und umfangreichsten Bilderzyklus zum Leben Jesu, den das Mittelalter in der Gattung der Buchmalerei tradierte.
Durch die Widmungsinschrift schien die Herstellung der Handschrift auf der Klosterinsel Reichenau im Bodensee erwiesen. Generationen von Forschern galt der Codex Egberti folglich als Schlüsseldokument der famosen Reichenauer Malschule um die Jahrtausendwende.
Doch mittlerweile wird auch Trier als Entstehungsort des Codex Egberti veranschlagt. Egbert habe dort über einen genialen Maler und Leiter sowohl seiner Goldschmiedewerkstatt als auch eines leistungsstarken Skriptoriums verfügt, den Gregormeister, den die Kunstgeschichte als den bedeutendsten unter den ottonischen Malern und als einen der größten der gesamten mittelalterlichen Kunst klassifiziert. Für das Skriptorium habe der Erzbischof zudem unter anderem die zwei Reichenauer Mönche Keraldus und Heribertus gewonnen, die unter Leitung des Meisters und nach dessen Konzepten arbeiteten.
Der Ausnahmekünstler hat seinen Notnamen nach einem Fragment in der Trierer Stadtbibliothek erhalten, ein Einzelblatt mit der Darstellung des Papstes Gregor und seines Schreibers. Weitere Hauptwerke dieses genialen Künstlers sind unter anderem die Einzelminiatur eines thronenden Kaisers (in Chantilly, Musée Condé), sowie ein Evangeliar, das im 14. Jahrhundert in die Sainte Chapelle zu Paris gelangte und heute in der Pariser Bibliothèque Nationale aufbewahrt wird. Auf stilkritischem Wege datiert man zumeist die Miniaturen des Gregormeisters im Egbert-Codex um 985–990.
Seine Kunst besticht durch die innere Größe der Komposition, durch die fein abgestuften Farbmodulationen, durch ein ungewöhnliches Wissen um die Darstellungsprobleme von Raum und figürlicher Plastizität. Der Meister hat gewiss spätantike Handschriften des 4. und 5. Jahrhunderts gekannt. Er wusste sie kongenial umzusetzen, zu Schöpfungen aus dem Geist antiken Maßes und klassischer Ausgewogenheit. Außer jenen Quellen, auf die auch die antikische Art der Rahmung seiner Bildfelder weist, hat er karolingische Vorbilder verarbeitet.
Diesem Künstler nun schreibt man sieben Miniaturen gleich zu Beginn des Codex Egberti zu. Die Unterschiede des Gregormeisters zum Stil seiner Mitarbeiter bestehen im Ganzen weniger in malerischen Besonderheiten als in der Rhythmik, in der Prägnanz des Bildgleichgewichtes und in der gekonnten Auffassung des Körperlichen.
Insgesamt ist mit dem Codex Egberti eine einzigartige Note in die Reichenauer Kunst gekommen: Innovativ ist vor allem die höfische Eleganz und die Zartgliedrigkeit. Auch der aus Regenbogentönen zusammengesetzte Farbklang leitet das charakteristisch Ottonische ein.
Mit dem Querformat der Miniaturfelder steht die epische Erzählweise der Szenen im Einklang. In ihren Gebärden entwickeln die Figuren eine imponierende Kraft, die gerade durch die Ruhe und durch die Vermeidung jeder Aufgeregtheit beeindruckt. Die Gestalten sind auf ein geometrisches Kompositionsmuster bezogen, das indes nie aufdringlich wirkt. Jedes überflüssige Beiwerk fehlt. Größere Flächen bleiben leer. Der Zwischenraum zwischen den Figuren und ihren Gesten steigert die narrative Spannung und verdeutlicht die Aussage.
Besonders ins Auge springen die farbigen Grundflächen der Bilder, bei denen sanfte und helle Farbtöne fließend ineinander übergehen und eine geradezu atmosphärische Wirkung erzeugen. Es sind aus der antiken Buchmalerei herrührende Bildhintergründe, die der Codex übernimmt und zu einem letzten Höhepunkt führt. Denn nach ihm werden die Ateliers der Reichenau fast ausschließlich den Goldgrund favorisieren.
Verständlich, dass im Jahr 2004 der Egbert-Codex zusammen mit einigen anderen Reichenauer Handschriften unter das kulturelle Welterbe der Menschheit eingereiht wurde!
2 Zu dieser Handschrift und den beteiligten Künstlern ausführlich der Ausstellungskatalog: Der Egbert-Codex. Das Leben Jesu. Ein Höhepunkt der Buchmalerei vor 1000 Jahren. Schatzkammer der Stadtbibliothek Trier vom 27. April 2005 bis 8. Januar 2006. Hrsg. von Gunther Franz. Luzern und Darmstadt 2005 (Lizenzausgabe Stuttgart 2005)
MEISTER DES DRACHENKAMPFES
(tätig in der Mailänder Region um 1100)
An die aus vielen Quellen herrührenden und sich auf vielen Ebenen überlagernden Übermittlungswege antiken Formengutes knüpfen sich die grundlegenden Probleme der Geschichte romanischer Malerei in Italien. Der Stil-Transfer ging von drei maßgeblichen Ausgangspunkten aus: der römischen, klassisch-heidnischen Antike selbst, der spätantik-frühchristlichen Periode – bezeichnend, dass in einigen Gegenden diese beiden Momente eine wesentlich größere Rolle spielten als im übrigen Europa – sowie deren Transformation durch die byzantinische Kunst. Was die italienische Entwicklung über jene Komponenten an Impulsen mitgeteilt bekam, das waren, relativ gesehen, wohlgestaltete, ausdrucksvoll bewegte Figuren, ferner Reste eines räumlichen Vorstellungsvermögens und das Wissen um Darstellungsmittel, die dem Mittelalter verloren gegangen waren: Licht und Schatten, Verkürzungen und Perspektivik. Vieles davon manifestiert sich auch in einem Chef d’Œuvre der Epoche, in den Wandbildern des lombardischen S. Pietro al Monte, am Hang des Monte Pedale über dem Comer See.3
Die zeitliche Einordnung der Wand- und Gewölbemalereien ist problematisch: Teils legt man sie ins Ende des 11., teils in die ersten Dezennien des 12. Jahrhunderts. Am wahrscheinlichsten ist eine Datierung in die Jahre um 1100. Das Programm, das zu den großartigsten Dekorationen frühromanischer Malerei zählt, vereinigt ottonische Elemente mit Resten eines römisch-antiken Illusionismus, byzantinische Gestaltformeln, die sich partiell in den Apsiden von San Marco in Venedig und San Giusto in Triest wieder finden, mit ausgesprochen romanischen Kompositionsprinzipien und erhebt sich mit den großen Visionsbildern des Himmlischen Jerusalem und des apokalyptischen Drachenkampfes weit über die sonstige Bildproduktion.
Anscheinend waren bei der Ausmalung der ehemaligen, Mitte des 11. Jahrhunderts neu erbauten Benediktiner-Klosterkirche fünf verschiedene Künstler beziehungsweise Werkstätten beteiligt; herausragend bei all dem der Anteil des Meisters, der die malerisch-illusionistische Paradieslandschaft im östlichen Gewölbefeld malte und sich intensiv mit der Antike auseinandersetzte: Gottvater thront mit dem Buch des Lebens im Schoß und dem Lamm zu seinen Füßen, mit der Rechten die goldene Meßlatte haltend, mit der er die Stadt vermessen hat, inmitten des Paradiesgartens, der von turmbewehrten Mauern mit zwölf Toren umschlossen ist. Vor allem das Laubwerk ist mit Hilfe einer impressionistisch anmutenden spätantiken Manier ausgeführt.
Noch bedeutender ist das Schildbogenbild an der Ostwand der Eingangshalle, aus der Hand des anonymen »Meisters des Drachenkampfes«, eines der überragenden Künstler seiner Zeit, der auch eine raffinierte Technik mit Lasuren in mehreren Schichten anwandte. Er dürfte im übrigen für die Konzeption der Gesamtausstattung verantwortlich gewesen sein.
Nach dem 12. Kapitel der Apokalypse werden der Kampf der Engel unter ihrem Anführer Michael gegen den siebenköpfigen Drachen, der das apokalyptische Weib mit seinem Neugeborenen bedroht, und die Entrückung des Kindes in den Himmel geschildert. Unter dem in der Mandorla thronenden Weltenrichter windet der Drache seinen überdimensionalen Schuppenleib, in den sich die Speere des Erzengels und seiner in erregter wie tänzerisch-anmutiger Choreographie vereinigten himmlischen Streitkräfte bohren.
Speziell diese farbintensive Darstellung in S. Pietro zählt aufgrund ihrer hieratischen Kraft, gepaart mit einer meisterhaften Dramaturgie zu den, man kann es nicht oft genug wiederholen, imponierendsten Leistungen der abendländischen Kunst.
3 Demus, Otto: Romanische Wandmalerei. München 1968, S. 112 ff.
MEISTER VON SAN CLEMENTE IN TAHULL
(tätig im 1. Drittel des 12. Jahrhunderts in Katalonien)
Aufgrund einer Weihinschrift sind die Fresken, die sich aus der Hand dieses anonymen Genies erhalten haben, recht genau auf die Jahre um 1123 zu datieren. Sie, von den Wänden abgelöst und im Museu Nacional d’Art de Catalunya, in Barcelona aufbewahrt, gehören zu einem Ensemble, an dem zwei Künstler beteiligt waren: eben der grandiose Meister von San Clemente, von dem die Dekoration der Hauptapsis herrührt, sowie der am gleichen Ort, und zwar in S. Maria de Tahull verantwortliche »Weltgerichtsmeister«, der Teile des Triumphbogens, die Seitenapsiden und