Frank Witzel

Revolution und Heimarbeit


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sondern habe diese Entscheidung immer mehr an den Kopf abgetreten, der von dieser Entscheidung schlicht und einfach überfordert gewesen sei, denn während für den Darm alles gleich aussehe, sehe für den Kopf alles anders aus, und da der Kopf nicht genügend abstrahieren könne, werde er durch die scheinbaren Unterschiede verwirrt und entwickle das Gefühl des Ekels und im Schlepptau des Ekels eine Art Gesundheitslehre.

      Wenn man sich jedoch beständig fragen müsse, und darin bestehe nun einmal das Denken, sich beständig fragen zu müssen, warum man dies oder jenes tue, oder dies oder jenes unterlasse, dann werde man seines Lebens nicht mehr froh. Man könne dann nicht einfach einen Flug buchen und nach New York oder Los Angeles oder zu den Pyramiden fahren, weil man sich gleichzeitig fragen würde, warum man überhaupt auf den Gedanken gekommen sei, nach New York oder Los Angeles oder zu den Pyramiden zu fahren. Wenn man dann innehalte, etwa auf dem Weg zum Reisebüro innehalte und einen kleinen Umweg gehe durch einige Straßen, um die Idee einer Reise und die Ziele dieser Reise noch einmal grundsätzlich zu überdenken, dann komme man schon bald darauf, daß es sich um ein Abgleichen von Bildern handele, daß man ein Opfer der Bilder geworden sei, die einem andere präsentierten und daß man es einfach nicht mehr aushalte, sich nur innerhalb von Bildern zu bewegen, weshalb man wenigstens einen Teil dieser Bilder abgleichen und damit ad acta legen wolle, um sich dem wirklichen Leben zuzuwenden, denn darin bestehe die Hoffnung des Abgleichens von Bildern, daß man sich nach diesem Abgleichen dem richtigen Leben zuwenden könne, was natürlich ein grundlegender Irrtum sei.

      Deshalb stecke, wenn man einmal den ganzen kulturellen und historischen Ballast mit seinen fürchterlichen Ergebnissen und seiner Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen für einen Moment beiseite lasse, eine grundlegende und überhaupt nicht zu überschätzende Wahrheit in dem christlichen Gebot, sich kein Bildnis zu machen, das nicht umsonst gleich hinter der Konstatierung von Existenz und Einzigartigkeit Gottes komme und damit allein die Daßheit als Kategorie belasse und die Washeit verwerfe. Denn erst, wenn man sich wirklich kein Bildnis mache, könne man anfangen zu denken. Denn wenn man sich ein Bildnis mache, dann sei das Denken immer nur ein Abgleichen mit diesem Bildnis. Man laufe durch die Welt wie ein Zombie und gleiche Bilder ab. Ideologien seien zum Beispiel solche Bilder. Überhaupt seien sämtliche Vorstellungen solche Bilder. Hoffnungen und Wünsche: allesamt Bilder. Und wie selbstverständlich solche Bilder seien, sehe man schon daran, daß jeder jederzeit nach seinen Bildern befragt werde. Jeder werde jederzeit danach gefragt, wie er sich denn die Zukunft oder sein Leben vorstelle. Schon als Kind werde man gefragt, was man einmal werden wolle, und damit fange der ganze Schwindel an, genau mit dieser Frage. Man frage ein unwissendes Kind, was es einmal werden wolle, und dann sage dieses unwissende Kind etwas und werde sich nun sein gesamtes Leben an dem messen lassen müssen, was es als unwissendes Kind dahergesagt habe, obwohl man doch genau wisse, zumindest genau wissen müsse, daß das Kind einfach nur das nachplappere, was ihm Erwachsene einmal vorgeplappert hätten, weil Erwachsene natürlich schon längst bis zur Halskrause mit Bildern angefüllt seien und nichts besseres zu tun hätten, als diese Bilder an Kinder weiterzugeben.

      So sei das Abspulen von Vorstellungen und Bildern, überhaupt das Abspulen von Meinungen und Wünschen, nichts weiter als ein Dressurakt. Und je besser einer dressiert sei, desto genauere Vorstellungen habe er von der Welt und seinem Leben und der Liebe, bis hin zur Haarfarbe des Liebespartners. Und gerade an diesem Beispiel, daß er so naiv nur von Haarfarbe spreche, könne man sehen, welcher Generation er angehöre, denn heute könne man von allem sprechen, vom Brustumfang, von der Konsistenz der Haut, der Fülle der Lippen, der Länge der Oberschenkel, von allem könne man sprechen, da alles veränderbar und mit den Bildern abgleichbar sei.

      Chirurgen und Ärzte seien immer mehr dazu da, Bilder abzugleichen. Damit aber verleihe man diesen Bildern eine unvorstellbare Macht. Man könne sich gar nicht mehr vorstellen, welche Macht die Bilder bekämen, gerade weil der Mensch immer mehr Möglichkeiten entwickele, sich diesen Bildern anzupassen, weil er nicht mehr allein darauf beschränkt bleibe, die Bilder in seinem Kopf abzugleichen, sondern weil er mittlerweile die Möglichkeiten besitze, selbst Hand anzulegen oder Hand anlegen und einen körperlichen Abgleich vornehmen zu lassen.

      Habe man vor einigen Jahren noch sagen können, diese Bilder seien nur Phantasien oder Wahngebilde, so könne man das heute leider nicht mehr sagen, weil diese Phantasien und Wahngebilde tagtäglich umgesetzt würden. Und wenn einmal eine Phantasie und Wahnvorstellung umgesetzt werde, dann zementiere diese Umsetzung natürlich die vorhandenen Bilder. Wie solle man in der Welt der umgesetzten Bilder noch der Vorstellung entkommen, es handele sich gar nicht mehr um Bilder, sondern um Realität? Wie könne man den einmal in Gang gesetzten Kreislauf von Bild und Umsetzung des Bildes und dadurch Zementierung des Bildes durchschauen oder gar durchbrechen?

      Es sei doch wohl nicht übertrieben, die medizinischen Experimente der Nazis mit dem zu vergleichen, was heute auf den Operationstischen der Schönheitschirurgen stattfinde. Und wenn die Naziärzte noch herausfinden wollten, wieviel Kalk man in eine offene Wunde schmieren könne, bis der Patient draufgehe, so versuchten die Schönheitschirurgen heute eben herauszufinden, wieviel Kochsalzpolster in eine Brust hineinpaßten, bevor die Haut brüchig werde und reiße. Der Unterschied aber liege allein darin, daß diese Eingriffe und Menschenexperimente, daß dieses Arbeitslager nicht mehr von außen aufgezwungen werde, sondern von innen gewollt sei, und dies habe seinen Grund in den Bildern, vielmehr in dem Kreislauf zwischen dem Bild und dessen Abgleichung, weshalb man das Bilderverbot gar nicht überbewerten könne. Wenn man den ganzen christlichen Ballast einmal beiseite lasse, liege in diesem Bilderverbot durchaus eine Chance, wobei er diese Chance nicht wirklich sehe, wenn man sich einmal anschaue, wie man gerade in den Religionen an Bildern klebe und immer wieder Bilder verwirklicht sehen wolle.

      Der Papst werde gerade deshalb so gefeiert, weil er immer mehr zu dem Bild werde, das man von einem Heiligen, am Ende von Gott selbst habe. Der Papst sei nichts anderes als ein fleischgewordenes Heiligenbildchen. Der Papst halte in seiner Person einen Moment fest, und das müsse einem erst einmal gelingen, denn was sei schwieriger, als die Zeit selbst zu verkörpern und nicht die Zeit sich verkörpern zu lassen in einer geistigen Sturheit, die einen dazu bringe, wie ein Zombie durch die Welt zu laufen und Bilder abzugleichen. Die Kindheit sei nur deshalb dieser einfältige Hort des Glücks, weil das Kind keine Bilder besitze. Die Dummheit des Kindes, seine Unerfahrenheit, sei in Wirklichkeit ein nicht zu überschätzender Vorteil, da allein das Kind keine Bilder besitze, weshalb man es für dumm halte und unerfahren. Erfahrung aber bedeute nichts anderes als eine möglichst große Fülle von Bildern abgeglichen zu haben, weshalb es für ihn furchtbar mitanzusehen sei, wie Kinder älter würden, überhaupt wie Kinder erzogen würden. Dieser Dressurakt, wie man ihnen erst Bilder einbleue, um sie anschließend dazu zu bringen, diese Bilder abzugleichen, das mache ihn wütend und hilflos. Dieses System der Belohnung, das dem Kind für jedes reproduzierte Bild ein Lob zuspreche, lasse ihn immer wieder an dem System einer Kultur zweifeln. Nicht umsonst brauche das Kind Jahre, um eine Bildergalerie eingetrichtert zu bekommen. Tausende von Wochen seien nötig, das Kind soweit zu bringen, daß es nicht mehr bilderlos denken könne und eine Bildergalerie herangebildet habe, die es dann selbst als Ich bezeichne. Erschreckend sei der Moment, in dem ein Kind zum ersten Mal auf sich deute und Ich sage, und wenn Eltern diesen Moment auch beklatschten, so komme es ihm so vor, als zeige das Kind, indem es Ich sage und auf sich deute, in Wirklichkeit zum ersten Mal auf etwas anderes. Das Kind deute auf etwas Fremdes. Nach Jahren und Tausenden von Wochen sei es sich endlich fremd geworden und könne dieses Fremde mit dem allgemein verbreiteten Begriff für das Fremde, nämlich Ich, bezeichnen, was die Eltern entsprechend belohnten. Nun sei das Kind endlich Teil der entfremdeten Kultur des Bildabgleichens. Jetzt sei es endlich soweit, mit einem Fähnchen in der Hand dem Papst zuzujubeln, denn der Papst sei der Prototyp eines Menschen, der schon zu Lebzeiten zum Bild geworden sei und seit Jahrzehnten den Moment verkörpere, in welchem der Heilige und Märtyrer von den Löwen zerrissen werde. Der Papst sei ein gefrorener Augenblick. Dieser Papst sei ein wandelnder Leichnam, schon seit Jahrzehnten. Er werde herumgefahren wie eine Reliquie, er hänge auf seinem Stuhl wie eine Marionette, der die Fäden abgeschnitten worden seien, und wenn man auch von außen über diese Marionette den Kopf schütteln könne, so verkörpere diese Marionette für viele ein derart mächtiges Bild, daß sie an diesem Bild ihre gesamte Existenz ausrichteten.

      Der Papst gleiche das Bild einer ganzen Ideologie ab, das Bild des