Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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also von oben behandelte Bezirkshauptmann erstarrte:

      »Ins armenische Lager? Seid ihr geisteskrank?«

      Rifaat Bereket kümmerte sich um diese liebenswürdige Frage nicht. Auf dem Rücksitz der Kutsche lag eine ganz neue moderne Aktentasche aus gelbem Rindsleder, die wie ein tatkräftiger Gegensatz zu dem sonst so behäbigen Aufzug wirkte. Die feinen weißen Finger öffneten den Druckverschluß:

      »Ich habe eine Mission an die Armenier.«

      Der Agha reichte dem Rothaarigen seinen Teskeré, der darin zu forschen begann. Als er das Richtige nicht zu finden schien, gebot ihm Bereket ohne jede Ungeduld:

      »Lies die Schrift über dem Stempel.«

      Und wirklich, der Müdir gehorchte mit solcher Bereitwilligkeit, daß er den Text sogar laut zum besten gab:

      »Der Inhaber dieses Passes erhält zu allen armenischen Deportationslagern Zutritt, der ihm von keiner politischen und militärischen Behörde verweigert werden darf.«

      Der junge Mann reichte mit seinen vorbildlich gepflegten Händen das Dokument in den Wagen zurück:

      »Es handelt sich hier um kein Deportationslager, sondern um Aufständische, um Hochverräter, die sich verschanzt und türkisches Blut vergossen haben.«

      »Meine Mission geht an alle Armenier«, erklärte der Agha gemessen, verstaute seinen Teskeré fürsorglich in der funkelnagelneuen Aktentasche eines smarten Kaufmanns und entnahm ihr ein anderes Dokument, dem man schon äußerlich ansah, daß es eine stärkere Beschwörungsformel vorstellte. Es war ein großes, kunstvoll gefaltetes und mit einem komplizierten Stempel versehenes Blatt. Die Augen des Müdirs mußten sich erst an die schnörkelstolze Schönschrift in arabischen Lettern gewöhnen, ehe sie den Namenszug des Scheikh ül Islam entzifferten sowie die Aufforderung, die das geistliche Oberhaupt der Türkei an jeden gläubigen Moslem ergehen ließ, dem rechtmäßigen Vorzeiger dieses Blattes zu Willen und dienstbar zu sein, was immer er auch begehre. – Welchen Einfluß diese Mottenwelt noch immer besitzt, ging es dem Müdir durch den Kopf. Das Scheikh-ül-Islamat war trotz Enver und Talaat eines der mächtigsten Staatsämter. Dieser mittelalterliche Wisch bedeutete einen dienstlichen Befehl, dessen Nichtbefolgung ihm teuer zu stehen kommen konnte. Sein Blick lief die Tragtiere ab, die mit großen Mehlsäcken bepackt waren:

      »Und welche Bestimmung haben diese Säcke?«

      Rifaat Bereket hüllte die Antwort, wie es seine Art war, in ein würdevolles Zwielicht:

      »Sie haben dieselbe Bestimmung, die ich habe.«

      Der Müdir wandte sich mit umständlichen Worten an den Agha, obgleich es ihn ärgerte, daß der alte Türke vor ihm, dem Regierungsvertreter, unbeweglich sitzen blieb, als habe er es mit einem Bedienten des Ancien régime zu tun:

      »Ich weiß nicht, Effendi, ob du dir eine richtige Vorstellung von den Tatsachen machst. Die Armenier dieses Bezirks haben sich den Befehlen der Regierung widersetzt und auf dem Musa Dagh verschanzt. Sie haben es gewagt, dem Militär zu trotzen, sich selbst zu bewaffnen und türkische Soldaten zu töten. Wir sind schon seit vielen, vielen Tagen gezwungen, diese gemeinen Verbrecher zu belagern. Jetzt hungern wir sie aus. Einige Tage noch, und sie werden mürbe sein. Da aber kommst du, Agha, mit deiner Mission und deinen Proviantsäcken und willst den Hochverrätern, den Staatsfeinden, den Feinden deines Padischah Hilfe bringen, damit sie der rechtmäßigen Behörde noch länger Widerstand leisten können?«

      Rifaat Bereket hörte diese lange Rede mit müde gesenktem Haupte an. Nachher erst streifte er den Müdir mit einem kühlen Blick seiner leicht vorgewälzten und umrunzelten Augen:

      »Wart ihr nicht ärgere Feinde eures Padischah als sie? Seid ihr nicht seinen Soldaten mit der Waffe in der Hand entgegengetreten, und zwar als Angreifer? Revolutionäre dürfen sich niemals auf Rechtmäßigkeit berufen.«

      Während er noch sprach, tauchte seine Hand zum drittenmal in die Wundertasche. Es war beinahe wie im Märchen, als er nun den stärksten Zauber hervorzog: ein gerolltes Pergamentblatt, das zuoberst den diamantgeschmückten Turban des Sultans als Signet trug. Der Großherr und Kalif, Mohammed der Fünfte, befahl in dieser Irade all seinen Untertanen, insonderheit den Zivil- und Militärbehörden, daß sie dem Agha Rifaat Bereket aus Antakje bei all seinen Unternehmungen bereitwillig Vorschub leisten und ihm kein Hindernis in den Weg legen sollten. Der rothaarige Müdir sah betroffen drein. Die alte Welt war hier vollzählig aufgeboten, das mußte er sagen. Er drückte den Namenszug des Padischah flüchtig und widerstrebend an Herz, Mund und Stirn. Es war eine Gebärde, die zu seinem knappsitzenden Sommeranzug, der knallroten Krawatte und den kanarigelben Halbschuhen ganz und gar nicht paßte. Was war zu tun? In jedem bürokratischen Staat hat der Beamte mit zwei gewaltigen Strömen zu rechnen, in deren Fluten er leicht untergehen kann. Der eine ist der »Dienstweg« mit seinen heimtückischen Wirbeln, der andre, gefährlichere aber der Strom der empfindlichen Beziehungen, der zwischen den Mächten, Ressorts und Persönlichkeiten hin und her wogt. Am besten ist es daher, jeder Entscheidung aus dem Wege zu gehn und lieber den Vorgesetzten sich verbrennen zu lassen. In diesem Falle aber gab es keinen solchen. Der junge Müdir war sein eigener Vorgesetzter. Er mußte selbsttätig die Entscheidung treffen. Die Verproviantierung der Rebellen konnte unmöglich geduldet, ein von Seiner Majestät dem Sultan begünstigter Mann unmöglich abgewiesen werden. Der Schlaukopf aus Salonik heckte zu guter Letzt ein Kompromiß aus, zu dem er sich erst nach langen Kämpfen und heftigen Verzweiflungsausbrüchen bestimmen ließ. Der Agha erhielt die Erlaubnis, die türkische Belagerungszone zu überschreiten. Der Train mit dem Mehl mußte im Tal bleiben. Hierin konnte Rifaat Bereket nicht das geringste erreichen. Ob er denn nicht die neuen Gesetze kenne? In Syrien herrsche Hungersnot, über das Schicksal dieses Mehls werde der Kaimakam in Antakje zu bestimmen haben. Hingegen ließ der Müdir, was die reinen Genußmittel anbelangt, mit sich reden. Es waren nämlich auch noch einige kleinere Säcke mit Kaffee und Zucker sowie ein paar Ballen Tabak vorhanden. Das spielte keine besondere Rolle, da es die Ernährungslage auf dem Damlajik nicht verändern konnte. In diesem Punkte gab der Müdir endlich nach, indem er immer wieder betonte, daß er damit unrecht tue. Zuletzt erkundigte er sich nach den Begleitern des Agha:

      »Es sind meine Diener und Gehilfen. Hier ihre Pässe! Sieh nach! Alles ist in Ordnung!«

      »Und dieser da? Warum geht er verschleiert wie ein Weib?«

      »Er hat eine häßliche Krankheit im Gesicht und muß sich vor der Luft schützen. Soll er den Schleier aufheben?«

      Der Müdir verzog den Mund und winkte ab. Mehr als eine Stunde war vergangen, ehe sich die Yayli in der Richtung nach Bitias entfernen konnte. Ein Zug Infanterie unter Kommando eines Mülasim marschierte zu Seiten des Wagens. Zwei Packesel mit dem Kaffee, Zucker und Tabak folgten sowie drei Reittiere für den Agha und seine beiden Gehilfen. Als der Weg nicht mehr zu verfehlen war, ließ Rifaat Bereket den Wagen zurück und bat den Mülasim, mit seinen Leuten haltzumachen, damit der Aufzug von den Armeniern nicht mißverstanden werde und kein Kampf entbrenne. Der Offizier war mit diesem Vorschlag zufrieden und lagerte sich samt seinen Soldaten unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln im Walde. Die drei Alten ritten weiter, seitlich auf ihren Eseln sitzend, während die beiden Tragtiere ihnen nachgetrieben wurden. Der verschleierte Mann ging nebenher. In der rechten Hand trug er die grüne Fahne des Propheten, in der linken die weiße des Friedens.

      Sie saßen einander im Scheichzelt gegenüber. Der Agha hatte diese zeugenlose Unterredung mit Gabriel Bagradian gefordert. Mit verbundenen Augen waren die Türken, wie es bei Parlamentären der Brauch ist, vom Nordsattel auf den Dreizeltplatz geführt worden. Nun hockten die Begleiter des Agha neben den Packeseln, von deren Rücken die Treiber die Säcke und Ballen abluden. Im Umkreis dieser Gruppe vermehrte sich die Menge von Minute zu Minute. Die Armenier aber kamen den Türken nicht nahe, aus einer tiefen Scheu, wie es schien. Jedes Herz klopfte zum Zerspringen. Was bedeutete die Gesandtschaft? Die Rettung? Das Leben?

      Agha Rifaat Bereket benahm sich, was bedächtige Würde und Zeitverschwendung anbelangt, nicht anders, als säße er im milden Tagdunkel seines Selamliks. Unaufhörlich wie die Zeit selbst rollten die Bernsteinkugeln des Gebetkranzes durch seine Finger:

      »Ich bin