Frank Witzel

Revolution und Heimarbeit


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und dann wieder umgekehrt, obwohl das natürlich auch nicht ewig so weitergehe, denn dann wäre diese Bewegung wieder ein Zustand und damit entweder Qual oder bedeutungslos.

      Um diesen sich gegenseitig ablösenden Zuständen der Lähmung zu entkommen, habe der Mensch die Bilder erfunden, und mit dem Abgleichen dieser Bilder halte er sich auf Trab. Dabei übersehe er, daß das Denken in Dichotomien immer weitere Dichotomien erzeuge. Wenn man der Entfernung etwa als tieferen Sinn und Zweck eine Aufwertung zuschreibe, so erfahre sie damit gleichzeitig auch eine Abwertung, denn während er den jungen Mann, hier in der Nähe zufällig bei einer Feier getroffen, durchaus zu schätzen gewußt hätte, so erscheine ihm dieser selbe junge Mann im weitentfernten Arlington überbewertet.

      Befinde sich etwas in Griffnähe, sei es schon durch die Tatsache seiner Verfügbarkeit banalisiert. Der Griffnähe folge die Reichweite, und dieser wiederum schließe sich die Blickdistanz an. Der Alltag bestehe nun darin, diese drei Entfernungen in Bezug zu setzen. Der Mensch bastele sich etwa aus einem Stock in Griffnähe ein Werkzeug, um sich etwas zu angeln, das in Reichweite liege, oder um nach etwas zu werfen, das in Blickdistanz vorbeilaufe. Auf diese Art könne man ewig vor sich hinvegetieren, ohne daß eine großartige Kultur dabei entstehe, denn Werkzeuge seien noch kein Kennzeichen von Kultur, auch wenn dies immer wieder behauptet werde. Kultur entstehe vielmehr erst durch die Entdeckung des Horizonts. Der Horizont sei dabei nicht nur ein banaler Strich, mit dem sich Perspektive konstruieren lasse, sondern Demarkationslinie des metaphysischen Bewußtseins. Der Horizont erst mache ein Bewußtsein über Tod und Vergänglichkeit möglich, so daß sich Religion, Sehnsucht und Begierde alle gleichermaßen dem Horizont verdankten. Der Horizont schiebe sich durch das Gesichtsfeld und trenne in Ich und Du, denn erst durch ihn begreife man, daß Dinge an ihm auftauchten und gleichermaßen wieder hinter ihm verschwänden, ohne daß man sie fassen oder ihr Auftauchen und Verschwinden beeinflussen könne. Mit dieser Erkenntnis entwickele sich eine Art transhorizontales Wertesystem, das die ruhigen Tage der schönen Wilden ein für alle Mal beende. Von da an gehe es nur noch um Wertsteigerung und Monopolbildung. Um der Idee des Horizonts jedoch die für jede Idee nötige Selbsterhöhung und Transzendenz zu verleihen, werde der Horizont als erstes mit Verwaltungsgebäuden zugebaut und verborgen. Müsse man sich zum Beispiel erst in ein Flugzeug setzen, um den eigenen Horizont zu überwinden, so steige durch diese Überwindung der Wert des Angestrebten mit jeder Flugminute, obgleich sich dieser Wert aus der Überwindung der Bodenhaftung und nicht aus der Besonderheit des Entfernten herleite.

      Deshalb könne er nur empfehlen, sich von allen Hoffnungen, Wünschen und Illusionen freizumachen, gleichzeitig den Wert einer Sache, einer Information oder eines Menschen nicht nach der Entfernung dieser Sache, dieser Information oder dieses Menschen von sich selbst zu bewerten. Dies alles seien Fallgruben und nichts weiter. Habe man nämlich erst einmal eine Entfernung überwunden, müsse man sich fragen, woraus der durch das Überwinden der Entfernung erzielte Mehrwert denn tatsächlich bestehe, und ob es nicht nur ein illusorischer Mehrwert sei, der quasi allein in der Welt der Gedanken existiere und von dort aus die Welt der Realität künstlich und emotional auflade. Stelle man sich diese Frage einmal wirklich, besonders nach der vollzogenen Überwindung einer Entfernung, dann erfasse einen notgedrungen ein Gefühl der Resignation, ein Gefühl der Sinnlosigkeit, das einen ehrlicherweise dazu treiben müsse, dem erreichten Ort den Rücken zu kehren und sich wieder von ihm zu entfernen, wie man sich auch von Menschen immer wieder entfernen müsse, wenn man bemerke, daß die Beziehung zu diesen Menschen allein durch die zwischen einem selbst und diesen Menschen bestehende Entfernung emotional aufgeladen werde.

      Nur, wer schaffe es schon, kaum von Bord einer Maschine gestiegen, sich seinen Irrtum einzugestehen und noch im Flughafengebäude wieder umzukehren? Wem gelinge es, Paßkontrolle und allen Firlefanz zu verweigern, da dieser Firlefanz ohnehin nur existiere, um der Entfernung eine Wirklichkeit zu verleihen, die sie tatsächlich nicht besitze? Wer wage es, noch im Niemandsland des Flughafens einen Rückflug zu buchen und sich, quasi ohne das fremde Land mit einem Schritt betreten zu haben, auf den Heimweg zu machen? Er könne an dieser Stelle bequem auf seinen bereits gebuchten Rückflug verweisen und seine knappen Finanzen, die ihm eine solche Entscheidung einfach unmöglich gemacht hätten, aber er sei ehrlich genug zuzugeben, daß auch er nicht in der Lage gewesen sei, nach den acht Stunden Flug einfach wieder umzukehren, obwohl es im nachhinein betrachtet das Beste gewesen wäre und er lediglich mit dem Gleichen, in das er sich seit ungefähr sechs Wochen wieder eingefügt habe, eben zwei Wochen früher begonnen hätte, was wiederum nichts anderes bedeutet hätte, als daß er zwei Wochen früher allem überdrüssig geworden wäre, denn daß man allem überdrüssig werde, das stehe für ihn unumstößlich fest.

      Dem Überdruß sei glücklicherweise nirgendwo zu entkommen. Überdruß mache sich von Geburt an im Menschen breit, werde aber nur von den wenigsten als Geschenk des Himmels anerkannt und angenommen. Allgemein wehre man sich gegen jegliche Form des Überdrusses und lasse bei ersten Anzeichen von Überdruß umgehend die eigene Triebstruktur durchleuchten und sich mit entsprechender Medikation zu weiteren Höchstleistungen hochpeitschen. Anschließend wundere man sich über unvermittelt auftretende Krankheiten. Krebs zum Beispiel entstehe nur aus mangelndem Überdruß. Menschen, die einfach nicht überdrüssig werden wollten, bekämen Krebs, damit sie auf diese, zugegebenermaßen nicht gerade sanfte Art und Weise die hohe Kunst des Überdrusses erlernten. Wer sich jedoch selbst und aus freien Stücken dem Überdruß ausliefere, der habe das Leben durchschaut und erkannt und aus dieser Erkenntnis die nötige Konsequenz gezogen. Wer aber versuche, sich mit allen möglichen Tricks dem Überdruß zu entziehen, der züchte damit entsprechende Krankheiten und werde solange von Krankenhausbesuchen und Operationen gebeutelt, bis auch er endlich des Lebens überdrüssig sei.

      Daß man dies auch viel einfacher hätte haben können, begriffen allerdings die wenigsten. Krankheiten, die durch die Verleugnung des Überdrusses erst erzeugt würden, betrachte man als Betriebsunfall und Schicksalsschlag. Man spreche vom Kampf gegen die Krankheit, den jemand verloren habe und vom Wettlauf gegen die Zeit. Als Trost werde den Hinterbliebenen mitgeteilt, daß der Lebenswille des Betreffenden zu schwach gewesen sei, wo der Tod doch ein einwandfreier Beweis für die Stärke und das Funktionieren des Lebenswillens sei. Der Lebenswille treibe den Menschen doch nur deshalb an, alles in sich hineinzustopfen und keine Minute ruhig auf seinem Hintern sitzenzubleiben, weil er die Aufgabe habe, den Menschen so schnell wie möglich seinem Ende zuzutreiben. Denn der Mensch sei nicht auf der Erde, um Platz wegzunehmen, sondern um Platz zu machen. Verbohrt wie jedoch manche Menschen seien, weigerten sie sich, die Lehren des Lebenswillens anzunehmen. Solange sich noch ein weißer Fleck auf ihrer Weltkarte befinde, werde die nächste Reise gebucht. Solange noch irgendein gleich- oder gegengeschlechtliches Wesen herumhumple, mit dem man noch nicht ins Bett gestiegen sei, gehe der Wahnsinn weiter. Was diesen Menschen fehle, sei das Abstraktionsvermögen, und vor mangelndem Abstraktionsvermögen müsse jeder noch so starke Lebenswille kapitulieren. Wer Feinheiten zwischen Klimazonen und Unterschiede in Hautstrukturen herausarbeiten wolle, dem sei eben nicht zu helfen. Da gebe der Lebenswille die Stafette weiter an die Krankheit, damit die den Betreffenden glattbügle. Dabei solle man sich nicht von der gesellschaftlich allgemein üblichen Fehlinterpretation des Lebenswillens verwirren lassen, die das Besteigen eines Achttausenders mit künstlicher Hüfte und tragbarem Dialysegerät beklatsche, denn auch hier gehe es nicht um Lebenssinn, Selbstverwirklichung oder am Ende sogar Lebensfreude, sondern allein darum, daß es auch diesen Unbelehrbaren endlich zum Hals herauskomme.

      Das Verhalten des Menschen sei nun einmal reflexhaft und könne nichts ertragen, was sich außerhalb dieser vom Lebenswillen konditionierten Reflexe befinde. Zu diesen Reflexen gehöre unter anderem auch das beständige Abgleichen von Bildern. Ohne Bilder, das wäre im übrigen durchaus eine Untersuchung wert, ohne Bilder könne man aber überhaupt erst zum Denken kommen. Aber gerade das wolle man nicht, weil das Denken dann noch mehr Unannehmlichkeiten mit sich bringe als Annehmlichkeiten.

      Ursprünglich habe sich das Denken aus der Angst entwickelt, den Hals nicht voll genug zu kriegen, weshalb sich das Gehirn auch sinnvollerweise gleich in der Nähe der Kauwerkzeuge als eine Art Geschwulst aufgepfropft habe. Dann jedoch sei der Kopf immer schwerer geworden und habe durch eine Verfeinerung der Sinne genau das verhindert, was er ursprünglich habe befördern wollen. Nicht länger habe er alles wahllos in sich hineinstopfen können, sondern habe das Hineinzustopfende zuvor begutachtet und analysiert,