieter A. Binder

Die Freimaurer


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für das „Rittertum“ könnte man zu einem weiteren Schluss kommen: In dem Ausmaß, in dem die höfische Etikette ihre Rolle als Vorbild immer mehr einbüßte, sah sich die aufstrebende Bourgeoisie nach einem Ersatz um. Der Gentleman, der Gentleman-Mason wurde ins Ritterliche überhöht und konnte so die Folie für ein entsprechendes Ritual abgeben.

      Allerdings, und dies ist in diesem Kontext das entscheidende Kriterium, ist der Aufstieg in das „Rittertum“ nicht mehr an die Zugehörigkeit zum Adel gebunden, sondern Bestandteil eines freimaurerischen Erziehungs- und Auswahlsystems. Man könnte hier also von einem „Adel des Geistes“ sprechen, wie dies auch heute im Zusammenhang mit einer spezifischen Klasse innerhalb des Souveränen Malteser-Ritter-Ordens geschieht.138 Verknüpft man die Hinwendung zu den ritterlichen Hochgraden mit dem Ideal des Gentlemans, kehrt man zu den Begriffen „a man of extraction“ und „great lineage“ zurück. Die beim Gentleman vorausgesetzte „gute Abstammung“ wird innerhalb des sozialen Netzes substituiert. Mit der Hinwendung zum „Rittertum“ partizipiert man an einer alten Tradition, die wesentlich zur Ausdifferenzierung der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft beigetragen hat.139 Die Berufung auf die Templer Tradition, die bis heute ihre Attraktivität nicht verloren hat,140 oder auf König Arthurs Tafelrunde bzw. auf den Gral141 kann mit einem anderen Versuch gleichgesetzt werden, der zwar nicht unbedingt das Ritual, wohl aber die Phantasie angeregt hat: Mit dem Versuch einer freimaurerischen Geschichtserzählung, die in der Tradition von ANDERSONs Chronik das sagenhafte Alter der Maurerei belegen will.142 ANDERSON setzt bekanntlich bei ADAM ein und zieht eine kontinuierliche Linie über NOAH, das Zweistromland, Ägypten und SALOMONs Tempel nach Griechenland und Rom. Die restlichen Jahrhunderte bis hin zur Niederschrift verknüpfen die Christianisierung Europas, das Reich KARL MARTELLs und die gotischen Bauhütten schließlich mit WILHELM dem EROBERER und den englischen Königshäusern. In all diesen Versuchen143 geht es um zweierlei: Aus dem Alter des Bundes dessen Würde und damit die Würde seiner Mitglieder abzuleiten, wie dies in der Historiographie vor allem seit der Renaissance im Hinblick auf Herrscherhäuser zu geschehen pflegte, und die Traditionen anderer Kulturkreise und deren Initiationsriten dem innermaurerischen Diskurs zu eröffnen. Präzise hat Gottlieb IMHOF dazu aus freimaurerischer Sicht Stellung bezogen: „Es ist nicht zu bestreiten: die Analogien zwischen dem freimaurerischen Brauchtum und demjenigen, sowohl antiker Mysterienbünde, aber auch von Männerbünden bei den Primitiven der Jetztzeit sind oft geradezu beunruhigend. Aber was beweisen sie in Wirklichkeit? Trotz gegenteiliger Behauptung ist das Gebiet der Symbolik bei weitem nicht unbegrenzt. Im Wesentlichen haben wir es immer mit der Wechselwirkung gegensätzlicher Prinzipien zu tun, wie Gut und Böse, Kosmos und Chaos, Licht und Finsternis, Himmel und Hölle. […] Aber ihr Urgrund […] der Dualismus, der die Innen- wie die Außenwelt spaltet, ist stets derselbe.“144

      Eindrucksvoll dokumentiert dies auch der „Kulturvergleich“ der „Rolle des Mannes“ von Gisela VÖLGER und Karin von WELCK, innerhalb dessen die Freimaurer aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet145 und mit unterschiedlichsten Männerbünden in Analogie gesetzt werden. Die Aneignung spezifischer Formen innerhalb eines Erziehungsmodells, wie dies innerhalb der Freimaurerei in seiner Rezeption des Rittertums geschieht, führt zurück zur These: Freimaurerei als Erziehung zum Gentleman.

      Das Prinzip der Selbsterziehung

      Der „raue Stein“ ist für „den Maurer Sinnbild seiner selbst“,146 im Ritual des 1. Grades und dessen Symbolik wird der Lehrling zur Arbeit an sich selbst aufgerufen. Zentrales Anliegen der Betrachtungen KNIGGEs über den „Umgang mit Menschen“ ist zunächst der „Umgang mit sich selber“.147 Die darin zum Ausdruck kommende Selbsterziehung und Selbstachtung wird aber ausdrücklich als sozialer Auftrag interpretiert, wodurch die Hinwendung zum Narziss verhindert wird: „Willst Du aber im Umgange mit Dir Trost, Glück und Ruhe finden, so mußt Du ebenso vorsichtig, redlich, fein und gerecht mit Dir selber umgehn wie mit Andern, also dass Du Dich weder durch Mißhandlung erbitterst und niederdrückest noch durch Vernachlässigung zurücksetzest, noch durch Schmeicheley verderbest.“148

      Diese Position läuft also darauf hinaus, in der Selbsterziehung und Selbstwahrnehmung im Gleichklang mit dem Umfeld zu agieren, wobei KNIGGE ausdrücklich auf die Gefahr der Unduldsamkeit gegenüber anderen in der Selbsterziehung aufmerksam macht: „Gewöhnlich erlaubt man sich alles, verzeyt sich alles und Anderen nichts; gibt bey eigenen Fehltritten, wenn man sich auch dafür anerkennt, dem Schicksale oder unwiderstehlichen Trieben die Schuld, ist aber weniger duldend gegen die Verirrungen seiner Brüder.“149

      Damit leitet KNIGGE über zu dem komplexen „Umgang mit Leuten von verschiedenen Gemüthsarten, Tempramenten und Stimmungen des Geistes und des Herzens“,150 einem Bereich, der im wesentlichen den weiteren Fortgang seiner Darstellung bestimmt.151 „Die Arbeit des Lehrlings (und jedes Maurers) an sich selbst […] mit dem Meisel der Erkenntnis und dem Hammer des Willens“152 führt zum „behauenen Stein“, der den Gesellen symbolisiert. In diesem Grad steht die soziale Interaktion im Vordergrund, und KNIGGE unterstreicht dabei die Parität des Geschehens:„In der Freundschaft müssen beyde Theile gleichviel geben und empfangen können. Jedes zu große Übergewicht von einer Seite, alles, was die Gleichung hebt, stört die Freundschaft.“153

      Damit postuliert er als allgemeinen Grundsatz menschlichen Umgangs miteinander das Grundprinzip des Verkehrs der Mitglieder einer Loge untereinander. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr Logen ein Spiegel der Gesellschaft sind. KNIGGEs Ansprüche an das Individuum korrespondieren eindeutig mit dem „Erkenne Dich selbst!“ des Lehrlings, auf das die Integration, die soziale Kommunikation des Gesellen aufbaut, obwohl KNIGGE zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Schrift auf Distanz zur Maurerei und zu den Illuminaten besonders geachtet hat: „Unter die mancherley schädlichen und unschädlichen Spielwerke, mit welchen sich unser philosophisches Jahrhundert beschäftigt, gehört auch die Menge geheimer Verbindungen und Orden verschiedener Art. Man wird heut zu Tage in allen Ständen wenig Menschen antreffen, die nicht […] wenigstens eine Zeitlang Mitglieder einer solchen geheimen Verbrüderung gewesen wären.“154 Abwehrend stellt er sich der Vorstellung entgegen, dass innerhalb der Logen irgendetwas „Großes und Nützliches“ geleistet werden könnte, was nicht auch „im bürgerlichen und häuslichen Leben“ getan werden könnte. „Wohltätigkeit bedarf keiner mysteriösen Hülle; Freundschaft muß auf freye Wahl beruhn, und Geselligkeit braucht nicht durch geheime Wege befördert werden.“155 Und ausdrücklich hält er fest: „Ich rathe daher nochmals, sich auf diese Mode-Thorheit nicht einzulassen […] und weder ein gutes noch ein böses Urtheil über solche Systeme zu wagen, weil der Grund derselben oft sehr tief verborgen liegt.“156

      KNIGGE beschränkt bewusst seine Vorstellungen auf das Individuum und dessen Verhältnis zur Gesellschaft, eben auf die Erziehung zum „Herrn“; der Schritt darüber hinaus, den die Freimaurerei setzt, bleibt außerhalb seines Diskurses. „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. […] Wenn ich mich frage, wonach ich beurteile, dass diese Frage dringlicher als jede andere ist, dann antworte ich: der Handlung wegen, die sie nach sich zieht. Ich kenne niemanden, der für den ontologischen Beweis gestorben wäre. Galilei, der im Besitz einer bedeutsamen wissenschaftlichen Wahrheit war, widerrief sie mit der größten Leichtigkeit, als sie sein Leben gefährdete. […] Diese letzte Windung an der das Denken schwankt, haben viele Menschen erreicht und gerade auch die Unscheinbarsten. Die einen entsagen dem Teuersten, das sie besaßen: ihrem Leben. Andere, Fürsten im Reich des Geistes, haben entsagt – jedoch durch den Selbstmord des Denkens im Moment seiner reinsten Auflehnung. Die wahre Anstrengung besteht vielmehr darin, sich dort so lange wie möglich zu halten und die barocke Vegetation dieser fernen Gegenden aus der Nähe zu erforschen. Ausdauer und Scharfblick sind bevorzugte Zuschauer dieses unmenschlichen Spiels, bei dem das Absurde, die Hoffnung und der Tod Rede und Gegenrede wechseln.“157 Mit dieser These von Albert CAMUS wird das Spannungsfeld der freimaurerischen Erziehung scharf umrissen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, so man sie nicht als Scheinfrage abtut, kann nur angesichts des Todes diskutiert werden. „Zweimal wird uns in der Freimaurerei der Tod zum Bewusstsein gebracht: zuerst am Beginn unserer Laufbahn im Meditationsraum und sodann bei unserer endgültigen und vollkommenen Einweihung in der Kammer der