L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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der Gedankenmanipulation hatten und sie gegen die Soldaten einsetzen konnten, gab ihnen das nicht das Recht, den freien Willen der Menschen zu beeinflussen. Dieser Überzeugung hingen alle Erzengel an. Zugegeben, es war schwer, sich daran zu halten, besonders in Zeiten wie diesen. Die Macht zu haben, die Leben anderer zu retten und nicht die Erlaubnis zu haben, es zu tun. Er musste ihnen nur den Vorschlag unterbreiten und die Menschen würden seiner Führung folgen. Rachel wusste um seine Gabe, aber ihre Seele war so rein, dass ihr nicht einmal der Gedanke kam, dass diese Möglichkeit bestehen könnte.

      »Das Beste, was wir tun können, ist, den anderen zu helfen zu fliehen«, sagte er.

      Rachels Lippen zitterten, als sie Obadiah weiter voranschreiten sah.

      Mit jedem unsicheren Schritt, den Obadiah tat, wuchs Raphaels Bewunderung für den alten Mann. Obadiah, obwohl körperlich schwach, war geistig so stark, dass sein einziger Gedanke sich darum drehte, die anderen zu schützen – nicht darum, wie er der Gefahr aus dem Weg gehen konnte, in die er sich selbst begab, indem er sich den Soldaten näherte. Er musste wissen, dass sein Ende kurz bevor stand, und dennoch ging er weiter. Diese Art von Mut war es, die Raphael die Menschen nur umso mehr lieben ließ. Wenn nur Luzifer sehen könnte, was er sah.

      Raphael legte Rachel eine Hand auf die Schulter. »Komm. Ich werde Ethan holen und du kannst losgehen und – «

      Eine liebliche Stimme klang durch die Luft und erhob sich über das Stimmengewirr des wütenden Mobs und das Marschieren der Soldaten. Sie war so leise, dass Raphael sich fragte, ob er sie sich nur eingebildet hatte.

      Er spähte zu der näher kommenden Menge. Die Soldaten hatten kurz vor Obadiah angehalten und lachten.

      Ihr Anführer stand unbeweglich, sein Gesicht halb bedeckt von einem Bronzehelm und einem dichten schwarzen Bart. Über die Schultern hing ihm eine rote Toga, die von einer runden goldenen Brosche an seinem Hals zusammengehalten wurde. Die Toga wallte im Wind und strich sanft um seine muskulösen Oberschenkel.

      Als der Anführer sein Schwert aus der Scheide zog, schoss eine kleine Gestalt durch die Horde der Soldaten. Einen Moment lang dachte Raphael, es handele sich um einen kleinen Jungen. Vielleicht war es der Sohn eines der Kranken, die in der Zeltgemeinschaft lebten. Dann nahm er die wallende hellblaue Robe wahr, die über den Boden schleifte und eine Staubwolke hinter der Gestalt aufwirbelte.

      »Haltet ein, ich flehe euch an!«, rief die Frau. »Bitte haltet ein.«

      Ihre zierliche Hand legte sich auf den massigen Bizeps des Soldaten. Gegen den gestählten Arm wirkte sie zerbrechlich.

      »Aus dem Weg, Frau«, knurrte der Soldat und schob sie von sich.

      Die Frau stolperte einige Schritte nach vorn und fiel vor Obadiahs Füßen zu Boden. Dunkles Haar bedeckte ihr Gesicht wie ein seidener Vorhang. Aus der Entfernung vernahm Raphael ihr Schluchzen. Ein Geräusch, das ein merkwürdiges Gefühl in ihm wachrief. Es war, als sei ein Seil an seine Brust gebunden, das ihn zu ihr hinzog. Erschrocken angesichts der Heftigkeit des ungewohnten Gefühls stemmte er die Füße gegen den Boden. Er wollte zu der beherzten Frau gehen und sie trösten, nachdem sie es gewagt hatte, sich allein einem Heer von Soldaten entgegenzustellen.

      Er sah, wie Obadiah ihr die Hand entgegenstreckte. Die Sekunden verstrichen und Raphael fragte sich, was sie da tat, weil sie weiter zu Boden starrte. Einen Augenblick später richtete die Frau sich auf und ergriff Obadiahs Hand.

      Und dann sah Raphael ihr Gesicht.

      Tränenspuren zogen sich über ihre geröteten Wangen und ihre makellose Haut war von Schmutz bedeckt. Und dennoch war sie das schönste Wesen, Mensch oder Engel, das seine Augen je erblickt hatten.

      Jede Bewegung, die sie machte, zog ihn in den Bann: die Art, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, so dass es ihr auf die zierlichen Schultern fiel; die Art, in der sich ihre roten Lippen bewegten, als sie Obadiah dankte; die Art, in der sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten, als sie ihn anlächelte, bevor sich Sorge in ihnen spiegelte, als sie in die Richtung der Zelte sah.

      Als sie sich zur Gruppe der Soldaten umwandte, glättete die Frau ihre Gesichtszüge. In ihren haselnussbraunen Augen funkelte es entschlossen. Raphael taumelte nach hinten. Bei ihrem Anblick blieb ihm der Atem stehen. Es war nur ein kurzer Blick gewesen. Aber mehr brauchte es nicht, um sein Herz in Flammen zu setzen. Mit aller Macht kehrte das ungewohnte Gefühl zurück und schoss durch seine Adern. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Es war etwas, von dem er gehört hatte, dass Menschen es erlebten. Selten hatte er Engel von solchen Gefühlen erzählen hören.

      Er warf einen kurzen Seitenblick auf Rachel und fragte sich, ob das die Gefühle waren, die sie vergeblich zu verbergen suchte, wenn sie Uriel sah. Er empfand neuen Respekt, weil sie es schaffte, sie für sich zu behalten und dann Trauer, weil sie das bereits seit einiger Zeit tat.

      Er blickte zurück zu der Frau und fragte sich, was über ihn gekommen war, weil er solche Gefühle für sie hegte. Und einen Moment lang schämte er sich. Erlag er gerade der Versuchung? Begehrte er sie wegen ihrer körperlichen Schönheit?

      Er war Schönheit schon zuvor begegnet. Gabrielle war wunderschön, wie es viele der Engel waren. Und dennoch hatte diese Frau etwas an sich, das ihn auf eine Weise faszinierte, wie es kein Engel je vermocht hatte.

      Er schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, das war keine Wollust. Es war mehr… da war noch mehr.

      »Du wirst das hier beenden, Baka«, wandte sich die Frau an den Anführer. »Du wirst deinen Männern befehlen, in die Stadt zurückzukehren.«

      Baka nahm seinen Helm ab und starrte die Frau an. Sein braunes Gesicht blieb unbewegt. In diesem Moment wünschte Raphael, er könnte Bakas Gedanken lesen. Das war eine Fähigkeit, die kein Engel besaß, egal wie hoch er im Rang stand.

      Bakas dunkle, durchdringende Augen sahen von der Frau zu Obadiah. Langsam verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln und er warf lachend den Kopf in den Nacken.

      »Rebecca, nach all diesen Jahren schlägt dein Herz noch immer für die Schwachen«, sagte er. »Wann begreifst du endlich, dass es die Starken sind, die deine Aufmerksamkeit verdienen?«

      Mit drei Schritten trat Baka vor sie und kniff sie in die Wange. Seine Hand war so groß, dass sie fast ihr ganzes Gesicht bedeckte. »Du wirst lernen, wo dein angemessener Platz ist, Frau. Und ich werde derjenige sein, der es dir zeigt.«

      Zorn loderte in Raphaela auf, als er sah, wie Bakas Finger ihren Griff verstärkten, als sie versuchte, sich von ihm loszuwinden. Sie wirkte wie eine zarte Wüstenblume, die jederzeit zertreten werden konnte, wenn es den Soldaten gefiel.

      Ohne nachzudenken, machte Raphael einen Schritt nach vorn. Das Einzige, das ihn davon abhielt, den Soldaten körperlichen Schaden zuzufügen und damit die Menschen der Zeltgemeinschaft vermutlich noch mehr in Gefahr zu bringen, war der Klang von Rachels Stimme.

      »Raphael, hier sind Ethan und Miriam. Raphael?«

      Raphael blinzelte und Rachels besorgtes Gesicht tauchte in seinem Blickfeld auf. Er folgte ihrem Blick nach unten und ihm wurde bewusst, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren.

      Was mache ich hier?

      Langsam entspannte er seine Finger. Er konnte nicht glauben, was er beinahe getan hätte. Bei seinen Engelskräften hätte eine kleine Handbewegung ausgereicht, um den Befehlshaber Baka in die Luft zu schleudern. Und bei Gott, das war genau das, was er tun wollte. Er wollte den bedrohlichen Soldaten weit weg von Rebecca – so schnell wie möglich. Aber dann würde das die anderen Soldaten dazu bringen, sie alle anzugreifen – angefangen bei Rebecca.

      Er wollte zu ihr gehen. Aber er konnte es nicht. Zu viele Menschen würden darunter leiden, wenn er es täte. Und dann würde er sich vor Michael für den Missbrauch seiner Kräfte rechtfertigen müssen und für die Toten, die es mit Sicherheit geben würde.

      Er sah zu Rebecca und war überrascht, dass noch immer das Feuer in ihrem Blick loderte.

      »Lass mich los«, fauchte sie.

      Baka sah sie einen Moment lang böse an und ließ dann seine Hand sinken. »Stures Weibsbild. Wieso willst du sie schützen?«

      »Sie sind krank.