Gisela Reutling

Mami Staffel 2 – Familienroman


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      Barbara sah sich in der unordentlichen Küche um. »Wo hat Gritli denn andere Kleidung? Sie kann doch nicht frieren, bis ihre Sachen trocken sind!«

      »Das kann sie schon. Dann lernt sie ’s wenigstens. Unsereins hat ’s auch nicht besser gehabt. Und das Gritli soll ja nicht anfangen, solche Ansprüche wie die Damen aus der Stadt zu stellen.«

      »Aber wenn sie sich erkältet, kann sie nicht zur Schule kommen. Und das gefällt mir nicht, Frau Heimhofer.«

      Sie erntete einen beleidigten Blick der Großmutter, bevor die mit dem Kinn zur Küchentür hinaus deutete. »Oben in ihrer Kammer hat sie ihr Kastl mit der Wäsche.«

      Gritli zuckte im ersten Moment erschrocken zurück, als Barbara sie kur zentschlossen auf ihre Arme hob. »Zeig mir dein Kämmerchen«, bat sie. »Du mußt was anziehen. Ich tu dir ja nichts.«

      Die schmale Brust des Mädchens hob sich in großer Erregung, aber schon auf der Treppe erhaschte Barbara einen erleichterten Blick ihrer kleinen Schülerin. Bevor sie in die düstere Kammer traten, glaubte sie sogar, Gritli habe sich einmal kurz und scheu in ihre Arme gekuschelt.

      Sie kramte zerrissene Strumpfhosen und einen verwaschenen Pulli aus der Truhe und sah zu, wie Gritli hineinschlüpfte. Kaum wurde ihr wärmer, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und schaute Barbara an.

      »Wollen Sie schimpfen, Frau Lehrerin?«

      Barbara unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte sich auf das schmale Bett gehockt und schüttelte den Kopf. »Ich bin nur gekommen, weil ich wissen möchte, was du mit dem Brief gemacht hast, den ich dir für deinen Onkel mitgab.«

      »O je!« entwischte es Gritli. »O je!« Dann rannte sie hinaus und kam Sekunden später mit dem grünlichen Umschlag zurück. »Unter der Madonna auf der Kommode hab’ ich ihn versteckt.« Sie schlug die Augen nieder.

      Der Umschlag war noch geschlossen, wie Barbara es geahnt hatte.

      »Warum hast du ihn denn versteckt?«

      »Wegen Clara.«

      »Wegen Clara? Das ist die Frau, die du heute gesucht hast?«

      »Ja. Und ich möcht so gern, daß sie für immer bleibt.«

      »Heißt das, dieser Brief hätte die nette Clara verscheucht?«

      Warum stieg nur ein Lachen in Barbara auf? Galt sie bei den Heimhofers nicht als humor- und verständnislose alte Jungfer?

      »Ich hab mich so gefürchtet, daß der Sepp tobt und krakeelt, wenn er den Brief liest. Der kann so grob werden, davor hab ich Angst.«

      »Und was hat Clara damit zu tun?«

      Gritli, die schon wieder mit hochgezogenen Schultern und niedergeschlagenen Augen vor ihr stand, schwieg eisern.

      »Du kannst dich mir ruhig anvertrauen, Gritli. Ich will nicht, daß du dich fürchtest. Hier oben hört uns ja keiner, und ich sag ’s keinem, wenn du mir was zu beichten hast.«

      »Beichten? Na, beichten net, Frau Lehrerin.« Ihre Brust hob sich. »Ich hab’ doch schon gebetet, damit Clara den Sepp recht liebgewinnt. Aber wenn der krakeelt, ist er schlimm. Das wird ihr nicht gefallen. Dann läuft sie fort, auf und davon.«

      »Und das willst du nicht? Hast du sie so gern?«

      Da begann Gritli heftig zu schluchzen. »Sie ist halt gar so gut zu mir, Frau Lehrerin. Gar nicht streng wie Sie und auch nicht mürrisch wie die Großmutter. Ich wollt’ doch nur…«

      Ein wenig Liebe wolltest du, dachte Barbara. Ein kleines Stück Geborgenheit, heitere Harmonie und einen Hauch mütterlicher Wärme.

      »Du wolltest, daß sie für immer bei euch bleibt und den Onkel Sepp heiratet?«

      »Ja, dann hätt’ ich doch eine Tante. So eine wie Tante Theres, nur nicht so alt.«

      Barbara nahm den Brief und zerriß ihn in kleine Schnipsel, die sie zu Gritlis Erstaunen auf den Boden rieseln ließ. Dann streckte sie die Arme aus und zog die Kleine an sich.

      »Vergiß den dummen Brief, Gritli. Es wird auch ohne den alles wieder gut. Nur kann ich dir nicht versprechen, daß aus den beiden ein Paar wird.«

      »Und wenn sie ’s nicht geschafft hat? Oder verunglückt. Und schon…«

      »So etwas darfst du gar nicht denken, Gritli!«

      »Das muß ich aber immer!« Gritli schluchzte auf. Sie ließ sich an Barbaras Schulter sinken und gab sich ihrem Schmerz ohne Widerstand hin.

      »Sie kommt gesund und heil zurück. Davon bin ich überzeugt.«

      Gritli atmete hörbar, aber mit bebender Brust auf. Wahrscheinlich waren es die ersten Worte seit dem Tod der Tante Theres, die ihr das Gefühl gaben, daß es außer ihrem Vater und Clara Baumbeer noch einen dritten Menschen gab, der es von Herzen gut mit ihr meinte.

      *

      In letzter Minute hatte Thilo Heimhofer gerade noch den Abendbus von Oberau nach Wesing erwischt. Als er gegen zehn Uhr abends an der Haltestelle ausstieg, nieselte es nur noch. Thilo sah hoch zu den Bergen, die von einem dicken Nebel, durch den nicht mal das Mondlicht drang, umhüllt wurden.

      Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und klemmte sich die Einkaufstüte unter den Arm. Um diese Zeit und mit Rücksicht auf den nassen und rutschigen Boden brauchte er gut eine Stunde bis zum Berghof. Er schüttelte sich kurz, dann schritt er eilig am Dorfkrug vorbei, um ja nicht in Versuchung zu kommen, dort noch ein Bier zu trinken.

      »Thilo! Thilo!«

      An einem der Autos, die vor dem Krug parkten, wurde das Fenster heruntergekurbelt. Er erkannte den Schreinermeister Lange. Zögernd trat er näher, da stieg der alte Mann schon aus, ging auf ihn zu und packte ihn am Revers der Jacke.

      »Geh nicht hoch zum Hof, Thilo. Du mußt mit mir kommen.«

      »Auf ein Bier, wie?« grinste der. »Nein, danke Meister. Das ist nett gemeint, aber es nützt uns beiden nichts mehr.«

      »Was soll das heißen?«

      »Ich hab Arbeit gefunden. Nichts Besonderes. Nachtschicht an der Tankstelle vor der Autobahn. Morgen kann ich anfangen, wenn ich will.«

      In Rupperts Blick funkelte Entsetzen auf. Dann atmete er auf.

      »Gut, wie du willst. Trotzdem mußt du mit mir kommen. Ich warte seit zwei Stunden auf dich.«

      »Tut mir leid, Herr Lange. Aber das Zusammentreffen mit Ihrer Tochter hat mir bewußt gemacht, wie schwer ich es bei Ihnen haben werde. Sie hat ja recht. Ich bin ein Feigling und ein Leichtfuß. Dazu kommt noch, daß mir der Gesellenbrief fehlt. Und daß ich das Gritli habe, das mich nachmittags braucht. Nein, ich kann nicht bei Ihnen arbeiten. Auch, wenn ’s schmerzt.«

      Ruppert griff noch fester zu. Befremdet sah Thilo, wie sich die Knöchel an der Hand des Meisters hell von der sonnengegerbten Haut abhoben. Und wie seltsam brüchig dessen Stimme klang!

      »Barbara hat Gritli vom Berghof geholt, Thilo. Deine Tochter schläft bei uns, in der Wohnung über der Werkstatt. Barbara wollte sie nicht allein lassen, darum mußte ich dich abfangen, bevor du dich an den Aufstieg machst.«

      »Gritli? Um Gottes willen!« Das Paket mit den Einkäufen glitt zu Boden. Thilos Knie wurden weich. »Was ist geschehen? Ist Gritli verunglückt? Krank?«

      »Nein. Es geht ihr gut. Barbara wird dir alles erzählen.«

      Sofort stieg Thilo mit ins Auto. »Das wird garantiert wieder eine Strafpredigt!« vermutete er mit vernehmlichen Aufatmen. Wenn Gritli gesund war, konnte es nicht so ernst sein. Oder ging es immer noch um dieses Kapitalverbrechen, das seine Tochter begangen haben sollte, in dem sie den Brief an Sepp irgendwo vergessen hatte?

      »Kann sein, daß Barbara unhöflich wird, Thilo. Aber laut wie vor den Rangen in ihrer Klasse wird sie bestimmt nicht. Sonst wacht Gritli ja wieder auf«, meinte der Meister schmunzelnd und hatte den warmen Klang seiner Stimme