Frank Witzel

Revolution und Heimarbeit


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jeden Tag aufs neue. Auf diese Art erliege man nicht länger den Illusionen über den Sinn des Lebens und die Entwicklung des Menschen und die Notwendigkeit der Revolution. Dies alles sei insgesamt Unsinn und werde nur noch von einfältigen Geistern hervorgebracht, die sich an ihre Illusionen und Notwendigkeiten klammerten, gleichzeitig genauso wie alle anderen unter dem Joch der Ausbeutung gebückt gingen, ob nun in der Fabrik oder in Heimarbeit, und den Feierabend und die Reise in die Ferien herbeisehnten, um Bilder abzugleichen und sich damit am Leben zu erhalten. Das, was man in der Wissenschaft nämlich unter Regenerationsfähigkeit des menschlichen Körpers verstehe, sei in Wirklichkeit nichts anderes als ein erneutes Abgleichen von Bildern. Die Regenerationsfähigkeit des menschlichen Körpers bestehe darin, sich nach überstandener Arbeitszeit unter dem Joch der Ausbeutung zurückzuziehen und mühsam und oft nur mit Hilfe eines halben Kasten Bieres wieder ein Bild abzugleichen, nämlich das Bild, das der Mensch sich von seinem Leben gemacht habe, und das ihm irgendwie abhanden gekommen sei und das er deshalb wieder herstelle nach Feierabend und im Urlaub. Dann sage er sich, daß es eigentlich ein anderer sei, der da tagsüber unter dem Joch der Ausbeutung einhergehe und daß er sich eines Tages von dem Joch befreien werde oder wenn nicht er, dann eben seine Kinder, oder wenn er keine Kinder habe, dann eben alle, die nach ihm kämen, aber solange es eben noch nicht so sei, pelle er die Wurst wie alle anderen, schlage mit dem Feuerzeug den Kronkorken vom Bier und rede nicht von Revolution und Ausbeutung und Heimarbeit, sondern von Dingen, da das Reden von Dingen umgehend Vertrauen erwecke, denn wenn ein Mensch immer nur Dinge herstelle und sich durch Dinge bestimme, dann könne er auch nach Feierabend nur noch über Dinge reden, und selbst wenn er nicht über Dinge rede, sondern über Ausbeutung oder Revolution, so spreche er davon, als handele es sich dabei um Dinge. Deshalb scheitere auch alles, weil man über alles nur wie über Dinge rede. Veränderungen gebe es deshalb schon lange nicht mehr, denn die Veränderungen seien zu Dingen verkommen, sie seien zu Eingaben und Präambeln verkommen und diejenigen, die diese Eingaben und Präambeln einreichten, meinten tatsächlich, sie bewegten sich, aber dies seien alles Scheinbewegungen. So wie ein Sarg in ein Grab gesenkt werde, das sei schließlich auch eine Bewegung, so sei das mit den Eingaben und mit den Präambeln.

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      Viele Leute meinen, daß man erstickt, wenn man von einer Würgeschlange angefallen wird, aber das ist kompletter Schwachsinn. Würgeschlangen töten ihre Opfer, indem sie ihnen die Blutgefäße zerquetschen. Manchmal drücken sie ihnen selbst das Herz aus dem Leib. Ich hatte blöderweise nicht den blassesten Schimmer, daß die wirklich großen Schlangen alle Weibchen sind. Anaconda hätte ich mich ohnehin nie genannt, aber Python, warum nicht? Der Name klingt doch nach was. Eine Mischung aus abgefeimtem Messerstecher und uraltem Bluesgitarrist, der noch kurz vor seinem Tod irgendwo im Süden von Ry Cooder entdeckt und ganz groß rausgebracht wird. Titeltrack: Venom of Love. Aber nichts zu machen, auch bei der Python genau dasselbe, es sind immer nur die Weibchen, die so richtig fett werden.

      Also blieb es einfach bei Snake. Hört sich vielleicht einfallslos an, aber das ist mir egal. Jeder braucht irgendein Markenzeichen, und außerdem haben sie mich schon immer so genannt. Schon in der Schule. Wahrscheinlich muß man einfach das nehmen, was man ohnehin schon hat. Und die Tätowierung, die hab ich nun mal seit ich fünfzehn bin.

      Wenn die Anacondas sich paaren, dann hängen da gut ein Dutzend Männchen am Hinterteil eines Weibchens. Winzige Kerlchen, die sich winden und schlängeln und wahnsinnig abmühen. Kommt mir bekannt vor. Sehr bekannt sogar. 50.000 Dollar bekommst du, wenn du dem Zoo in der Bronx eine lebende Schlange liefern kannst, die mindestens 9 Meter lang ist. Der Rekord liegt bei 7 Meter 60 bisher. Das ist eine Python, die schon zum Frühstück 40-Pfund-Ferkel verdrückt.

      Fast sieben Monate ging es uns blendend. Wirklich. Wir wußten nicht wohin mit dem Geld. Dann fing dieser komische Prediger an, über Tanny herzuziehen. Ich dachte, ich hör nicht recht, vielmehr ich traue meinen Augen nicht, denn es kam natürlich im Fernsehen. Selbst haben diese Gesellen allen möglichen Dreck am Stecken, verführen die Frauen und Töchter ihrer beschränkten Anhänger, kassieren das Geld für die vorgeschobenen wohltätigen Zwecke selbst ein, um ihren Crack-Konsum zu finanzieren und sich die Glitzer-Liberace-Anzüge gleich dutzendweise in den Schrank zu hängen, aber anstatt sich dann wenigstens schön ruhig und brav zu verhalten und einen frommen Bibelvers über den Äther zu schicken, sind diese Heinis einfach nicht glücklich, wenn sie sich nicht irgendeinen Unschuldigen rausgreifen und öffentlich anprangern können. Das ist wie in der Schule. Einer wird rausgegriffen und muß nach vorn. Die anderen tauchen hinter ihren Büchern weg.

      Mit dem Fernsehen ist es sogar noch bequemer, weil da immer noch die Trennscheibe dazwischen ist. Du brauchst dir noch nicht mal die Chipstüte vors Gesicht zu halten, sondern kannst ganz ungeniert hinstarren. Mal sehen, wer heute wieder der Verdammnis geweiht und den reinigenden Flammen übergeben wird. Natürlich alles bildlich. Rauch und Schwefel werden im Schneideraum dazugemixt. Trotzdem, ich denke mir, daß die ganz schön am Ende sein müssen, wenn sie sich jetzt schon an Tang-Li ranmachen. Gibt es denn nicht wirkliche Teufel da draußen? Irgendwelche durchgeknallten Massenmörder? Aber mit Massenmördern kannst du niemand mehr hinterm Ofen hervorlocken. Das Böse muß in den eigenen Reihen sitzen, im eigenen Wohnzimmer, zwischen dir und deinem Schwager, der jetzt schon seit über drei Jahren keine Arbeit hat, zusammen mit dir vor der Glotze. Das macht was her. Ein Verrückter, der ist zu weit weg, der ist zu fremd, der bringt dich nicht dazu, den Herrn anzuflehen und einen gehörigen Betrag von deinem Konto abbuchen zu lassen.

      Tang-Li ist Schauspielerin und kommt aus Kompong Chhang. Kompong Chhang, falls das jemand nicht wissen sollte, ich wußte es, ehrlich gesagt, bis vor einigen Monaten auch nicht, liegt in Kambodscha, ungefähr hundert Kilometer entfernt von Phnom Penh. Ihr Name klingt chinesisch, und er ist auch chinesisch. Das kommt daher, weil ihr Vater Chinese ist. Ein Ingenieur, der Ende der Siebziger nach Kompong Chhang kam, um den roten Khmer bei dem Bau ihres riesigen Flughafens zu helfen, diesem gigantischen Ding, von dem aus sie die Welt erobern wollten. Kann ich verstehen. Wer möchte nicht mal die Welt erobern? Nur, was hast du davon, wenn du’s nicht allein fertig kriegst, sondern irgendein idiotisches Volk hinter dir herschleppen mußt? Ein gigantisches Unternehmen, wenn das alles so stimmt, was Tanny mir erzählt hat.

      Die Chinesen haben mitgemacht, weil sie von dort aus den Vietnamesen eins überziehen wollten. Und das ganze war nicht einfach ein Flugplatz, so wie Kennedy-Airport, nur eben ein bißchen popeliger und mit den komischen Zeichen an den Läden, aber eben sonst mit allem, was so ein Flugplatz braucht: Aussichtsplattform, große Hallen, Förderbänder und so weiter, nein, das war etwas völlig anderes. Aus der Luft sah man nur einen riesigen Platz, den sie in den Dschungel reinplaniert und zubetoniert hatten. Alles andere befand sich unter der Erde. Ein richtiges Labyrinth, verzweigte Tunnels, hunderte von Metern lang, die zu den verschiedensten Räumen und Kammern führten. Man kann sich kaum vorstellen, wie sie das alles geschafft haben, so praktisch aus dem Nichts, aber sie haben es geschafft.

      Während Tannys Vater einen auf Herr Ingenieur machte, mit weißem Kragen und Wohnung mit Aircondition, obwohl er in China selbst kein großes Licht war, mußte Tannys Mutter unten mitgraben. Ihr Vater, also Tannys Großvater, war wegen irgendeiner Kleinigkeit verhaftet worden. Keine Ahnung, was das war. Vielleicht hatte er einen schlechten Witz erzählt oder irgendwas gemacht, was den roten Khmer nicht gefallen hat, ohne Erlaubnis Gurken angebaut oder keine Baugenehmigung für seinen Hühnerstall eingeholt, was weiß ich. Wenn solche Regierungen erst einmal schlecht drauf sind, dann kannst du machen, was du willst. Das ist dann wie beim Militär, wenn sie dich da erst einmal auf dem Kieker haben, da bleibt dir am Ende nichts anderes mehr übrig als dir selbst den Kopf wegzupusten. Oder eben einem anderen den Kopf wegzupusten. Dann erst lassen sie dich in Ruhe. Sie stecken dich in eine Einzelzelle und schauen alle halbe Stunde durch ein Guckloch zu dir rein, um zu sehen, ob du schon am Fensterkreuz hängst oder ein paar Gabeln verschluckt hast, um hops zu gehen. Aber wozu noch hopsgehen, wenn du endlich deine Ruhe hast? Ich würde es ohnehin ganz anders anstellen. An Waffen kommt man dort doch mit Leichtigkeit, und wenn ich mich erstmal in einer Baracke verschanzt hätte, da könnten die da draußen lange warten.

      Tannys Opa hatte allem Anschein nach keinen blassen Schimmer über das, was in seinem Land und da draußen im Dschungel vor sich ging. Dabei war der noch nicht mal besonders alt. Opas sind nur in Filmen alt. Im wirklichen Leben sind sie gerade mal fünfzig und kümmern sich