L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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leiser Stimme an Raphael. »Hat er Gaben?«

      Raphael sah kurz in die Richtung, in der Rebecca verschwunden war, trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Luzifer, ich habe dir schon zuvor erklärt, dass das nicht zur Diskussion steht.«

      »Sicher hast du dich auch schon gefragt, ob dein Sohn dieselben Gaben besitzt wie wir.« Luzifer setzte sich auf die Bettkante. Seine schlanken Finger strichen über Jeremiels Gesicht. »Er hat das Aussehen eines Engels.«

      »Seine Gaben sind mir nicht wichtig.«

      »Das sollten sie aber.«

      »Ich sehe nicht ein, weshalb.«

      »Denk nur daran, was es bedeuten würde, wenn er welche hätte. Halb Mensch, halb Engel. Er könnte ein Gott unter den Menschen sein.«

      Raphaels Nasenflügel weiteten sich. »Ich werde meinen Sohn dazu erziehen, alle als seinesgleichen zu achten.«

      »Du bist ein Narr, Raphael. Wenn dein Sohn die Gaben der Engel hat, bedeutet das, dass andere Nachkommen von dir sie auch haben können. Stell dir das mal vor. Mit deinen Söhnen an deiner Seite könntest du ein Heer aufstellen, das unbesiegbar wäre.«

      Raphael knirschte mit den Zähnen. »Du vergisst dich, Luzifer.«

      »Vergib mir. Ich meinte, kein menschliches Heer. Wenn du dir wegen der anderen Erzengel Sorgen machst – darüber musst du dir keine Gedanken machen. Sie hätten schon längst etwas unternommen.«

      »Im Himmel ist erst wenig Zeit verstrichen – erst Tage, seitdem wir fortgegangen sind. Du weißt, dass die Zeit dort langsamer verstreicht.«

      »Ja, ja.« Luzifer winkte ab. »Wenn unser Verschwinden ein Problem wäre, hätte Michael in dem Moment etwas dagegen unternommen, in dem wir ohne seine Erlaubnis fortgegangen sind. Und selbst jetzt, wo Uriel durch die Gegend zieht und, wie es scheint, die Hälfte der weiblichen Bevölkerung der Erde schwängert, würde man eigentlich mit einem Eingreifen irgendeiner Art rechnen.«

      Rachels Gesicht blitzte in Raphaels Gedanken auf. Er fühlte einen Schmerz in der Brust, als vor ihm das Bild aufstieg, wie sie von der Brücke aus nach Uriel Ausschau hielt. Uriel war selbstsüchtig und verdiente ihre Liebe nicht. Dann wiederum – er war es auch.

      »Diese Frauen und ihre Kinder, sind sie – ?« Raphael konnte nicht leugnen, dass er neugierig war. Jeremiel war noch klein, aber an ihm zeigten sich bereits die Gaben, die auch Engel besaßen. Er war stärker als andere Kinder seines Alters, größer, schneller – und bei der Geschwindigkeit, mit der er wuchs, würde er noch vor seinem zehnten Lebensjahr in der Lage sein, es mit der Kraft erwachsener Männer aufzunehmen.

      »Alles Mädchen. Nutzlos.« Luzifer spuckte aus. »Sie alle sind wenige Stunden nach ihrer Geburt gestorben, und ihre Mütter mit ihnen.«

      »Sie sind bei der Geburt gestorben?« Er dachte an Rebecca und daran, wie sie sich bei der Geburt verausgabt hatte. Er hatte sich gesorgt, dass sie es nicht überleben würde.

      »Es war ein Akt der Gnade. Die Frauen wären wegen einer Geburt außerhalb der Ehe gesteinigt worden.«

      »Und was ist mit Uriel? Wie konnte er weiterhin all diesen Frauen beiliegen in dem Wissen, dass sie bei der Geburt seiner Kinder sterben würden?«

      »Er hat nicht einmal gewusst, dass sie mit seinen Kindern schwanger waren. Unwissender Narr. Er war fort, bevor überhaupt die Sonne über ihren Betten aufging. Uriel schuldet mir viel, denn ich habe die Sauereien, die er zurückgelassen hat, beseitigt. Sobald eine Familie erfährt, dass ihre Tochter unverheiratet ein Kind empfangen hat, wird sie verstoßen. Ich habe ihnen eine Unterkunft bis zur Geburt ihres Kindes verschafft.«

      »Wieso? Weshalb solltest du so etwas tun?« Raphael sah ihn misstrauisch an. Luzifer hatte immer deutlich gezeigt, wie sehr er auf die Menschen herabsah.

      Luzifer winkte bei seiner Frage ab. »Sagen wir, ich habe Uriel einen Gefallen getan. Nun, wo war ich stehen geblieben… Ah ja, dein Sohn und seine Engelsgaben.«

      »Ich habe nicht gesagt, dass er welche hat.«

      »Ich kann in deinem Gesicht gut lesen, mein alter Freund. Du solltest stolz sein. Stell dir vor: Mit mehr Söhnen könntest du über die Welt herrschen.«

      »Ich bin nicht hierhergekommen, weil ich Söhne zeugen wollte. Ich betrachte das, was ich habe, als einen Segen. Ich will nur mit meiner Familie in Frieden leben. Der Traum vom Herrschen ist deiner, nicht meiner. Ich werde damit nichts zu tun haben.«

      Luzifer schüttelte den Kopf. »Nach all dieser Zeit betrachtest du die Menschen immer noch als uns gleichgestellt.«

      »Ja. Das ist etwas, was ich immer glauben werde.«

      Luzifer lachte. »Mein lieber Raphael, eines Tages wirst du den Fehler in deinem Denken erkennen. Du wirst einsehen, dass wir dazu bestimmt sind, über die Menschen zu herrschen. Nicht heute, aber eines Tages wirst du es. Jetzt lass uns essen. Ich bin am Verhungern.«

      Nach der Mahlzeit und lange, nachdem Luzifer sie verlassen hatte, schloss Raphael Rebecca in seine Arme, als sie auf dem Dach lagen und zu den Sternen aufsahen.

      »Du hast heute Abend nicht viel gesagt«, begann er.

      Einen Moment lang versteifte sich ihr Körper. Dann entspannte sie sich. »Nicht weniger als sonst auch. Ich wollte dein Gespräch mit Luzifer nicht unterbrechen.«

      »Du magst ihn nicht.«

      »Er ist dein Freund.«

      Sanft löste Raphael sie von seiner Brust. Er blickte ihr in die Augen. »Sag es mir, Rebecca. Sag mir, was los ist.«

      Sie senkte den Blick und ihre schwarzen Wimpern hoben sich auf ihren Wangen ab. Sie war so schön. Er hasste es, sie so zu sehen, aber er musste es wissen. Während des gesamten Abendessens hatte sie kein Wort gesagt. Das war für sie völlig untypisch.

      »Hat Luzifer etwas zu dir gesagt?«

      Es war möglich, dass Luzifer versucht hatte, von ihr Informationen über Jeremiel zu bekommen. Sie waren vor langer Zeit übereingekommen, Jeremiels Gaben und seine Herkunft geheim zu halten. Sie wollten, dass er so behandelt wurde, wie alle anderen in der Gemeinschaft auch.

      »Nein. Er hat nicht mit mir gesprochen. Es ist nur… er…« Ihre Wangen färbten sich rot.

      »Was ist es?« Raphael legte eine Hand unter ihr Kinn und hob es an. Ihre Augen begegneten seinem Blick und einen Moment lang dachte er, sie würde etwas sagen, als sie plötzlich den Atem ausstieß.

      »Im Grunde ist es nichts weiter. Es ist nur… Jeremiel wird älter und ich erkenne so viel von dir in ihm und seinen Wesenszügen als Sohn eines Erzengels. Luzifer zu sehen erinnert mich an die Macht, die du hattest und die du aufgegeben hast, um mit mir zusammen zu sein und dann frage ich mich…«

      »Was fragst du dich?«

      »Ich frage mich, ob du es manchmal bereust.«

      Raphael musterte ihr Gesicht. Er hatte das Gefühl, dass da noch mehr war, das sie ihm nicht verriet. Es sah ihr nicht ähnlich, etwas vor ihm geheim zu halten.

      »Überhaupt keine. Du etwa?«

      Er hielt den Atem an, als sie einen Augenblick lang zu Boden sah und zögerte.

      »Nur eines tut mir leid.«

      Sein Herz setzte einen Schlag aus.

      »Du bereust, mich geheiratet zu haben?« Er brachte die Worte kaum heraus.

      Ihre Augen blitzten ihn an. »Nein. Oh nein. Das bereue ich nicht. Ganz und gar nicht.«

      Sein Herz begann wieder zu schlagen. »Was ist es dann?«

      »Es ist Baka.«

      »Baka?«

      »Eigentlich ist es mehr Jaels als Bakas wegen. Keine Frau sollte so leiden, wie sie es durch seine Hand tut. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich dem Himmel nicht dafür danke, dass er dich geschickt hat und dafür, dass du mich liebst. Ohne dich wäre ich an Jaels Stelle.«

      Gelegentlich