L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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du das nicht sagen.«

      Sie sah ihm in die Augen. »Ich sage es, weil ich dein wahres Ich tatsächlich kenne. Dein Herz ist rein, Uriel. Du bist gut. Nur, wenn du bei ihm bist, saugt das alles Gute aus dir heraus. Es ist, als könnte da, wo das Böse ist, nichts Gutes bestehen.«

      »Willst du damit sagen, Luzifer sei böse? Er ist ein Erzengel.«

      »Ich… ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du anders bist, wenn du mit ihm zusammen warst.«

      Uriel seufzte. »Oder vielleicht zeigt sich mein wahres Ich, wenn ich bei ihm bin.«

      Rachel schüttelte den Kopf bei der Erinnerung und drückte die Klinke herunter.

      Schwungvoll öffnete sie die Tür. Und dort, in der Mitte des Raumes, wo Teppiche und Läufer auf dem Marmorboden lagen, saß ein Engel Uriel gegenüber. Ihr langes Haar floss ihr in seidigen Wellen über den Rücken.

      Als Rachel den Saal betrat, sah Uriel in ihre Richtung und sein Gesicht leuchtete auf. »Raguel! Oder sollte ich sagen: Rachel? Du kommst genau richtig. Komm herein und hilf mir, Gabrielle davon zu überzeugen, mit mir auf die Erde zu ziehen.«

      Gabrielle drehte sich um und lächelte Rachel warm an. »Schon zurück? Ich dachte, du und Raphael würdet viel länger brauchen.«

      »Die Pläne haben sich geändert.« Rachel wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie wollte nicht, dass Raphael in Schwierigkeiten geriet, weil er seine Engelsfähigkeiten auf eine solche Art eingesetzt hatte. Es war allgemein bekannt, dass Gabrielle Raphael gern hatte, obwohl sie versuchte, es zu verbergen. Wie mit ihren eigenen Gefühlen für Uriel schien es, dass jeder Bescheid wusste – abgesehen von der Person, der ihre Zuneigung galt.

      »Die Menschen haben ihre Meinung geändert«, erklärte Rachel. »Sie haben ihr Mitleid für die Ausgestoßenen entdeckt.«

      »Da siehst du es, Gabrielle. Die Menschen sind ganz anständig. Komm mit mir und Luzifer. Du weißt doch, dass du es willst.« Er grinste und zeigte seine Grübchen.

      »Dann stimmt es also«, sagte Rachel und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

      »Du gehst mit Luzifer und Raphael fort.«

      »Raphael?« Der sorgenfreie Ausdruck verschwand von Gabrielles Gesicht.

      Rachel sah sie überrascht an. »Ich dachte, du wüsstest es.«

      »Was glaubst du denn, was ich versucht habe, dir zu erklären, Gabrielle?«, warf Uriel ein. »Wir gehen runter auf die Erde.«

      »Ich dachte, du machst Witze.« Gabrielle stand auf und ging auf die Tür zu. »Das ist nicht richtig.«

      »Wo liegt denn das Problem?« Uriel sprang auf die Füße. »Oder ist es Raphael, der… oh, ich verstehe«, sagte er und in seinen blauen Augen funkelte es.

      Eine leichte Röte hatte sich über Gabrielles makelloses Gesicht gelegt. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

      »Na klar.« Uriel wandte sich zu Rachel um. »Dann kommt Raphael also mit uns mit?«

      »Ich glaube schon. Ich war gerade in den Gärten und Luzifer sagt, sie werden sich bald auf den Weg machen. Und ich wollte – «

      »Siehst du, da hast du es«, unterbrach Uriel sie. »Selbst Raphael hält das Ganze für eine gute Idee.«

      Einen Moment lang begegnete Rachel Gabrielles Blick. Die grünen Augen des blonden Engels schienen ihren Blick festzuhalten. Sie konnte Mitleid in ihnen erkennen. Es war nicht das erste Mal, dass Uriel so tat, als sei sie gar nicht anwesend. Einen Augenblick lang erkannte Rachel neben dem Mitleid einen Ausdruck des Verurteilens in den grünen Augen.

      Sie versteht es nicht, dachte Rachel. Sie kennt Uriel nicht so, wie ich es tue.

      »Hat er gesagt, weshalb er geht?«, fragte Gabrielle sie.

      Sie zögerte mit der Antwort, als das Bild von Rebecca vor ihr aufstieg. Sie schluckte. »Ich weiß es nicht.«

      »Das ist eine nette Überraschung«, sagte Uriel. »Ich hätte nicht geglaubt, dass der staubige, alte Raphael Interesse hätte.«

      »Das ergibt keinen Sinn. Rachel, sag mir genau, was geschehen ist, als ihr auf der Erde wart. Was hat Raphael gemacht?«

      »Das kann ich dir sagen.«

      Beim Klang von Raphaels tiefer Stimme drehte Rachel sich um. Freundliche Augen blickten sie an. »Rachel, ich muss mich bei dir entschuldigen. Für das, was geschehen ist, als wir auf unserer Mission waren.«

      »Hat das irgendwas damit zu tun, weshalb du uns verlässt… mit Luzifer?«, fragte Gabrielle. Ihre Stimme klang gepresst.

      »Ja.«

      Die Spannung, die im Raum stand, war förmlich spürbar.

      »Ah, das ist mein Stichwort – ich muss los«, sagte Uriel und schritt auf die Tür zu. »Rachel?«

      Rachel drehte sich zu Uriel um und fühlte, wie sie in seinen blauen Augen ertrank. Alles, was sie ihm hatte sagen wollen, blieb ihr in der Kehle stecken. Sie wollte ihm sagen, dass er bleiben sollte. Dass er mehr in ihr sehen sollte, als bloß eine Freundin. Dass sie sein wahres Ich sah und ihn liebte. All das war in ihrem Innern gefangen und fürchtete sich, ans Tageslicht zu kommen, und sie wusste nicht weshalb.

      »Ja?«, flüsterte sie schließlich.

      »Danke für… alles. Ich werde unsere kleinen Gespräche in den Gärten vermissen.«

      »Ich… ich…« Es brach ihr das Herz. Wenn sie ihm sagte, was sie empfand und er trotzdem ging, würde sie das nicht ertragen.

      »Ich werde sie auch vermissen«, stolperten die Worte schließlich heraus.

      Sie konnte seinen hauchzarten Kuss noch auf ihrer Stirn spüren, nachdem er den Raum schon verlassen hatte.

      Ein weißes Rauschen erfüllte ihre Ohren, durch das wie von Ferne Raphael und Gabrielles Stimmen klangen. Sie konnte Raphaels Berührung kaum spüren, als er ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie um Vergebung bat. Sie nickte. Ihr Kopf fühlte sich tonnenschwer an. Sie konnte nicht einmal hören, weshalb er sie um Vergebung bat. Alles, was sie hören konnte, war ihr Herzschlag und sie fragte sich verwundert, wie es einfach weiterschlagen konnte.

      Raphael fuhr fort zu sprechen und sie bemühte sich, sich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Seine Gesichtszüge verschwammen hinter einem wabernden Nebel. Da war Traurigkeit in seiner Stimme und als sie die Worte »Ausgestoßene« und »Soldaten« hörte, wurde ihr bewusst, dass er Gabrielle erzählte, was er vor Ai getan hatte. Dann veränderte sich seine Stimme, als der Name »Rebecca« fiel. Der Tonfall in seiner Stimme war unmissverständlich.

      Dann hallte Gabrielles Stimme im Saal wider und ließ ihren Brustkorb vibrieren. Die Worte »Tu das nicht« und »Das darfst du nicht« donnerten durch die Luft.

      Durch den Schreck löste sich der Nebelvorhang vor Rachels Augen und sie sah Gabrielle an. Ihr normalerweise ruhiges und gelassenes Gesicht spiegelte genau die dumpfe Taubheit wider, die sich in Rachels Brust ausgebreitet hatte.

      »Ich kann dich nicht bitten, meinen Standpunkt dazu zu verstehen, Gabrielle«, erklärte Raphael.

      »Bist du hier nicht glücklich, Raphael?«

      »Gabrielle, du machst dir zu viele Gedanken. Ich gehe nur für einen Tag. Und dazu nur einen irdischen Tag… vielleicht zwei, aber mehr als das nicht. Das ist das Geringste, was ich tun kann, um die Probleme zu beheben, die möglicherweise durch mein Eingreifen entstanden sind.«

      »Bist du sicher, dass das alles ist?« Gabrielles grüne Augen hielten seinen Blick unbeirrt fest.

      Das erregte Rachels Aufmerksamkeit. Die Worte hingen in der Luft – und ebenso Raphaels Zögern, auf die Fragen zu antworten. Raphael hatte noch nie nach Worten suchen müssen.

      »Ja«, erklärte er schließlich. »Darauf hast du mein Wort. Ich werde sofort zurückkommen. Ein irdischer Tag ist hier oben im Himmel nur ein Herzschlag.«

      »Rachel?«

      Rachel blinzelte und richtete ihre Aufmerksamkeit