L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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das er schnell in ein Hüsteln umwandelte.

      »Tut mir leid, mein Schatz. Ich versuche nur, die Stimmung etwas aufzulockern. Ich denke nicht gern daran zurück, wie ich damals war… wie ich dich vor all diesen Jahren behandelt habe.«

      »Ich weiß. Für mich ist das auch schwer, aber wir haben es überlebt.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange, bevor sie sich wieder an Naomi wandte. »Also, wo war ich stehen geblieben?«

      »Du hast von einem Mann gesprochen, der Obadiah hieß«, half Naomi ihr.

      »Ach, richtig. Obadiah. Ich kann mich an diese Zeit noch gut erinnern. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen berührte.«

      2

1400 V. CHR

      »Bist du sicher, Raphael?«, fragte Raguel.

      Der Erzengel Raphael musterte die Ansammlung von Zelten am Fuße des Hügels. Tränen schimmerten in seinen Augen, als sein Blick über die Menschen glitt, die sich draußen vor den Toren der Stadt häuslich niedergelassen hatten. Sie waren Ausgestoßene, die von allen wegen einer Krankheit gemieden wurden, für die sie nichts konnten. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich – das war für die Menschen in Ai unwichtig. Sobald die Geschwüre am Körper auftauchten, wurde der betroffene Mensch aus dem Schutz der Stadt verstoßen. In ihren Augen hatte sich Gott von den von Krankheit Geplagten abgewandt, also sollten sie es auch tun.

      Er wandte sich seiner zierlichen Begleiterin zu. »Ja. Ich bin sicher. Wir wurden ausgesandt, um ihnen Trost zu spenden. Wie sollen sie ohne eine Berührung Trost finden?«

      Ihre braunen Augen weiteten sich bei seinen Worten. »Michael wäre böse, wenn er es herausfände.«

      Raphael lächelte. »Dann werden wir es ihm nicht erzählen, einverstanden? Sie wurden aus ihren Häusern verbannt und von ihren Familien verstoßen. Sie haben genug gelitten.«

      »Sie haben Angst. Diese Leute haben alle Anzeichen von Lepra und wurden für unrein erklärt.«

      Raphael runzelte die Stirn. »Sie sind immer noch Seine Kinder. Sie verdienen allen Trost, den wir ihnen spenden können.« Er blickte auf sie herab. »Es mag uns nicht erlaubt sein, ihre Körper zu heilen, aber wir können ihre Seelen heilen. Schon die Berührung einer liebenden Hand kann ein gebrochenes Herz heilen.«

      Sie sah auf ihre Hände hinab. »Ich habe noch nie einen Menschen berührt. Wie fühlt es sich an?«

      »Warm, lebendig. Es ist anders als jedes andere Gefühl, das ich erlebt habe. Der Höchste hat ein wundervolles Wesen geschaffen.«

      »Das Gefühl kenne ich.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne und an ihrem Gesichtsausdruck konnte Raphael ablesen, dass sie an Uriel dachte, den himmlischen Erzengel des Todes. Wenn Gabrielle ihm nicht von Raguels wachsenden Gefühlen für Uriel erzählt hätte, hätte er es nie erraten. Er war nicht jemand, dem solche Kleinigkeiten auffielen. Dankenswerterweise hatte Gabrielle Raguel mit ihm auf seine irdische Mission geschickt in der Hoffnung, dass sie so etwas Abstand zu Uriel bekäme. Obwohl Gutes tief im Herzen Uriels schlummerte, hatte er in letzter Zeit einen feinen Grat zwischen dem Guten und dem Unmoralischen beschritten, ähnlich wie Luzifer.

      Luzifer war sein guter Freund und wurde von allen im Himmel geachtet. Allerdings hatte sich Raphael in letzter Zeit unwohl gefühlt angesichts einiger Vorschläge, die Luzifer ihm gegenüber geäußert hatte. Über die Jahre hatte sich Luzifer mit einigen Gefolgsleuten umringt – oder Freunden, wie er es vorzog sie zu nennen. Er sprach davon, dass Gott die Menschen mehr liebte als seine Engel. Er behauptete, dass die Engel über die Menschen herrschen sollten, anstatt ihnen zu dienen. Einmal hatte er sogar vorgeschlagen, dass die Engel die Menschen durch Vermehrung verdrängen sollten, indem sie sich menschliche Frauen nehmen sollten, um eine Masterrasse zu erschaffen, die besser wäre, als die von Gott geschaffene.

      Raphael schauderte bei diesem Gedanken. Wenn Luzifer seine neidische Seite zeigte, sah Raphael, wie das Böse in seinem Freund Wurzeln schlug.

      Er sah zu Raguel und bemerkte den sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht. Besorgt runzelte er die Stirn. Ihre Liebe zu Uriel würde sie auf die Probe stellen, wenn er den Pfad des Unmoralischen wählte. Wie die Menschen hatten auch alle Engel den freien Willen erhalten. Er sorgte sich um sie. Ihre einzige Rettung war die Tatsache, dass der eigennützige Uriel ihre Gefühle nicht zu erwidern schien – er war zu sehr von sich selbst eingenommen.

      »Weißt du, wie man die Gestalt wechselt?«

      Er ergriff ihre Hand, um ihr helfen zu können, wenn das nötig sein sollte. Es kam selten vor, dass Engel auf die Erde geschickt wurden. Meist war ihre Arbeit darauf begrenzt, vom Himmel aus über Menschen zu wachen. Wenn Engel ausgeschickt wurden, nahmen sie fast nie menschliche Gestalt an. Er selbst hatte das erst einmal getan… mit der Erlaubnis des Erzengels Michael.

      »Nein. Ist es schwer?«

      »Überhaupt nicht. Zuerst musst du deine Flügel in deinen Körper klappen.«

      »Das geht?«

      »Es gibt vieles, was wir tun können. Dir ist nicht bewusst, welche Gaben wir im Vergleich zu den Menschen haben.«

      »Na ja, ich habe nie wirklich mit ihnen zu tun gehabt – es ist mein erster Auftrag auf der Erde«, erklärte sie, während sie ihre Schultern vor- und zurückbewegte. Ihre Stirn war gerunzelt, als sie versuchte, zu erspüren, wie sie ihre Flügel zusammenfalten konnte.

      Er seufzte. »Leider ist es möglich, dass es nur eines von vielen weiteren Malen ist, die noch kommen. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der Engel vielleicht ein- oder zweimal in hundert Jahren zur Erde geschickt wurden. Das ist jetzt häufiger der Fall und ich fürchte, in der Zukunft wird man uns noch öfter brauchen.«

      Aus irgendeinem Grund musste er an Luzifer denken, als er das sagte. Er schüttelte den Gedanken ab.

      Raguel hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen.

      »Was ist los?«

      »Nichts«, sagte sie.

      Er ging um sie herum und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Es ist leichter, wenn du stillstehst. Jetzt streck deine Schultern durch und dreh die Schulterblätter nach innen, so, als ob du wolltest, dass sie einander berühren.«

      »So?« Ihre kleiner Busen schob sich vor, als sie die Schultern nach hinten zog.

      »Ja. Sehr gut. Spann deinen Rücken ein wenig an und deine Flügel sollten – «

      Mit einem lauten Rauschen stolperte sie nach vorn. Ihre Flügel klappten in ihren Körper.

      »Autsch! Tut das immer so weh?«

      Er lachte leise und streckte die Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen. »Du hast dich ein bisschen zu sehr verspannt. Mit ein wenig Übung wirst du dich daran gewöhnen.«

      »Du sagst das, als wäre das hier nicht das letzte Mal, dass ich menschliche Gestalt annehmen muss.«

      Vielleicht müssen wir das öfter, als wir denken, dachte er.

      »Was kommt als nächstes?«

      »Konzentriere dich auf den Kern deines Wesens. Genau hier.« Er legte zwei Finger auf die Mitte ihres Unterbauchs. »Jetzt drück nach außen, als ob du versuchen wolltest, meine Finger von deinem Körper wegzustoßen.«

      »So… whoa! Da ist was Matschiges unter meinen Füßen.« Sie hob einen Fuß und starrte auf den Boden.

      »Das ist Sand.«

      »Fühlt sich alles Land so an?«, fragte sie, stellte ihren Fuß wieder auf den Boden und wackelte mit den Zehen.

      »Nein, nur der Sand«, antwortete er und ging in Richtung der Zelte. »Komm. Dein erster Kontakt mit Menschen ist etwas, das du nie vergessen wirst.«

      3

      Als sie sich der Ansammlung von Zelten näherten, fiel Raphael eine junge Frau ins Auge, die sich damit abmühte, einen großen Topf über ein Feuer zu stellen. Ein kleiner Junge mit dichtem, dunklen Haar hing an ihrem Bein und erschwerte ihr die Arbeit. Sie trug ein langes Gewand, das zwar sauber war, aber kleine Risse aufwies, die eigentlich