Petra Pansch

War das ein Leben


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und natürlich, wie könnte es anders sein, auch gezankt. So könnte es eben ewiglich weiter gehen.

      Aber dann am 20. Juni 1917 ändert ein Brief dieses beschauliche Leben von jetzt auf gleich. Vater Ernst erhält seine Einberufung an die Westfront. Bis zu diesem Tag haben alle gehofft, dass sein wichtiger Beruf einen Fronteinsatz verhindert. Das Bündel wird geschnürt und tränenreich, aber natürlich mit der Hoffnung, dass er unversehrt wieder aus dem Krieg zurückkommt, verabschiedet sich der Soldat.

      Frida in ihrem blaugestreiften Kittelkleid steht dabei, dreht die Schleifenbänder an ihren blonden Zöpfchen und wundert sich, dass keiner, weder Schwestern noch Mutter und der heißgeliebte Vater, ihr Aufmerksamkeit schenken. Sie stellt sich auf Zehenspitzen und zieht Mutter am Schürzenband. Aber die scheint es nicht zu bemerken, sondern schnieft ins Taschentuch. Endlich kommt ihr Vater zu ihr und hebt sie zu sich hoch, herzt und küsst sie. Sein schwarzer, gezwirbelter Schnurrbart kitzelt ihr im Gesicht. Er sagt noch zu ihr, sie solle lieb und artig zur Mutter sein. Abends vor dem Schlafengehen solle sie ihn mit ins Gebet einschließen, denn er muss in den Krieg, fürs Vaterland, für Deutschland. Dann ist er weg.

      Das Leben geht weiter. Mutter Hilde greift jetzt wieder öfter zu Nadel und Faden und setzt sich an ihre Singernähmaschine. Aber nicht nur, um für die Familie zu nähen, nein, auch für die Nachbarschaft. Der Krieg ist jetzt überall spürbar, es fehlt an vielen Dingen. Zwar werden die Menschen satt, es gibt Kartoffeln, Kohl, Brot, Fett und ab und zu auch Fleisch, aber an vielen anderen Dingen für das tägliche Leben herrscht Mangel. Also ist es gut, wenn eine geschickte Frau aus alt neu machen kann. Es wird geändert, Säume werden verlängert und Bekleidung wächst nicht nur von Kind zu Kind mit, die Sachen werden regelrecht vererbt. So kann es schon mal sein, dass der Enkel Opas Konfirmationsanzug zu seiner eigenen Konfirmation trägt. Nur die Hosenbeine sind bei ihm viel zu kurz, denn „Fritzchen“ ist viel größer geraten als sein Vorfahre.

      So hat Mutter Hilde immer gut zu tun, da kommt Groschen zu Groschen. Die sparsame Frau zwackt den einen oder anderen ab, um ihn zu den anderen in die Zigarrenkiste zu legen. Dabei werden jedes Mal ihre Augen feucht, sie denkt an ihren Ehemann, der in dieser abgegriffenen Schachtel seine obligatorische Sonntagsnachmittagszigarre aufbewahrte. Sie denkt an die unbeschwerte Zeit, als sie glücklich alle fünf an den dienstfreien Wochenenden unterwegs waren. Quer durch die beschauliche Stadt oder hinaus ins Grüne, am Naugarder See entlang; den geflochtenen Korb und eine Decke für eine Rast unter schattigen Bäumen dabei. Selbstgemachte rote Limonade aus Kirschsaft, die sie scherzhaft Bärenblut nannten, löschte den Durst und leckere Butterbrote wurden verspeist. Vater Ernst paffte zum Abschluss seine dicke nach Vanille duftende Zigarre. Unter Tränen lächelt Mutter Hilde, als ihre Erinnerung dieses Bild für sie malt. Schnell klappt sie den Deckel der Zigarrenkiste zu und eilt wieder an ihre Arbeit.

      Die kleine Frida hat gar nicht mitbekommen, dass sie schon eine ganze Weile ohne die Mutter hier sitzt. Sie ist mit sich selbst beschäftigt und träumt gern vor sich hin. Sie braucht dazu keine Menschenseele. Mit bunten, schillernden Knöpfen und Garnrollen spielt sie. Heimlich greift sie zur großen Schneiderschere mit dem breiten, gezackten Maul. Das ist für sie der Drache, der die weiße Schneiderkreide frisst. Die kleine Blondgelockte ist ein stilles Kind, das sehr gerne hier in der Stube am Fenster sitzt und sich Geschichten ausdenkt. Abends im Bett erzählt sie ihrem Vater, der doch weit fort von ihr ist, was sie am Tag erlebt hat und bittet den lieben Gott, den sie sich als einen alten Mann mit weißem Wallebart vorstellt, so ähnlich wie der Bahnhofsvorsteher hier am Bahnhof von Naugard, dass er ihren Vater beschützt.

      Vom Vater hören sie ein paar Wochen nichts. Aber das sei nun mal so im Krieg, machen sie sich gegenseitig Mut. Dann endlich, Mitte Juli, kommt ein Brief. Der Briefträger, der jeden Tag von der Mutter gefragt wird und der nie etwas dabeihatte, übergibt ihr diesmal wortlos einen Umschlag. Mutter greift zu, reißt ihn auf, liest und sagt zunächst kein Wort. Sie hält den Brief an ihre Brust und schreit auf. Dann nimmt sie Frida in ihre Arme und drückt die Fünfjährige fest an sich. Vater ist tot.

      Auf dem „Schlachtfeld der Ehre hat er einen leichten Heldentod gefunden“, so steht es in dem Brief geschrieben und auch, dass er seine ewige Ruhe auf dem Schlachtfeld in Frankreich gefunden hat.

      Frida versteht das alles nicht, besonders weil sie doch jeden Abend für ihren Vater beim lieben Gott um seine Gesundheit gebetet hat. Mutter ist jetzt Witwe und seit diesem Tag ist sie nur noch schwarz gekleidet. Sie ist ab jetzt eine andere Frau, die nie mehr beim Nähen singt und keine Träume mehr für sich hat. Für Frida ändert sich zunächst nicht viel. Ihre beiden älteren Schwestern hingegen, spüren das Schicksal stärker. Die 19jährige Erna muss sich im Herbst von ihrem Verlobten Theo verabschieden, der einberufen wird. Sie wollten eigentlich in diesem Sommer heiraten, hatten es aber nach Vaters Tod aus Trauer und Respekt verschoben. Hiltrud, die zwei Jahre jüngere, die nie viel geredet hat, ist jetzt noch wortkarger, lebt zurückgezogen und hilft der Mutter beim Nähen. Nur mit der Mutter und den beiden Schwestern spricht sie. Ein paar Tage in der Woche geht sie einer ältlichen Witwe in der Nachbarschaft zur Hand und führt deren Haushalt.

      Das Geld im Hause Pautz muss jetzt noch akkurater verwaltet werden, die Preise für alltägliches explodieren inzwischen und die Mutter sitzt abends oft am Küchentisch und rechnet. Sie legt die Groschen von einem Haufen auf den anderen, aber auch so kann sie die drohende Notsituation nicht verhindern. Der Kriegswinter ist kalt, schneereich und kennt kein Erbarmen. Nur für die Kinder ist dieses Kältemonster eine Freude. Sie vergessen dabei die traurigen Dinge; der Schnee lädt zum Toben ein. Sie fahren mit viel Mut und gehörigem Schwung die vereisten Hügel hinab und schlittern heimlich auf den zugefrorenen Seen. Aber niemandem scheint das zu stören, die Erwachsenen haben anderes im Kopf. Nicht einmal Mutter Hilde schimpft mit Frida, die bei Einbruch der Dunkelheit mit blaugefrorenen Fingern und ohne ihre Fausthandschuhe nach Hause kommt. Die werden wir sicher morgen wiederfinden, meint sie nur und holt heißes Wasser aus der Wasserpfanne des Küchenherdes, um für Frida eine Wärmflasche zu machen. Der Küchenherd ist derzeit die einzige Wärmequelle in der Wohnung, denn der Kachelofen in der guten Stube muss kalt bleiben, Brennholz und Kohle sind knapp und teuer.

      Mutter Hilde plagen noch andere Sorgen und auch ihr gütiges Lächeln hat sie verlernt. Die Zukunft ihrer älteren Töchter bereitet ihr großes Kopfzerbrechen. Sie möchte beide gut versorgt wissen und sie nicht als alte Jungfern versauern und verblühen sehen. Also überlegt sie hin und her, betet zu Gott mit der Zuversicht, dass er ihr helfen wird. Hoffentlich kommt Theo, Ernas Verlobter, heil aus dem Krieg zurück und sie können dann heiraten, so hofft sie. Sie streckt ihre Fühler aus, um auch für die stille Hiltrud einen Mann zu finden. Da wäre ihr schon eine große Sorge genommen, wenn es gelingen würde. Um die Ecke hier im Ort lebt ein kinderloser Witwer, der wegen eines Beinleidens nicht in den Krieg ziehen musste. Eine Schönheit ist er zwar nicht, aber er macht einen soliden Eindruck und bekommt darüber hinaus eine gute Pension. Das wäre doch die Lösung, um Hiltrud unter die Haube zu bringen. Für Frida, ihrer kleinen Prinzessin, könnte sie dann besser sorgen. Sie steckt alle ihre Wünsche und Sehnsüchte in diese kleine Person, die wie ein Sonnenschein durch jeden Tag lacht. Zum Glück tut sie das, Kinder vergessen sehr schnell und außerdem meint Frida, dass sie ihren geliebten Vater eines Tages im Himmel wieder trifft und sie dort alle zusammen weiterleben werden. Das hat sie sich so ausgemalt und sie plappert jeden Tag darüber, wie es sein könnte, mit der Eisenbahn durch den Himmel zu fahren.

      In der Zwischenzeit wird es Frühling im Kriegspommern, dann Sommer, dann Herbst …und endlich im November 1918 ist dieser Krieg zu Ende.

      Auch der Kaiser ist weg. Aber hier in Pommern merken die Menschen nicht viel von den politischen Veränderungen. Die Not bleibt weiterhin. Lebensmittel, Kohle, Holz, einfach alles, was jeder so notwendig braucht, ist rationiert. Menschen stehen frühmorgens frierend in der Dunkelheit vor den Geschäften und warten geduldig auf das Wenige, was es zu kaufen gibt. Mutter Hilde ist jeden Tag unterwegs, dick eingemummelt in Schals und mit Kopftuch, um wenigstens ein paar Kartoffeln, einen Hering, Kohl oder Graupen und Brot zu ergattern. Zum Glück ist Theo, Ernas zukünftiger Ehemann, unversehrt aus dem Krieg zurückgekommen. Wenigstens ein Lichtblick in dieser trüben Zeit. Die beiden wollen nun endlich heiraten und bereden eifrig, wie sie in diesen kargen Zeiten ihre Hochzeit richten können. Mutter Hilde stiftet ihr eigenes Hochzeitskleid, das sie vorsichtig aus der Eichentruhe