Frank Witzel

Revolution und Heimarbeit


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Meinst du, ich hab einen Dukatenscheißer bei mir in der Garage stehen? Und jetzt raus, ich hab zu tun. Danke, Opa. Dabei wären ihm die paar Kröten wesentlich billiger gekommen als zwei zerkratzte Seitentüren an seiner liebevoll aufpolierten Nuckelpinne. Aber egal. Tannys Opa war also auch nicht alt, konnte sich aber nicht richtig wehren. Anstatt sich in seinem Hühnerstall zu verbarrikadieren, marschierte er einfach ins Gefängnis. Wahrscheinlich hoffte er, daß sie ihn laufen lassen, wenn er keine Schwierigkeiten macht. Das ist ein Fehlschluß, den viele draufhaben. Ich bin ganz ruhig, dann tut man mir nichts. Weißt du, wann sie dir wirklich nichts tun? Dann, wenn du ständig deine Klappe aufreißt und überall gleich herumschreist. Da sind sie nämlich froh, wenn sie dich in Ruhe lassen dürfen, das kannst du mir glauben. Das ist vielleicht nicht ganz die feine und angenehme Art, wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflußt, aber es wirkt.

      Tannys Opa saß nicht mal zwei Wochen ab. Dann war er nämlich tot. Sie konnten ihn noch nicht mal mehr raus nach Kompong Chhang schicken. Und das wurmte die irgendwie. Diese ganzen Militärdiktaturen, die haben schließlich auch was vor mit den Leuten. So krank deren Hirne auch sein mögen, irgendetwas planen die immer. Und wenn dann einfach einer zu früh abtritt, ich meine bevor er seinen Zweck erfüllt hat, das sehen die gar nicht gern. Also gingen sie zur Familie von Tannys Mutter oder zu dem, was noch von der Familie übrig war. Wenn die erst einmal eine Adresse haben, dann kommen die jede Woche vorbei. Egal, was du machst oder nicht machst. Sie haben die Adresse, also schaun sie mal nach. Und dann mußte Tannys Mutter ran, weil sie die einzige war, der man zutraute, überhaupt noch eine Schaufel halten zu können. Ihre Geschwister waren noch zu klein. Was nicht heißt, daß da keine Kinder mitgemacht hätten. Aber nicht ganz kleine Kinder, die gleich umfallen oder den anderen zwischen den Beinen herumlaufen und schreien. Achtzehn Stunden am Tag mußten die unter Tage schaufeln. Zweimal am Tag gab es eine Schale Reiswasser.

      Was um alles in der Welt ist Reiswasser? habe ich Tanny ganz naiv gefragt.

      Wie Reiswasser? Das Wasser, in dem Reis gekocht wird.

      Das, was man normalerweise wegschüttet?

      Ja, aber man muß es nicht wegschütten. Man kann auch eine Suppe daraus machen. Reiswasser ist nahrhaft.

      Nahrhaft? Ich fragte mich, ob sie etwa ernsthaft diese durchgeknallten Kungfuheinis verteidigen wollte, und wurde beinahe sauer. Aber es war ein Mißverständnis. Tanny wollte, glaube ich, nur ihre Kultur verteidigen. Das wäre in etwa so, wie wenn mir jemand erzählen würde, daß amerikanische Soldaten in irgendeinem Land, in dem sie stationiert sind, Milky Ways oder Snickers oder Three Musketeers oder Forever Yours oder was weiß ich auf verminte Felder geworfen hätten, um die Kinder anzulocken, die dann auf ihre ganz persönliche Art die Bomben entschärfen, na ja, und ich würde nur sagen, aber Milky Way schmeckt doch wirklich nicht schlecht und Three Musketeers auch nicht. So war das mit der Bemerkung über das Reiswasser von Tanny, denke ich. Ansonsten kann sie da doch nicht wirklich irgendwas dran finden, bei aller Heimatliebe oder was das sein mag.

      Ich hatte vorher überhaupt keine Ahnung, was sich da abgespielt hat. Wer abzuhauen versuchte, der wurde totgeprügelt. Wenn du vor Erschöpfung eingeschlafen bist: totgeprügelt. Wenn du krank wurdest und nicht mehr weiterarbeiten konntest: totgeprügelt. Selbst wenn du nur ein Wort zu jemandem gesagt hast: totgeprügelt. Wirklich nicht sehr einfallsreich. Eher hirnlos. Aber daß dieser Garry Jesus Glitter mal darüber ein Wort im Fernsehen verliert, das kannst du vergessen. Daß überhaupt mal jemand ein Wort darüber verliert. Na ja, was rege ich mich auf.

      Es ist natürlich Quatsch, da von Liebe zu reden. Ich meine jetzt Tannys Mutter und den Chinesen. Obwohl mir das schon manchmal zu schaffen macht. Meistens dann, wenn ich ohnehin ziemlich fertig bin und durchhänge. Wenn wir nichts Richtiges im Haus haben oder ich den ganzen Tag allein rumhängen muß, weil Tanny von irgendeiner Probe nicht heimkommt. Da fällt mir das schon ein. Natürlich ist mir Tannys Mutter egal, um die geht es nicht. Aber ich denke dann, wenn man das so mitkriegt vielleicht, wenn man sogar aus so einem Verhältnis entstanden ist, wer weiß, kann doch sein, daß das abfärbt. Die Liebe einfach so einzusetzen. Obwohl es ja nicht Liebe war. Darum ging es auch gar nicht. Es ging darum, das nackte Leben zu retten und um nichts anderes. Und was weiß ich denn, was sich meine Alten gedacht haben, ich meine, warum die zusammengekommen sind und mich, ihren einzigen Sohn, gezeugt haben. Und bei mir und Tanny liegt der Fall sowieso vollkommen anders.

      Besonders in den letzten Monaten lag der Fall vollkommen anders. Da brachte sie nämlich das Geld heim. Da hätte man eher mir so was unterstellen können, ich meine, berechnend zu sein oder eben wegen Geld bei ihr zu wohnen. Das sind nur so Ideen, die dir dann doch manchmal kommen, wenn es gerade nichts zu tun gibt und du nur Zuhause rumhängst und dir dann noch diesen Müll anschauen mußt. Obwohl ich es genauso gemacht hätte an ihrer Stelle, ich meine jetzt Tannys Mutter. Deinen Vater haben sie um die Ecke gebracht, deine kleinen Geschwister können nur drauf warten, daß sie auch ran müssen, und dann läufst du völlig kaputt am Abend zu irgendeiner Baracke, wenn’s sowas dort überhaupt gab, wahrscheinlich eher nicht, aber du läufst irgendwohin, um dich hinzulegen, und da stehen dann die feinen Pinkel mit den weißen Kragen. Wenn du da merkst, daß da einer ein Auge auf dich geworfen hat: besser gleich zugreifen und was draus machen.

      Kurz vor Weihnachten ’78 hat Tannys Mutter dort angefangen zu arbeiten. Da gab es von den 50.000 Arbeitern, die da vor zwei Jahren begonnen hatten, noch knapp 3000. Das darf man sich also nicht zu einfach vorstellen. Für so etwas brauchst du Mut. Du mußt alles auf eine Karte setzen. Wenn sie dich totprügeln, weil du nur irgendein Wort gesagt hast, was passiert dann erst, wenn du dich an einen Weißkragen ranmachst? Außerdem weißt du nicht, an wen du da gerätst. Der nimmt dich mal kurz ran und dann verpfeift er dich, weil ihm das am wenigsten Arbeit macht.

      Aber Tannys Mutter war geschickt. Sie hatte ein gutes Auge, und vor allem, glaube ich zumindest, hatte sie die richtige Mischung drauf. Du kannst nicht die Initiative ergreifen, nicht als absoluter Underdog, der sich da übermüdet und stinkend aus der Grube schleppt, aber du kannst ihm umgekehrt auch nicht ganz allein die Initiative überlassen, sonst überwiegen da am Ende doch nur die Bedenken. Aber ein Blick. Ein Blinzeln. Manchmal entscheidet ein Blinzeln über Leben und Tod, das kennt man doch schon aus dem Verkehrsfunk.

      Dann kam Neujahr und der Ingenieur nahm sie mit sich in sein Appartement oder seine Baracke, und sie schliefen miteinander und zeugten wahrscheinlich gleich dort beim ersten Mal Tanny. Dann, am 4. Januar, und da hatte Tannys Mutter wahrscheinlich wirklich Schwein, kam das Ende. Man hatte Wind davon bekommen, daß die Vietnamesen einen Angriff auf den Flughafen planten. Weil, die sind auch nicht blöd. Die sitzen doch nicht da und warten seelenruhig ab, bis die anderen ihr gigantisches Rollfeld fertig haben, auf dem sie dann in ihre Kampfbomber steigen, um alles abzuknallen, was ihnen vor die Flinte kommt. Bevor die Vietnamesen auch nur einen Finger rühren konnten, wurden die Funktionäre der Roten Khmer nach Thailand ausgeflogen. Im Schlepptau die chinesischen Ingenieure. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie sich irgendwas für den Flug oder die Zeit danach ausrechneten, konnten auch ein paar Frauen mit, darunter Tannys Mutter. Während die Bosse abzwitscherten, setzten die Militärs die Tunnelanlage unter Wasser. Dabei gingen schon mal eine ganze Menge der Arbeiter drauf, die da unten noch rummachten und es nicht rechtzeitig schafften, durch eins der Löcher nach oben zu kriechen. Obwohl es da oben auch nicht besser aussah. Oben wurden die restlichen Arbeiter nämlich wie Vieh zusammengetrieben und an Bambusstöcke gebunden. Wenn du so einen Bambusstock auf dem Rücken zwischen dir und einem Dutzend anderer Gestalten hast, weißt du bald nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist. Vor allem kannst du dich nicht richtig bewegen. In Hundertergruppen ging es dann kilometerweit vom Rollfeld zu einer Bahnstrecke, wo schon eine abgetakelte Lok und ein Viehwaggon auf die Militärs warteten. Doch die hatten vorher noch was zu erledigen. Natürlich hatten sich schon auf dem Weg viele die Knochen gebrochen. Wer nicht mehr weiter konnte, den schleppten die anderen, die mit ihm an den Bambus gekettet waren, noch ein Stück mit. Wenn es aber zwei oder drei wurden, die zusammenbrachen, dann schafften das die andern nicht mehr. Sie fielen auf die Straße und wurden abgeknallt.

      Wer bis zu den Gleisen kam, mußte sich an den Rand einer Grube stellen, die man in der Zwischenzeit mit ein paar Baggern ausgehoben hatte. Auf der anderen Seite postierten sich die Wachmänner mit ihren Knarren. Dann kamen die Bulldozer und trieben die Arbeiter in die Gruben. Zu hunderten stürzten