den Lippen die Treppe zu Barbaras Wohnung voran, drückte leise die Klinke nieder und bewegte sich dann auf Zehenspitzen durch die Eßdiele zu einer offenen Tür, um leise in einen hellerleuchteten Raum zu treten.
Wie vom Donner gerührt blieb Thilo stehen. Was für ein gemütliches Zimmer! Wie herrlich die wenigen Möbel im warmen Licht der Lampen aufschimmerten. Bestimmt waren alle diese Regale, die alte Kommode und der zierliche Sekretär von des Meisters Hand angefertigt worden. Auf dem Boden stand eine Vase mit einem riesigen Sommerblumenstrauß, und daneben auf einem Biedermeiersofa hockte Barbara und sah ihm mit schuldbewußtem Lächeln, das er sich gar nicht erklären konnte, entgegen. Ein Stein fiel ihm trotzdem gleich vom Herzen.
»Verzeihen Sie, aber ich mußte so handeln!« flüsterte sie und erhob sich. Dann legte auch sie den Finger vor die Lippen und packte ihn am Saum seiner Jacke, um ihn sanft auf den Sessel neben den Sekretär zu drücken. Als er sich suchend nach Gritli umschaute, stellte er nur fest, daß Ruppert den Raum schon wieder verlassen hatte.
»Was haben Sie mit Gritli vor?« flüsterte er. »Wollen Sie sie einsperren? Soll das eine Strafe sein für den verschwundenen Brief?«
»Nein, was denken Sie denn?« empörte sie sich und fuhr nach einer Weile flüsternd fort: »Ich war entschlossen, mein Urteil über Sie zu revidieren, Herr Heimhofer. Aber nun fürchte ich doch, daß Sie ein wenig begriffstutzig sind!«
»Also doch eine Strafpredigt!«
Barbara trat an den Tisch, goß aus der Teekanne auf dem Stövchen heißen Tee in eine Tasse und reichte sie ihm. Thilo nahm sie ihr nur zögernd ab. Seine Schuhe waren naß und seine Jacke vom Regen schwer. Außerdem war er es nicht gewohnt, von einer Frau wie ihr bedient zu werden.
»Ich bin heute nachmittag zum Hof hochgefahren, Herr Heimhofer. Ich hatte eingesehen, daß ich durch meine heftige Anklage Gritli nur neuen Kummer bereiten würde. Darum entschloß ich mich, Sie aufzusuchen und die Sache mit dem Brief zu klären.«
»Ich war in Oberau. Und was ist mit dem Brief?« Der Tee rann ihm heiß ins Mageninnere und belebte ihn.
»Den hab ich zerrissen, nachdem Gritli ihn aus dem Versteck unter der Madonna auf der Flurkommode hervorgezaubert hatte.« Sie schmunzelte und sah ganz entzückend aus.
»Also doch! Das tut mir leid, Frau Lehrerin. Mußte Gritli zur Strafe mit hierher?«
»Zur Strafe? Aber was denken Sie! Ich habe Ihre Tochter in Sicherheit gebracht, um sie vor dem wütenden Gebrüll Ihres grobschlächtigen Bruders zu schützen.« Sie sah ihn an, da er ihren Blick nur hilflos erwiderte, fuhr sie erregter fort: »Sie wissen wohl nicht, welch Drama sich heute abend oben im Berghof abspielte?«
»Ich weiß nur, daß Sie den unseligen Brief zerrissen haben. Ist das ein Drama? Das ist doch eher eine großmütige Tat für eine Frau wie Sie!« Das Zucken ihrer Mundwinkel zeigte ihm, daß er schon wieder zu weit gegangen war. Thilo beugte sich vor. Diese Barbara Lange brachte ihn eben leicht auf hundertachtzig. Das durfte er sich nicht anmerken lassen. »Also, was hat Gritli denn noch angestellt?«
Was für eine unverschämte Frage! Barbara begann durch den Raum zu gehen, um sich besser beherrschen zu können.
»Sie ist von der Schule heimgekommen und fürchtete, Clara sei bei diesem Wetter zu einer Bergtour aufgebrochen. Darum ist sie gar nicht erst zur Großmutter ins Haus. Sie hat ihren Ranzen in Tante Theres Hütte gebracht, Clara gesucht und ist dann hinter ihr her zum Felshorn.«
»Was? Bei diesem Wetter?«
»Ja, weil sie Angst um ihre geliebte Clara hatte. Die war nirgends zu entdecken, so daß Gritli zur Alm abstieg und den Onkel suchte. Der war auch nicht da. Ihrer Mutter hatte er gesagt, er sei im Holz.«
»Ja, ich weiß. Aber das war geschwindelt. Er war mit Clara unterwegs. Sie wollten endlich mal einen Tag allein sein.«
»Nur wußte Gritli das nicht. Und weil sie Clara nirgends fand, ist sie im Hagelsturm ganz zur Ludwigshöhe gerannt. Weil sie Clara dort auch nicht fand, hat Gritli in ihrer Panik den Mann vom Kiosk angefleht, die Bergwacht zu alarmieren.« Barbara sah Thilo bedeutungsvoll an.
Der nickte. »Ich wußte doch, daß sie überall hingelangt. Ist sie dort geblieben?«
»Nein, sie ist zurück zum Berghof, immer in der Hoffnung, Clara sei inzwischen wieder im Häuschen. Es muß furchtbar gewesen sein, denn Agnes hat sie zu allem Überfluß auch noch gescholten.«
»Wissen Sie, Barbara, wenn meine Mutter gern schimpft und murrt, so weiß Gritli doch damit fertig zu werden. Seit dem Tod meiner Frau ist meiner Mutter ein Herz aus Stein gewachsen. Jahrelang lastete zuviel auf ihren alten Schultern. Zuviel, um Gritli noch Liebe entgegenzubringen.«
Barbara hätte gern widersprochen. Sie unterließ es. »Es geht nicht mal um Ihre Mutter, Thilo«, sagte sie nur leise.
Es war die Atmosphäre dieses Raumes und das ruhige, offene Gespräch über Gritli, das die beiden einander doch ein wenig näherbrachte. Es fiel ihnen gar nicht auf, daß sie sich beim Vornamen nannten wie alte Freunde.
»Um wen denn?« Sein Blick ruhte aufmerksam auf ihr, denn der Klang ihrer Stimme ließ ihn vergessen, daß er die böse Lehrerin vor sich hatte.
»Um Ihren Bruder. Die Bergwacht hat nach Vorschrift darauf bestanden, ihn und Clara Baumbeer unversehrt zurückzubringen.«
»Die beiden sind also gefunden worden? Wo steckten sie denn?«
»In der Hütte Jägerwinkl, wo sie gemeinsam die Nacht verbringen wollten.«
Thilo lachte auf. »So, so. Das wissen Sie auch schon. Von wem?«
»Darüber lachen Sie? Das war nicht komisch, Thilo. Denn Clara hat es selbst eingestanden, nein, eher hat sie ’s herausgeschrien, als Sepp begriff, daß Gritli die Bergwacht gerufen und ihn in diese beschämende Situation vor seiner Mutter gebracht hat. Wie auf einen Sündenbock ist er auf das hilflose Kind los, aber so heftig und grob, daß Clara dazwischenfuhr! Ich machte mir auch Vorwürfe, daß ich mit Gritli die Kammer verlassen und wieder hinunter in die Küche gekommen war. Clara verstand mich. Und darum bat sie mich, Gritli fortzubringen.«
Thilo fuhr sich durch die Haare. »Ich verstehe Sepp. Er war blamiert und fühlte sich dem Zorn meiner Mutter ausgeliefert. Darum rächte er sich an Gritli.«
»Das verstehen Sie? Ihre Tochter Gritli hat vor Angst um Clara doch das einzig Richtige getan. Konnte sie wissen, wie schwer es ihrem Onkel fällt, seine Liebe zu Clara einzugestehen?« Sie holte tief Luft. »Wirklich! Die Heimhofers sind eine schreckliche Familie.«
»Sie meinen meinen Bruder Sepp? Ja. Er kann ungerecht und unbeherrscht sein.«
Barbara setzte sich wieder. Sie sah ihn lange an. »Wie konnten Sie Ihr Kind nur sechs Jahre dort oben bei diesem Mann und dieser Großmutter lassen? Nicht mal die hat Gritli verteidigt, als Sepp ausrastete!«
Er hob die Hände und legte sie vors Gesicht. »Ich kann ’s nicht ändern. Agnes beherrscht uns alle. Clara wird es auch nicht ertragen!«
»Ach? Das ist Ihre Sorge? Denken Sie nicht an Ihr Kind? Wird Gritli jemals wieder mit Sepp unter einem Dach leben können? Das sollten Sie sich fragen!« Sie bemerkte, daß seine Schultern zuckten. »Clara ist in Ordnung, sie bat mich, Gritli solange bei mir zu behalten, bis der Konflikt zwischen ihr, Sepp und Agnes bereinigt ist. Dazu bin ich gern bereit, vorausgesetzt, Sie sind einverstanden.«
Barbara wartete auf seine Antwort. Endlich, sehr langsam sanken seine Hände herab. »Das kann Wochen, Monate, Jahre dauern.«
»Das juckt mich nicht, wenn Gritli bleiben will.«
»Aber… ob sie bleiben will?«
Da reichte Barbara ihm die Hand und zog ihn ins Nebenzimmer. Dort lag Gritli in einem breiten französischen Bett zwischen Kissen hingekuschelt. Ihre Zöpfe waren gelöst, das feine blonde Haar breitete sich über die Blümchen auf der Bettwäsche. Ihre Wangen waren rosig, und ihr Atem ging ruhig. Nichts deutete auf die Strapazen und den Kummer des vergangenen Tages hin.
»Gritli?«