Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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der Lage, daß er dieser aufgewühlten Menge jetzt seinen Glauben an das Fischwunder in einer breiten Rede voll genauer technischer Einzelheiten vorsetzte. Jeder wußte, was dabei bis nun herausgekommen war. Die Ausführungen Tomasians ernteten zuerst Gelächter, dann Hohn, und da er nicht nachgab, ließ man ihn nicht weiterreden. Von irgendwoher mußte jetzt ein Impuls erflossen sein, denn die in Gruppen und Knäueln schwankende Menge schloß sich zusammen und drängte gegen die Regierungsbaracke. Schon sah man nicht nur hochgeschüttelte Fäuste, sondern hie und da Spaten und Krampen in der Luft. Die Männer der Schutzwache wurden bleich und hielten unentschlossen die Gewehre vor sich hin, an deren Läufen sie die erbeuteten Türkenbajonette befestigt hatten.

      Im Innern der Baracke befanden sich außer dem kranken Apotheker nur noch Bedros Hekim, Tschausch Nurhan und der Priester. Ter Haigasun wußte genau, daß nach der Niederlage der Muchtars und Pastor Tomasians alle Autorität gebrochen sei, wenn er selbst sie nicht wiederherstellen könne. Keine Sekunde lang zweifelte er daran, daß ihm dies gelingen werde. Seine Augen, deren Blick aus beobachtender Scheu und kalter Entschlossenheit so eigentümlich gemischt war, füllten sich mit Schwärze. Er trat über die Schwelle, schob die Wachmannschaft auseinander und ging mitten in die Menge hinein, als sähe er sie nicht, als wäre sie Luft. Dabei hatte seine Haltung gar nichts Angespanntes und Gezwungenes. Er bewegte sich, wie es seine Art war, den Kopf ein wenig vorgeneigt, die Hände in den Kuttenärmeln versteckt, abgeschlossen und leicht fröstelnd. Die ersten Schichten des Menschenhaufens waren aus den verschiedensten Typen bunt gemengt: Weiber zumeist, doch auch einige quäkende Kleinbesitzer, ein paar Deserteurfratzen und eine ganze Anzahl von Halbwüchsigen als Hauptanstifter und Genießer der Unruhe. Dies alles wich jetzt vor dem gelassenen Schritt Ter Haigasuns zur Seite. Insbesondere die Weiber konnten sich des bannenden Ehrfurchtsgefühls nicht erwehren, das der Anblick des Priesters in ihnen zu erwecken pflegte. Nurhan Elleon drang mit den Bewaffneten in die Menschenbresche, damit sie sich nicht hinter dem Priester wieder schließe. Dieser Beistand aber war überflüssig. Jeder Schritt des schweigenden Ter Haigasun schuf sich eine freie Gasse. Indem er Staunen erzeugte und in jedes Auge die Frage legte, was will er nur, was hat er vor?, bändigte er durch Neugier jede andre Leidenschaft. So gelangte er gemessenen Tempos zum Altar, auf dessen erster Stufe er sich umwandte, und zwar mit keiner heftigen, sondern mit fast bequemer Gebärde. Dadurch aber war die Menge gezwungen – gottesfürchtige Armeniersöhne und -töchter, allesamt –, ihren Blick auf das heilige Gerüst zu richten, von dem das große silberne Kruzifix, Tabernakel, Kelch, Patene und viele Leuchter herniederfunkelten. Die Sonnenstrahlen fingerten an der hohen Blätterwand entlang, die hinter dem Altar aus Buchsbaumzweigicht errichtet war. Ter Haigasun selber stand im Schatten, während ihn das Licht gleichsam von zwei Seiten bewachte. Auf ihm ruhte nicht nur die Autorität der Volkswahl, sondern die höhere Autorität der Gottesweihe. Er mußte seine Stimme kaum heben, denn die Neugier hatte auf einmal ringsum tiefe Stille geschaffen.

      »Ein großes Unglück ist geschehen« – er sagte das ohne jede wehleidige Feierlichkeit, fast gleichgültig – »und ihr begehrt gegen das Unglück auf und suchet die Schuldigen, als ob euch das den geringsten Nutzen bringen könnte. Vor dem Aufbruch habt ihr jene Männer gewählt, die nunmehr seit einunddreißig Tagen sich für euch aufopfern, ohne auch nur eine einzige Nacht durchgeschlafen zu haben. Ihr wißt ebensogut wie ich, daß es unter euch keine geeigneteren Männer gibt als sie. Sehr wohl verstehe ich, daß ihr mit unserem Leben unzufrieden seid. Ich bin es auch. Doch ihr habt freiwillig und durch niemanden gezwungen den Entschluß gefaßt, auf den Damlajik zu gehn und nicht etwa mit dem Pastor Nokhudian in die Verschickung! Reut euch aber dieser Entschluß jetzt – hört mich gut an –, so könnt ihr ihn ebenso freiwillig abändern, wie ihr ihn gefaßt habt. Es gibt ein Mittel ...«

      Der Redner machte hier einen kleinen Einschnitt, änderte aber auch bei den folgenden Worten seinen trockenen Ton nicht:

      »Wir haben noch ein Mittel. Ihr, wie ihr da steht, seid die Mehrheit. Doch ich werde auch noch die Leute aus den Stellungen zusammenrufen lassen ... Ergeben wir uns den Türken! Ich bin bereit, wenn ihr mich dazu ermächtigt, in eurem Namen noch heute nach Yoghonoluk hinabzusteigen. Wer diesen Wunsch hat, erhebe sofort seinen Arm!«

      In verächtlichem Gleichmut wartete Ter Haigasun zwei volle Minuten. Die Stille blieb lückenlos wie vorher, keine Hand rührte sich. Da erstieg er die oberste Altarstufe, und nun dröhnte seine Stimme über den Platz:

      »Ich sehe, nicht ein einziger will sich ergeben ... Nun, dann müßt ihr euch aber klarmachen, daß Zucht und Ordnung nicht verletzt werden dürfen! Ruhe muß herrschen, Ruhe, hört ihr, auch wenn wir nichts andres mehr zu fressen haben als unsre Fingernägel. Nur eine einzige Art von Verrat gibt es unter uns, sie heißt Unordnung und Zuchtlosigkeit! Wer diesen Verrat begeht, wird die Strafe erleiden, die dem Verräter gebührt, darauf könnt ihr euch verlassen, ich schwöre es. So, und jetzt ist es höchste Zeit, daß ihr wieder an eure Arbeit geht! Wir werden für euch sorgen. Vorläufig bleibt alles beim alten.«

      Es war die Behandlung ungezogener Kinder; sie erwies sich in dieser Stunde aber als das einzig Richtige. Kein Zwischenruf fiel, kein Hohnwort, kein Vorwurf mehr, obgleich sie durch Ter Haigasuns Rede doch gar nichts verändert hatte. Selbst die Schreier und Wühler schwiegen verblüfft. Die Alternative zwischen Ordnung und Übergabe wirkte wie ein kalter Guß auf die entfesselten Gefühle. Noch aber schien die Masse, trotz Ter Haigasuns Aufforderung, nicht daran zu denken, den Altarplatz zu räumen. Auf einen Wink des Priesters bildete Tschausch Nurhan mit seiner Mannschaft eine Kette und drängte, gütlich zuredend, teils mit groben Scherzen, teils mit gröbsten Püffen, die Menge zurück und in die Hüttengassen hinein. Freiwillige Helfer schlossen sich der Polizei an. Da Ter Haigasuns Rede die große Aufregung zerbröckelt hatte, gelang die Säuberung des Altarplatzes ohne Schwierigkeit. Das Volk verlor sich in schreienden Gruppen zu seinen Arbeitsstätten, und der Alltag schien trotz des Entsetzlichen seinen gewohnten Lauf wieder zu beginnen. Die Wächter riegelten die Gassenmündungen ab, damit keine neue Demonstration die Beratungen störe, die sich ja endlich von allem Gezanke fort- und der mitleidslosen Wirklichkeit zuwenden mußten.

      Noch immer starrte Ter Haigasun vom Altar auf den leeren Platz hinab. Wäre es nicht geraten, eine sehr starke innere Wehrmacht zu schaffen, um bei der geringsten Unruhe mit blutiger Strafe einzuschreiten? Mit einer matten Handbewegung verwarf der Priester diesen Gedanken. Was nützte es, Schrecken zu verbreiten? Mit jedem Tage des wirklichen Hungers mußte die Selbstauflösung unaufhaltsam fortschreiten. Die Türken hatten einen neuen Angriff gar nicht nötig, um das Ende herbeizuführen. Nun erübrigte sich auch die bange Frage: Wie lange noch? Die Finger einer Hand genügten, um die Antwort auszuzählen. Hilfe konnte nur durch ein Wunder Gottes kommen. Wie auf der vierzigjährigen Wüstenwanderung der Kinder Israels. Aber mit Manna und Wachtelschwärmen war der Himmel selbst dem auserwählten Volke gegenüber nicht verschwenderisch gewesen.

      Noch an demselben Tage jedoch trat ein überraschendes Ereignis ein, das in dem quälenden Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung den Mut wieder ein wenig belebte. Man hätte dieses Ereignis nicht ganz unzutreffend ein Wunder nennen können, wenn auch ein mißglücktes.

      Sogleich nach dem Tode Stephans hatte der Arzt seine Frau von all ihren sonstigen Pflichten befreit und in das Krankenzelt geschickt, damit sie nun Juliettens Pflege voll übernehme. Bedros Hekim brachte damit ein sehr großes Opfer, da die unverwüstliche Antaram den gesamten Dienst im Lazarettschuppen und auch im Epidemiewald leitete. Zu diesem Opfer hatte sich der Gute um Iskuhis willen entschlossen. Durch die lange Pflege und nicht nur durch sie war das Mädchen zum Schatten eines Schattens geworden. Es erschien fast unglaublich, daß ein Wesen mit so wenig Leib sich noch immer so eifrig bewegen und immer noch arbeiten konnte. Welche Widerstandskräfte mußte Iskuhi besitzen, daß sie der Ansteckung trotz allstündlich engster Nähe nicht verfallen war, bisher wenigstens? Ein andrer Grund für Mairik Antarams Entsendung war moralischer Natur. Die verfängliche Dreiheit sollte in eine unverfängliche Vierheit verwandelt werden. Die neue Pflegerin wohnte nun im Krankenzelt, während Iskuhi in Howsannahs verlassenes Zelt übersiedelte.

      Juliette gehörte zu jenem Teil der Kranken, deren Herz die Epidemie überstand. Als Gabriel die Gewißheit gewann, daß der Zustand seiner Frau sich zögernd dem Leben zuwende, da erfaßte ihn tiefes Erbarmen mit ihr. Wäre sie in ihren Fieberträumen, die Frankreichs Siegesglocken durchdröhnten, dahingegangen,