Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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Rationen zu erwarten. Gleichviel! Noch einmal heißen Kaffee in kleinen Schlucken genießen dürfen, daß alle Nerven zu leben und zu lächeln beginnen! Noch einmal den »Vater des Duftes« bis in die Tiefen des Zwerchfells einziehen, den Rauch langsam durch Nase und Mund ausstoßen und ihm gedankenlos nachstarren, ohne Sorgen und Morgen. Der tatsächliche Wert dieser Geschenke bedeutete weniger als die psychische Belebung und Aufmunterung, die sie gerade an diesem Tage des Herdenunglückes hervorriefen. Auch die beiden Packesel und zwei Reittiere wurden von den Türken zurückgelassen. Nur der alte Agha behielt das seine für den Ritt ins Tal.

      Den Weg zum Nordsattel legten der Wohltäter und seine fünf diesmal ohne verbundene Augen zurück. Voran ging der Mann des Gelöbnisses mit der grünen und weißen Fahne. Er schien weder erfreut noch verstimmt darüber zu sein, daß er um sein gutes Werk gekommen war. Als Ehrengeleit folgten den Fremdlingen außer Gabriel Bagradian noch Ter Haigasun, Bedros Hekim und zwei Muchtars. Hinterher wälzte sich eine behexte Volksmenge. Die Unterredung im Scheichzelt, von deren Inhalt niemand etwas wußte, wurde zum Quell phantastischer Erwartungen. Der Agha ging in einem Nebel von Segenswünschen, Hilferufen, Tränenbitten, Hoffnungsfragen. Er konnte kaum vorwärtskommen. Nie, auch in den Lagern der Verschickung nicht, hatte Rifaat Bereket ähnliche Gesichter gesehen wie hier auf dem Damlajik. Die fieberwilden Fratzen der Männer umlauerten ihn gierig. Die stockdürren Arme der Weiber, aus zerrissenen Ärmeln stechend, hielten ihm die kleinen Kinder bettelhaft dicht vors Gesicht. Fast alle diese Kinder trugen schwankende Wasserköpfe an dünnen Hälschen und in ihren Riesenaugen lag ein Wissen, das Menschenkindern verboten ist. Der Agha erkannte, daß auch der grausamste Deportationsmarsch nicht entmenschender wirkte als dieses Abgeschnitten- und Ausgespiensein. Er glaubte zu verstehen, wie sehr das Zerstörungswerk an den Seelenkräften das Mordwerk an den Leibern übertrifft. Nicht die Ausrottung eines ganzen Volkes war der Greuel schlimmster, sondern die Ausrottung der Gotteskindschaft in einem ganzen Volk. Das Schwert Envers hatte, als es die Armenier traf, Allah selbst getroffen. Denn in ihnen wie in allen Menschen wohnte Allah, wenn sie auch Ungläubige waren. Wer aber in einem Geschöpf die Würde vernichtet, der vernichtet den Schöpfer in ihm. Dies ist der Gottesmord, die Sünde, die bis ans Ende der Zeit nicht vergeben wird. Rifaat Bereket, der fromme Derwisch, der sich der andern Welt und dem Schicksal der hingeschiedenen Seelen in seinen Meditationen und Tarikaats-Übungen oftmals genähert hatte, sah in seinem Geiste grauenvolle Bilder. Auch drüben, vor den Toren der Aufnahme, vor den Pforten der Harmonie schleppten sich schwelende Deportationszüge, ohne Einlaß zu erhalten. Zusammengepferchte Transportlager der Seelen, die nicht aufsteigen durften, weil ihnen die lange Marter, die lange Ausgestoßenheit jede Flugkraft genommen hatte. Heillose Zufluchtsnester dort, wie hier auf dem Musa Dagh. Zusammenrottungen brennender Hungerblicke, die auch noch im Jenseits zur astralen Bettelschaft und zum lichtscheuen Geducktsein verurteilt sind. Dem alten Manne war's, als ginge er durch eine dicke Aschenwolke, durch die Todeswolke des armenischen Volkes, die in unauflöslichen Schwaden zwischen hüben und drüben lagert. (Er atmete wirkliche Asche ein, ohne es zu merken, die letzten Spuren des zusammengeglühten Waldbrandes, die in beklemmenden Nebeln mit dem Landwind nach Westen zogen.) Nahm dieser Weg durch das armenische Schicksal kein Ende? An seinem Stock ging der Agha, immer älter werdend, immer tiefer gebückt. Er sah nur mehr die Erde an, die dies alles gebar und dies alles ertrug. Seine kleinen Füße in den weichen Schuhen trippelten eifrig, des Gehens ungewohnt. Den weißen Bart fest an die Brust drückend, lief er eilig wie ein Fliehender, der um seine letzte Kraft bangt. Sein Ohr hörte nicht mehr die flehenden Laute, die beschwörenden Aufträge ringsum. Nur fort! Doch die Kraft Rifaats reichte nur bis zum ersten Graben der Nordstellung. Dort überfiel ihn angesichts der gaffenden Zehnerschaften ein heftiger Schwindel, der ihn zu Boden zwang. Die beiden als Eseltreiber folgenden Diener stürzten angstvoll herbei. Der Agha war ein kranker Mann. Der fränkische Hekim in Stambul hatte ihn vor Oberanstrengungen gewarnt. Der gesetztere von den beiden Dienern zog aus einem grünen Samtbeutel, den er dem Herrn immer nachtrug, eine Riechflasche und eine Dose mit Lakritzen, die auf das Herz belebend wirkten. Als sich der Agha schnell wieder erholt hatte, lächelte er zu Ter Haigasun und Gabriel Bagradian empor, die sich zu ihm niederbeugten:

      »Es ist nichts ... ich bin alt ... zu schnell gelaufen ... und dann ... Ihr gebt mir viel zu tragen ...«

      Während er sich mit Hilfe seiner Begleiter erhob, hatte er das bestimmte Gefühl, er werde seine Aufgabe nicht erfüllen können und nicht bis Deïr es Zor gelangen.

      Rifaat Bereket kam mit der Yayli erst gegen Mitternacht in seinem Haus in Antakje an. Seine Glieder waren vor Erschöpfung halb gelähmt. Dennoch aber malte er mit schöngeschnörkelter Schrift noch einen Brief an Nezimi Bey zu Händen des christlichen Geistlichen Lepsius, in dem er über seine erste Aktion Rechnung und Rechenschaft ablegte.

      Zur selben Zeit, da Agha Rifaat Bereket den Brief an Lepsius schrieb, löste sich die Seele Krikors von Yoghonoluk aus ihrem gemarterten Körper. Vor dem Schlafengehen hatte Lehrer Hapeth Schatakhian des Apothekers wegen schwere Gewissensbisse empfunden. Nach dem aufregenden Führerrat am frühen Morgen war er blind fortgestürzt, ohne während dieses ganzen schrecklichen Tages auch nur einen einzigen Blick nach seinem alten Meister zu werfen, dem kein Mensch in seiner Krankheit beistand. In der zweiten Nachtstunde betrat der Lehrer und Jünger vorsichtig die Regierungsbaracke, näherte sich auf Zehenspitzen der schwach erleuchteten Koje Krikors, guckte über die Büchermauer und flüsterte zärtlich, um den Kranken, sollte er schlafen, nicht zu wecken:

      »Apotheker, he, wie geht's?«

      Krikor lag auf dem Rücken. Sein Atem ging schwer. Doch in seinen offenen Augen war tiefe Ruhe. Sie rügten den Lehrer wegen seiner dummen Ansprache. Schatakhian drückte sich an den Büchern vorbei ans Lager. Er legte prüfend seine Finger an das entstellte Handgelenk Krikors:

      »Hast du große Schmerzen?«

      Es klang so, als lege der Apotheker in seine Worte eine doppelte Bedeutung:

      »Wenn du mich anrührst, hab ich große Schmerzen.«

      Der Lehrer hockte sich neben den Kranken hin:

      »Ich werde diese Nacht bei dir bleiben. Es ist besser so ... Du könntest vielleicht etwas brauchen ...«

      Krikor aber schien für die Nacht durchaus keine Gesellschaft zu wünschen:

      »Ich brauche gar nichts ... Es ist bisher sehr gut gegangen ... es wird heute auch noch gehn ... Du kannst dich schlafen legen, Lehrer ...«

      »Aber ich möchte gern noch bleiben, wenn es dich nicht anstrengt ...«

      Krikor sagte nichts. Er war mit seinem Atem beschäftigt. Der Lehrer aber wurde wehmütig:

      »An die schönen Zeiten denk ich, Apotheker, an unsre Spaziergänge und an deine Reden ...«

      Krikors tiefgelbes Mandarinengesicht lag regungslos da. Er sprach mit einer hauchigen Kopfstimme. Sein Bocksbärtchen bewegte sich nicht: »Das war alles nicht viel wert ...«

      Durch diese Abwehr aber wurde Schatakians Sentimentalität erst recht entfesselt:

      »Das war sehr viel wert ... Für mich, für uns ... Du weißt ja, daß ich in Europa gelebt habe, Apotheker. Ich kann sagen, daß mir die französische Kultur in Fleisch und Blut übergegangen ist ... Man sieht und hört und lernt tausend Dinge dort, Vorträge, Konzerte, Theater, Bilder, Cinéma ... Siehst du, das warst du alles für uns in Yoghonoluk, und mehr als das ... Die ganze Welt hast du uns gebracht und erklärt ... Oh, Apotheker, was hätte in Europa aus dir werden können!«

      Dieser Ausruf ergrimmte Krikor sichtlich. Hochmütig hauchte er:

      »Ich bin ganz zufrieden ... wie es ist ...«

      Lehrer Schatakhian wurde plötzlich kleinlaut. Minutenlang fand er keinen Gesprächsstoff. Dann aber verfiel er auf einen jener kindischen Scherze, wie man sie mit Sterbenden zu machen pflegt, um ihnen ihr Los zu verhüllen:

      »Was für ein feierliches Nachthemd du dir angezogen hast, Apotheker! In ein paar Tagen, wenn du's ausziehst, wird es schmutzig und zerknittert sein. Dann mußt du dir ein neues schenken lassen, denn so etwas gibt man doch nicht in die Wäsche ...«

      »Es wird nicht zerknittert und schmutzig sein«, sagte der Apotheker, und