L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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warf einen Seitenblick auf Obadiah – »weshalb ist er dir wichtig?«

      Sie stellte sich schützend vor Obadiah. »Ein alter Mann eben.«

      Baka schnaubte.

      »Er verdient es, seine letzten Tage in Frieden zu verbringen. Es ist nicht an dir, zu entscheiden, wann der Tag ist, an dem ein Mensch leben oder sterben soll.«

      »Du irrst dich. Es ist an mir. Ich bin es leid, mit dir zu streiten. Du wirst dich entfernen. Sofort!«

      »Mein Vater wird davon erfahren«, drohte sie.

      Baka packte Rebecca am Arm und riss sie an sich. Er beugte sich zu ihr, so dass seine Nasenspitze die ihre fast berührte. »Dein Vater ist derjenige, der ihre Auslöschung befohlen hat.«

      Raphael konnte sehen, wie Rebeccas wilde Entschlossenheit bei Bakas Worten ins Wanken geriet. Er sehnte sich nach ihr.

      »Ich werde ihn umstimmen«, erklärte sie. »Ich weiß, dass ich das kann.«

      Bakas Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Grinsen. »Das Einzige, was ihn umstimmen wird, ist das Gefühl eines ledernen Geldbeutels an seiner Handfläche. Kannst du ihm das geben? Kannst du das?«

      Verzweiflung malte sich auf ihrem Gesicht ab und das Leuchten in ihren Augen erlosch.

      »Ah, wie ich sehe, bist nicht gänzlich von der Liebe zu deinem Vater geblendet und kennst seine Schwächen. Geh jetzt in die Stadt zurück und ich werde dir und deinem Weiberherzen das Ganze hier nachsehen. Schließlich wirst du meine Verlobte sein, wenn ich deinem Vater meine Geldbörse in die Hand drücke.«

      Etwas in Raphaels Innern zerriss bei Bakas Worten und ehe er sich zurückhalten konnte, entfuhr ihm ein Schrei. »Lasst die Leute hier in Frieden!«

      Er ignorierte Rachels Aufkeuchen und schob ihre Hand beiseite, als er auf die Soldaten zuschritt. Eine Stimme in seinem Hinterkopf rief ihm zu, dass er das hier nicht tun sollte. Er sollte nicht eingreifen. Das hatte er selbst Rachel erst vor wenigen Augenblicken erklärt. Aber der Gedanke daran, wie der unnachgiebige Soldat Baka Rebeccas sanftes Wesen brechen und sie zu seiner Frau machen wollte, war zu viel für ihn.

      »Bleib stehen!« Baka streckte Raphael sein Schwert entgegen.

      Raphael hielt inne. Er hatte keine Angst vor den Verletzungen, die das Schwert ihm zufügen konnte, wenn Baka sich entschied, es einzusetzen. Es würde wehtun und er würde bluten, aber es würde ihn nicht töten. Er sorgte sich, dass Obadiah oder Rebecca unabsichtlich verletzt würden, wenn sich Baka zum Angriff entschloss. Sie standen zu dicht in seiner Nähe.

      Als ob er seine Gedanken gelesen hätte, wandte sich Obadiah zu Raphael um und schenkte ihm ein zahnloses Lächeln. Er ergriff Rebeccas Arm und führte sie mehrere Schritte von den Soldaten weg, so dass ein deutlich sichtbarer Pfad zwischen Raphael und Baka entstand.

      Raphael hob die Hände, so dass die Handflächen nach oben zeigten.

      »Ich trage keine Waffen bei mir«, sagte er und machte einen langsamen Schritt nach vorn. »Ich will dir nichts Böses.«

      Bakas Augen verengten sich. »Stehen bleiben, habe ich gesagt! Wie kannst du es wagen, meinen Befehl zu missachten!«

      Raphael schritt weiter auf ihn zu und hielt seinem Blick stand. Mit leiser, melodischer Stimme sagte er: »Ich hege nicht den Wunsch, dir Schaden zuzufügen. Ich komme in Frieden.«

      Bakas Augen weiteten sich einen Moment lang. Er wirkte benommen. Schuldgefühle regten sich am Rand von Raphaels Bewusstsein. Er nutzte seine Engelsfähigkeit der Gedankenmanipulation, etwas, von der er nie geglaubt hätte, dass er es einmal einsetzen würde.

      »Senke dein Schwert, Baka«, sagte er. »Du brauchst es nicht. Und deine Männer werden es auch nicht.«

      Baka blinzelte und sah verwirrt auf sein Schwert. Dann, nach einem Moment des Zögerns, schob er es zurück in die Scheide.

      »Senkt eure Waffen«, bellte Baka den Soldaten zu.

      Ein Gemurmel kam in der Menge auf, die hinter den Soldaten stand. Die Soldaten wirkten verwirrt, während ihre Augen zwischen Raphael und ihrem Anführer hin- und herschossen.

      »Ruhe!«, verlangte Baka. »Tut, was ich sage. Runter mit den Waffen.«

      Raphael ging weiter vorwärts und sprach weiter mit der melodischen Stimme. Er war erstaunt, dass die Soldaten begannen, denselben benommen Gesichtsausdruck anzunehmen, als er weitersprach. Es war das erste Mal, dass er Gedankenmanipulation einsetzte und er hatte nicht gewusst, wie mächtig er war. Er sah zu Obadiah und Rebecca hinüber, als er an ihnen vorbeikam.

      Obadiah lächelte ihn wissend an. Sein Blick war klar. Es schien, als ob die Gabe nur diejenigen beeinflusste, gegen die sie gerichtet war. Aber wie lange noch?

      Dann richtete Raphael seinen Blick nach rechts neben Obadiah und seine Augen begegneten Rebeccas. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. Hitze wallte in seinem Körper auf. Schnell wandte er den Blick von ihr ab und richtete ihn wieder auf Baka und seine Soldaten. Er musste sich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihm lag.

      Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Baka und sagte: »Es ist nicht nötig, irgendjemandem hier Schaden zuzufügen.«

      »Ich habe den Befehl erhalten. Alles und jeder sollen ausgelöscht werden.« Bakas Gesicht verzerrte sich.

      Wieder fühlte Raphael, wie Schuldgefühle in ihm aufstiegen, als er sah, wie sich das Gesicht des Mannes verzog, als er gegen Raphaels Einfluss auf seine Gedanken ankämpfte.

      »Weshalb wurde der Befehl erteilt? Die Menschen hier leben seit einiger Zeit friedlich außerhalb der Stadttore.«

      »Weil…« Bakas Gesicht verzerrte sich noch mehr. »Weil…«

      Raphael legte Baka eine Hand auf die Schulter. Er ignorierte sein protestierendes Gewissen, beugte sich vor und flüsterte: »Verrate es mir.«

      Mit glasigen Augen sah Baka ihn an. »Der Gouverneur fürchtet, dass ihre Anwesenheit Reisende davon abhalten wird, nach Ai zu kommen aus Angst, dass sie mit Krankheit geschlagen werden könnten. Sowohl die Truhen der Stadt, als auch seine eigenen, haben sich fast völlig geleert, seitdem sie sich vor den Stadttoren niedergelassen haben.«

      Raphael stieß ein tiefes Knurren aus, als Hass durch seine Adern peitschte. Wie eigennützig kann ein Mensch sein? Sie töten ihre Nächsten um des Reichtums willen!

      Er schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Dann erinnerte er sich daran, dass Baka erwähnt hatte, dass er dem Befehl von Rebeccas Vater unterstand. Ihr Vater war der Gouverneur. Er öffnete die Augen und warf ihr einen Blick zu. Eine Träne rann ihr über die Wange und sie biss sich auf die Unterlippe, um mutiger zu erscheinen. Wie konnten zwei Menschen so verschieden sein?

      »Ich verstehe«, sagte Raphael. »Vielleicht können die Leute an einen anderen Ort gebracht werden. Irgendwo fernab der Augen von Reisenden und von den Bürgern der Stadt Ai.«

      »Ich kenne einen Ort.«

      Beim Klang von Rebeccas sanfter Stimme setzte Raphaels Herz einen Schlag aus. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, als sich ihr schönes Gesicht vor ihn schob.

      »Vergib mir, mein Herr. Mein Name ist Rebecca. Ich bin die Tochter von Dathan und Sarah von Ai.«

      »Rebecca«, flüsterte Raphael, unfähig irgendetwas anderes zu sagen. Sie war ihm so nahe. Er bemerkte die leichte Röte, die ihre makellose Haut überzog, als sie sprach.

      »Hinter dem Hügel dort drüben.« Rebecca deutete in die Richtung, die den Stadttoren entgegengesetzt lag. »Dort gibt es einen Bach, der durch das Tal fließt. Ein paar Meilen stromabwärts gibt es eine offene Fläche, die hinter Felsen verborgen liegt. Das ist nicht einmal in der Nähe der Straße, die nach Ai führt.«

      Raphael war bezaubert von der Art, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie sprach. Ihm fiel gar nicht auf, dass sie nichts weiter sagte, bis Obadiah sich räusperte.

      Er riss seine Augen von ihr los und sah zurück zu Baka. »Wir haben also eine Lösung. Ihr werdet den Menschen helfen, zu diesem Ort zu ziehen.«

      Baka