und sie hatte sie leicht hören können. Ihr Motel lag bereits in der Nähe von Bayonne, einen Katzensprung vom Industriehafen Jersey. Sie hatte ihn schon viele Male zuvor gesehen, wenn sie die Bücke von Jersey nach New York oder zurück überquerte. Da standen Stapel von bunten Frachtcontainern, die von Kränen auf riesige, dunkle Schiffe geladen wurden, die sie nach Übersee bringen würden.
Ihr Herzschlag verdreifachte sich. Rais würde sie aus der USA, über den Industriehafen Jersey, nach Kroatien bringen. Und von dort aus... sie hatte keine Ahnung, und niemand anders würde sie haben. Es gab nur wenig Hoffnung, dass man sie jemals wieder fände.
Maya konnte das nicht zulassen. Ihre Entschlossenheit zurückzukämpfen wurde stärker. Ihre Entschiedenheit, etwas gegen diese Situation zu unternehmen, erwachte erneut in ihrem Inneren.
Das Trauma, Rais dabei zu beobachten, wie er die Gurgel der Frau im WC der Raststätte heute durchtrennt hatte, klang immer noch nach. Sie sah die Szene jedes Mal, wenn sie ihre Augen schloss. Der ausdruckslose, tote Blick. Die Blutlache, die fast ihre Füße berührte. Doch dann strich sie über das Haar ihrer Schwester und wusste, dass sie wortlos das gleiche Schicksal akzeptieren würde, wenn es bedeutete, dass ihre Schwester in Sicherheit und außerhalb der Reichweite dieses Mannes wäre.
Rais fuhr mit seiner Unterhaltung in dieser Fremdsprache fort, schnatterte in kurzen, betonten Sätzen. Er drehte sich um und öffnete die dicken Vorhänge ein wenig, nur ein paar Zentimeter, um auf den Parkplatz hinaus zu spähen.
Er stand mit dem Rücken zu ihr, vielleicht das erste Mal, seit sie in dem zwielichtigen Motel angekommen waren.
Maya streckte ihren Arm aus und öffnete vorsichtig die Schublade des Nachttisches. Es war das einzige, was sie erreichen konnte, da die Handschellen sie an ihre Schwester fesselten und sie nicht vom Bett aufstehen konnte. Ihr Blick huschte nervös zu Rais’ Rücken und dann zurück zur Schublade des Nachttisches.
Da lag eine Bibel drin, eine sehr alte, mit einem abgeblätterten, gebrochenen Rücken. Und neben ihr lag ein einfacher, blauer Kuli.
Sie nahm ihn heraus und schloss die Schublade erneut. Fast im selben Moment drehte sich Rais wieder um. Maya erstarrte und hielt den Kuli in ihrer geschlossenen Faust.
Doch er gab keine Acht auf sie. Es schien, als wäre er jetzt gelangweilt vom Anruf und wollte endlich auflegen. Etwas im Fernsehen erweckte seine Aufmerksamkeit für einige Sekunden und Maya versteckte den Kuli im elastischen Bund ihrer Flanellschlafanzughosen.
Der Attentäter grummelte ein halbherziges Auf Wiedersehen und beendete das Gespräch, indem er das Handy auf das Sofakissen warf. Er drehte sich zu ihnen um und musterte jedes Mädchen einzeln. Maya starrte geradeaus, ihr Blick so leer wie nur möglich, und gab vor, die Nachrichten zu sehen. Scheinbar zufriedengestellt nahm er erneut seine Position auf dem Sessel ein.
Maya strich sanft mit ihrer freien Hand über Saras Rücken, während ihre jüngere Schwester mit halb geschlossenen Augen den Fernseher, oder vielleicht auch gar nichts, anstarrte. Sara brauchte Stunden nach dem Vorfall in der Raststättentoilette, um mit dem Weinen aufzuhören, doch jetzt lag sie einfach da und ihr Blick war leer und verglast. Es schien, als sei nichts mehr von ihr übrig.
Maya strich mit ihren Finger über Saras Wirbelsäule, um sie zu trösten. Es gab keine Möglichkeit für die beiden, untereinander zu kommunizieren. Rais hatte es mehr als deutlich gemacht, dass es ihnen nicht erlaubt war, miteinander zu sprechen, es sei denn, sie würden gefragt. Maya konnte ihr keine Nachricht übermitteln, keinen Plan aushecken.
Obwohl... vielleicht brauche ich ja gar keine Worte, dachte sie.
Maya hörte für einen Moment auf, den Rücken ihrer Schwester zu berühren. Als sie erneut begann, verwendete sie ihren Zeigefinger, um heimlich und langsam die Form eines Buchstaben zwischen Saras Schulterblätter zu ziehen - ein großes D.
Für einen kleinen Moment hob Sara neugierig ihren Kopf an, doch sie schaute dabei Maya nicht an und sagte auch kein Wort. Maya hoffte verzweifelt, dass sie verstand.
R, zeichnete sie als nächstes.
Dann Ü.
Rais saß in dem Sessel in Mayas erweitertem Blickfeld. Sie wagte es nicht, zu ihm herüberzublicken, aus Angst, verdächtig zu erscheinen. Stattdessen starrte sie gerade vor sich hin, so wie sie es schon die ganze Zeit tat, und zeichnete die Buchstaben.
C. K.
Sie bewegte ihren Finger langsam, absichtlich. Zwischen jedem Buchstaben legte sie eine Pause von zwei Sekunden ein, zwischen den Worten wartete sie fünf Sekunden ab, bis sie ihre Nachricht vollendet hatte.
Drück meine Hand, falls du mich verstehst.
Maya sah nicht einmal, wie Sara sich bewegte. Doch aufgrund der Handschellen lagen ihre Hände nah beisammen und sie spürte wie kühle, klamme Finger sich für einen Moment eng um ihre legten.
Sie verstand. Sara hatte die Nachricht verstanden.
Maya begann von vorne, bewegte sich so langsam wie möglich. Es gab keine Eile und sie musste sicherstellen, dass Sara jedes Wort verstand.
Gibt es eine Möglichkeit, schrieb sie, dann rennst du weg.
Schau nicht zurück.
Warte nicht auf mich.
Finde Hilfe. Hole Papa.
Sara lag ruhig und bewegungslos während der ganzen Nachricht. Es war Viertel nach drei als Maya endlich fertig war. Anschließend spürte sie den kühlen Druck eines dünnen Fingers auf ihrer Handinnenfläche, die teilweise an Saras Wange geschmiegt war. Der Finger zeichnete ein Muster auf ihrer Hand, den Buchtaben N.
Nicht ohne dich, lautete Saras Nachricht.
Maya schloss ihre Augen und seufzte.
Du musst, schrieb sie zurück. Sonst sind wir beide verloren.
Sie gab Sara nicht die Chance, zurückzuschreiben. Nachdem sie ihre Nachricht beendet hatte, räusperte sie sich und sagte leise, „Ich muss aufs Klo.”
Rais runzelte die Stirn und zeigte auf die geöffnete Badezimmertür am anderen Ende des Raumes. „Nur zu.”
„Aber...” Maya hob ihren Arm mit der Handschelle an.
„Na und?” fragte der Attentäter. „Nimm sie mit. Du hast eine Hand frei.”
Maya biss sich auf die Lippe. Sie wusste, was er da tat. Das einzige Fenster im Badezimmer war klein, fast kaum groß genug für Maya. Es war ganz unmöglich zu entkommen, während sie an ihre Schwester gefesselt war.
Langsam schlüpfte sie vom Bett und stieß ihre Schwester an, damit sie mitkäme. Sara bewegte sich mechanisch, als ob sie vergessen hätte, wie sie ihre Gliedmaßen eigenständig verwenden müsste.
„Ich gebe dir eine Minute. Schließ nicht die Tür ab”, warnte Rais. „Solltest du es dennoch versuchen, dann trete ich sie ein.”
Maya ging voran und schloss die Tür zu dem winzigen Bad, das mit den beiden darin schon überfüllt war. Sie schaltete das Licht an - sie war sich ziemlich sicher, dass sie eine Kakerlake dabei sah, wie sie sich unter dem Waschbecken in Sicherheit brachte - und anschließend den Entlüfter, der laut über ihnen brummte.
„Ich werde nicht”, flüstere Sara fast sofort. „Ich gehe nicht ohne-”
Maya hielt sich schnell einen Finger an die Lippen, als Zeichen, dass sie still sein sollte. Es könnte gut sein, dass Rais an der anderen Seite der Tür stand und lauschte. Der ging keine Risiken ein.
Sie zog schnell den Kuli aus dem Bündchen ihrer Schlafanzughosen. Sie brauchte etwas, um darauf zu schreiben, doch es gab nur Toilettenpapier. Maya riss ein paar Stückchen ab und legte sie auf das kleine Waschbecken, doch jedes Mal, wenn sie mit dem Kuli darauf drückte, riss es ein. Sie versuchte es noch einmal, doch das Papier riss erneut.
Das ist sinnlos, dachte sie bitterlich. Der Duschvorhang würde ihr auch nichts bringen, er war nur