Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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sind da ... Sechs oder sieben ... Sie haben eine weiße und grüne Fahne bei sich ... Parlamentäre ... Keine Soldaten ... Ein Alter ist der Führer ... Sie rufen herüber, daß sie nur mit Bagradian Effendi und sonst mit niemandem sprechen wollen ...«

      Mehr als eine Woche war seit der großen Niederlage der Türken schon verflossen. Der verwundete Jüsbaschi war, den Arm in der Binde, wieder unter den Soldaten zu sehn. Im Umkreis des Musa Dagh lagen soviel reguläre Truppen und Saptiehs wie noch nie. Und doch, es geschah nichts. Auch sprach nicht das leiseste Anzeichen dafür, daß in der nächsten Zeit etwas geschehen werde. Die Männer auf dem Damlajik sahen das lässige Treiben unten im Tal und fanden keine Erklärung dafür, daß man sie trotz der drohend angewachsenen Truppenmacht so auffällig in Ruhe ließ. Den Grund konnten sie auch nicht wissen. Der Kaimakam von Antakje, oberster Leiter der »Liquidation«, war verreist.

      Dschemal Pascha hatte nämlich sämtliche Walis, Mutessarifs und Kaimakams der syrischen Vilajets in seinem Hauptquartier zu Jerusalem um sich versammelt. Es waren unerwartete Naturereignisse aufgetreten, die rasche Maßregeln erforderten, sollte nicht die Kriegführung, ja das ganze Leben Syriens, der wichtigsten Etappe, völlig gelähmt werden. Die Mittelmeerprovinzen des ottomanischen Reiches befanden sich in der schwersten Bedrängnis. Nur selten geschieht es, daß sich die göttliche Gerechtigkeit, die eine unverwickelte Prozeßordnung nicht liebt, geschwind ertappen läßt. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten menschlicher Justiz folgt hier die Strafe der Schuld durchaus nicht auf dem Fuße. Die göttliche Gerechtigkeit ist in der kosmischen Folgerichtigkeit aufgelöst wie das Salz im Meere. In dieser Jahreszeit und in diesen Breiten aber schien sie sich mit einer bemerkenswerten Hast offenbaren zu wollen, als sei selbst ihre ewig unparteiische Ruhe angesichts der Vorgänge aus der richterlichen Objektivität geraten. Kurz, die Mühlen Gottes mahlten diesmal schnell.

      Zwei ägyptische Plagen, von allerlei Neben- und Unterplagen begleitet, drangen vom Norden und Osten her ins Land. Die östliche Plage, der Flecktyphus, der über Aleppo hinaus als geschlossene Seuche nach Antiochia, Alexandrette und in die Küstengebiete vorstieß, war ein schauerliches Beweisstück jener kosmischen Folgerichtigkeit. Die Krankheit unterschied sich in ihrer grausamen Schärfe von der sanfteren Epidemie auf dem Damlajik, die sich dank der frischen Luft, dem guten Wasser, der strengen Trennung und wegen andrer unbekannter Umstände noch in mäßigen Grenzen hielt. Die Sterblichkeitsziffer des mesopotamischen Fleckfiebers jedoch belief sich oft auf achtzig vom Hundert. Aufgebrochen war er aus der Pestwolke, die über den Steppen des Euphrat lag. Auf dieser höchst ungeweihten Erde, in dieser gottlosen Senkgrube des Todes, verwesten schon seit Mai und Juni Hunderttausende von Armenierleichen. Selbst die Tiere flohen vor dem Gestank. Nur die armen Soldaten mußten durch diese unaussprechliche Jauche der Menschheit hindurch: Kolonnen mazedonischer, anatolischer, arabischer Infanterie mit den endlosen Wagen- und Kamelreihen des Trains wurden in tagelangen Märschen hindurch und nach Bagdad getrieben. Dazwischen stampften die Hufe der Beduinenkavallerie. Doch auch diese Kinder der Wildnis konnten während des Durchzuges – sie holten das Letzte aus ihren Pferden – keine Speise bei sich behalten. Die toten Armenier aber sandten vom »Deportationsziel des Nichts« her ihren danksagenden Hauch westwärts über die wenigen Schuldigen und die vielen Unschuldigen. Talaat Bey hätte sich im Serail-Palais des Ministeriums wohl seinen weltklugen Kopf darüber zerbrechen können, wie merkwürdig es ausfällt, wenn man ein Volk ins Nichts schickt. Doch weder er noch Enver zerbrachen sich den Kopf, denn seitdem die Welt steht, ist die Gewalt stets mit stumpfer Unverfrorenheit der Seele verschwistert.

      Die zweite nördliche Plage war zwar weniger folgerichtig als die erste, doch in ihrer Auswirkung vielleicht noch gefährlicher. Auch schien sie tatsächlich die Wiederholung einer biblischen Strafe zu sein. Der Einbruch der Heuschrecken in die Ebene von Aleppo und damit in ganz Syrien geschah vom Taurus herab. Die Hänge, Schluchten und Schächte dieses riesigen Gebirges waren wohl die Geburtsstätte des zähen Nomadenvolkes, das sich unaufhaltsam über das Land ergoß. Große Heuschrecken, hart, ausgetrocknet, welklaubähnlich, hunnenhafte Insekten, als sei in ihren weiten Hindernissprüngen Roß und Reiter zusammengewachsen. Sie kamen in verschiedenen riesenhaften Heerhaufen, mit denen sie Hunderte von Quadratmeilen der Sandschaks bedeckten, so daß kaum ein Erdfleck durchzublicken vermochte. Die Marschordnung und konzentrische Richtung ihres Einbruchs ließen vermuten, daß hinter ihrem Wüten nicht nur der blinde Trieb stand, sondern Auftrag, Plan und Führung, die kollektive Idee alles Heuschreckentums gewissermaßen. Ein unheimlicher Anblick war's, wenn sich einer dieser Schwärme auf die alten Bäume eines Gartens niederließ, auf Ulmen, Platanen, Eiben, ja selbst auf hartblättrige Sykomoren. Dann dauerte es nur wenige Sekunden, und der Baum war wie in einen Möbelüberzug eingehüllt, wie in einen Wettermantel aus dunklem Loden. Alles Grüne schrumpfte vor den Augen des Beschauers augenblicklich zusammen, wie von unsichtbaren Flammen verzehrt. Sogar der Stamm steckte in hohen wurrlenden Gamaschen. Nichts ließ darauf schließen, daß die Einheit eines solchen Schwarmes aus Individuen bestand. Griff jemand einen Heuschreck aus der Masse heraus, so konnte er die erstaunlichen Fortbewegungs- und Freßwerkzeuge bewundern, in denen alles Leben dieser Erdenbürger vereinigt war. Sonst aber benahm sich der einzelne in der Hand eines Menschen ebenso feig und erbärmlich wie andre Insekten und suchte zu fliehen. Im Schwarm jedoch schien er sich zu fühlen und seine gierige Tätigkeit als den Dienst an einer großen Sache aufzufassen.

      Im August gab es östlich der syrischen Küstengebiete bis ins Euphrattal hinein keinen grünen Baum mehr. Das Schicksal der Bäume jedoch bereitete Dschemal Pascha wenig Beschwer. Die Ernte im nördlichen Syrien beginnt nie vor Mitte Juli und dauert mehrere Wochen lang, denn die Schnittzeit für Korn, Weizen, Gerste fällt nicht mit der Zeit für den Mais zusammen. Der türkische Bauer, der arabische Fellach gleichen dem Armenier nicht, der die Feldfrucht sogleich nach dem Schnitt heimführt, da ihn das Gefahrbewußtsein in seinem Blut dazu antreibt, den Wintervorrat so rasch wie möglich zu bergen. Der Moslem hingegen läßt die Garben tage-, ja wochenlang auf den Feldern liegen, da er vom Wetter nur sehr wenig zu fürchten hat. Als die Heuschrecken im Juli herabfluteten, fanden sie das Getreide teils im Hochstand, teils in lockeren Schnittschwaden auf den Feldern. Sie konnten also in wenigen Tagen die gesamte syrische Ernte auf ihre Weise einbringen, so daß um die Monatsmitte von den kahlgefressenen Äckern kein Halm mehr zu holen war. Mit dieser Ernte aber hatte Dschemal Pascha ungeduldig gerechnet, denn die alten Vorräte waren aufgezehrt, und er sollte nicht nur die gesamte Vierte Armee mit dem syrischen Getreide ernähren, sondern auch noch die Bevölkerung Palästinas und des Libanon sowie den schwankenden Araberstämmen im Ostjordanland durch große Zuwendungen schmeicheln. Die Heuschrecken aber machten den ganzen Verpflegungsplan des laufenden Kriegsjahrs zu Luft. Der Brotpreis schoß in die Höhe. Sofort erließ Dschemal eine Wucherverordnung, die aber keine andre Wirkung hatte, als daß die Bauern und Händler die Annahme von Papiergeld jetzt endgültig verweigerten. Trotz schärfster Gegenmaßnahmen sank das gesunkene türkische Pfund noch tief unter seinen geltenden Wert. In den ersten Augusttagen, da sich der Musa Dagh so glorreich verteidigte, fielen im Libanongebiet schon die ersten Opfer der Hungersnot.

      Dies war die Lage der Dinge, als in Dschemal Paschas Hauptquartier die Konferenz der syrischen Statthalter zusammentrat. In dieser hochmögenden Runde ging es übrigens kaum gelassener zu als in dem Führerrat des Musa Dagh. Die Walis und Mutessarifs konnten nämlich ebensowenig Eisenbahnzüge mit Getreide herbeizaubern wie die Muchtars Hammel und Schafe. Die Rede des Gewaltherrschers aber war kurz und unzugänglich. Bis zu diesem und jenem Tag hat das Vilajet Aleppo soundso viel Korn aufzubringen und an die Heeresintendantur abzuliefern, basta! Die Beamten wurden blaß vor Wut, nicht nur wegen der Zumutungen, sondern mehr noch über den Ton des Paschas, den er sich ihnen gegenüber herausnahm. Nur einer war die Demut und Dienstwilligkeit selbst, freilich hatte er wegen der Schmach des Musa Dagh Grund genug dazu. Das bräunlich aufgedunsene Gesicht des Kaimakams von Antakje hing unablässig begeistert an Dschemals Lippen. Während alle anderen Statthalter jammerten und feilschten, versprach er das Unmögliche. Seine Kasah, die größte im Vilajet, sei von der Heuschreckenplage nicht übermäßig betroffen. Wenn auch nicht Korn und Weizen, so könne er doch Mais in jeder gewünschten Menge zur Verfügung stellen. Er habe in Vorahnung der Kriegsnot die staatlichen Magazine seines Bezirks seit Jahr und Tag mit Proviant gefüllt. Er bitte nur höflichst um die nötigen Transportmittel. Während einer der Verhandlungen kam es so weit, daß Dschemal Pascha den Kaimakam von Antakje als leuchtendes Beispiel hinstellte. Dieser nahm