L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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Schleier hervor. Als sie sich bewegte, rutschen die Ärmel ihres Gewandes nach oben und enthüllten die Geschwüre auf ihren Armen.

      »Warte, ich helfe dir«, sagte Raphael und eilte zu ihr, um ihr zu helfen.

      »Danke, guter Mann.«

      »Du kannst mich Raphael nennen«, sagte er und stellte den Topf über das Feuer.

      »Ich bin Miriam. Bitte glaub nicht, dass ich für deine Hilfe nicht dankbar wäre, aber du musst sofort von hier weg.« Sie sah ihn und Raguel an. »Wisst ihr nicht, was das für ein Ort ist?«

      Raphael warf einen Blick auf den kleinen Jungen. »Doch, das wissen wir. Wir sind hier, um euch zu helfen und euch Trost zu spenden.«

      »Welchen Trost könnt ihr schon spenden? Man wird euch auch ausstoßen wie uns andere, wenn die Menschen von Ai euch hier sehen.«

      »Wir bringen euch die Botschaft, Seine Botschaft, dass ihr geliebt werdet und nicht verlassen seid.«

      Miriam sah ihn traurig an. »Das ist schwer zu glauben, wenn alle sich von uns abwenden und es keine Rolle spielt, dass wir nichts Böses getan haben.« Sie schlang die Arme um ihren Sohn.

      Raphael streckte die Hand aus. Bei seiner Berührung keuchte sie auf. Ein Ausdruck des Friedens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Alle sind Seine Kinder. Hab Vertrauen.«

      »Danke«, flüsterte sie.

      »Und wer ist der stramme junge Mann, der sich an dich klammert?« Raphael lächelte dem kleinen Jungen zu. Große braune Augen lugten hinter Miriams Rock hervor.

      »Das ist mein Sohn, Ethan.«

      Rapahel hockte sich hin, so dass er sich auf einer Augenhöhe mit dem Jungen befand. »Hallo, Ethan.«

      Ethan versteckte sein Gesicht erneut hinter dem Rock seiner Mutter.

      »Ethan!«, rief die Frau aufgebracht. »Vergib meinem Sohn. Er ist sonst nicht so. Erst seitdem uns befohlen wurde, die Stadt zu verlassen, ist er Fremden gegenüber ängstlich.«

      Raphael nickte. Bevor er und Raguel den Himmel verlassen hatten, hatte Michael ihnen gezeigt, wie die Kranken aus ihren Häusern getrieben und zu den Toren der Stadt hinausgejagt wurden.

      »Meine Begleiterin und ich haben gehört, was geschehen ist. Wir sind für kurze Zeit hier, um euch alle Hilfe zu bringen, die wir geben können. Gibt es etwas, das wir für dich tun können?«

      Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, das gibt es. Ich kann das Getreide schneller mahlen, wenn Ethan mir nicht am Rockzipfel hängt.«

      »Ich glaube, ich kann einen Weg finden, ihn zu beschäftigen«, erwiderte er. Er sah hinab auf die Geschwüre an den Armen des Jungen. Er fragte sich, wo Ethans Vater war. Aber er fragte nicht laut danach. Er vermutete, dass der Vater seine Frau und seinen eigenen Sohn verstoßen hatte. Wie konnte jemand ein Mitglied seiner Familie verstoßen?

      »Ethan, möchtest du eine Geschichte hören?« Er streckte dem Jungen seine Hand entgegen. »Es ist die Geschichte von einem Jungen, der von einem freundlichen, gutaussehenden Fremden geheilt wurde.«

      Es war Raphael nur aufgetragen worden, den Ausgestoßenen Trost zu spenden. Es war schwer, die Menschen leiden zu sehen und nicht die Erlaubnis zu haben, sie zu heilen.

      Ethan lugte vorsichtig hinter dem Rock seiner Mutter hervor. Seine Augen waren von dichten Wimpern umrahmt. Er blickte auf Raphaels ausgestreckte Hand. Dann sah er zu seiner Mutter auf.

      »Na, geh schon. Ich bin gleich da drüben.« Sie deute auf zwei Mahlsteine in der Nähe. »Und wenn du brav bist, kannst du nachher beim Essen ein paar Datteln haben.«

      Ethans Augen leuchteten auf. »Ja, Mutter.« Dann ergriff er Raphaels Hand.

      »Danke«, wandte sich Miriam an Raphael und eilte zu den Steinen hinüber. »Ich werde nicht lange brauchen.«

      »Raphael«, flüsterte Raguel, als sie zusah, wie die Frau sich über die Steine kauerte und einen von ihnen auf dem anderen bewegte. Sie rieb ihn vor und zurück erhielt so eine Art Pulver. »Was macht sie da?«

      »Sie mahlt das Korn zu Mehl.« Raphael führte Ethan zur Vorderseite eines kleinen Zeltes. »Ist das eures?«, fragte er den Jungen.

      Ethan nickte.

      Raphael ließ sich nieder und zog den Jungen auf seinen Schoß. Er berührte den Arm des Jungen und zuckte zusammen beim Anblick der rundlichen Hände, die von der Krankheit gezeichnet waren. Der arme Junge. Jemand, der so schön und so unschuldig war wie dieser Kleine sollte nicht mit einem solchen Gebrechen leben müssen.

      Der Junge sah ihn ehrfürchtig an und Raphaels Herz schmolz dahin. Er wusste, dass er Ethan heilen konnte. Er war vor kurzem zum Erzengel des Heilens befördert worden. Ihm war die Gabe des Heilens verliehen worden und er konnte die Krankheit mühelos von dem Jungen nehmen. Er war sich sicher, das ihm vergeben werden würde, wenn er es tat. Das Kind war zu klein, um so zu leiden.

      »Halt still, Ethan«, sagte er und strich mit einer Hand über Ethans Arm.

      »Was machst du da?«, fragte Raguel in überraschtem Flüsterton.

      »Ich heile ihn.«

      »Das verstößt gegen Michaels Anordnungen!«

      Raphael hielt inne und sah zu Raguel auf. Sie hatte recht. So gern er Ethan auch helfen wollte, er würde bei Raguels erstem Auftrag kein gutes Beispiel abgeben.

      Er seufzte und ließ die Hand sinken. »Ja. Wir sind hier, um Trost zu spenden und Worte des Glaubens zu den Menschen hier zu bringen.« Er tätschelte Ethans Arm.

      »Ich bin mir nicht sicher, wie.« Ihr Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck angenommen.

      Raphael sah sich um und sah die Menschen vor den umliegenden Zelten. Sein Blick fiel auf einen alten Mann, dessen Haut vom nachlassenden Licht der Sonne beschienen wurde. Neben ihm befand sich ein Wasserschlauch aus Ziegenleder. »Dort drüben.« Er deutete auf den alten Mann. »Biete ihm an, ihm etwas Wasser vom Bach zu holen. Der Schlauch sieht leer aus.«

      Raphael sah Raguel interessiert zu. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er mit einem Menschen in Kontakt gekommen war. Sie hatten so viele Empfindungen, Leidenschaften, die oft ins Extrem gehen konnten: Glück, Kummer, Wut, Liebe. Sie waren erfüllt vom Strahlen einer Energie, die tief in ihrer Seele ruhte. Engel unterschieden sich nicht so sehr von Menschen. Aber er hatte das Gefühl, dass die Engel ihre Empfindungen in Schach hielten. Es schien fast, als hätten sie Angst, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und nicht ganz vollkommen zu erscheinen.

      Als er zum ersten Mal einen Menschen berührt hatte, hatte er sofort eine Verbindung gespürt. In diesem Augenblick war ihm auch klargeworden, dass Menschen ihn für ein göttliches Wesen hielten. Das Interessante daran war, dass er ihnen gegenüber dasselbe empfunden hatte. Er sehnte sich danach, anderen von seiner Erfahrung zu erzählen. Er war sich nicht sicher, ob die anderen Engel es verstehen würden. Selbst sein guter Freund Luzifer hielt es für Unsinn und riet ihm davon ab, den anderen Engeln davon zu erzählen.

      »Guter Mann«, hörte Raphael Raguel zu dem alten Mann sagen. »Ich werde dir Wasser vom Bach holen.«

      Der Alte hob den Kopf. Seine Lippen begannen zu zittern, als sich sein Blick auf Raguel richtete. »Rachel?«

      Raguel sah verwirrt zu Raphael hinüber.

      Er zuckte mit den Schultern.

      »Mein Name ist Raguel«, wandte sie sich an den alten Mann.

      »Du siehst aus wie Rachel.«

      »Wer ist Rachel?«

      »Es ist der Name meiner Tochter. Ich habe dich für sie gehalten. Ich dachte, der Herr hätte meine Gebete erhört und sie zu mir zurückgeschickt. Sie war zu jung, um von mir genommen zu werden.« Seine Hand zitterte, als er sie nach ihr ausstreckte.

      »Du siehst genauso aus wie sie, so wunderschön.« Er hielt inne, bevor seine Hand ihre Wange erreichte und zog sie zurück. »Genauso wie sie.«

      Rachel kniete sich vor ihm hin. »Was ist deiner Tochter zugestoßen?«

      »Sie