Bernhard Hennen

Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval


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Wir erstarren vor banger Ehrfurcht und werden gleichzeitig schwerelos vor Erleichterung, als die Musik unsere nichtigen Existenzen für die Dauer eines Lieds in sich aufhebt. Gebannt beobachten wir die Flötenspielerin, deren Melodie das Lied bestimmt, und sehnen uns danach, im Klang ihres Instruments aufzugehen, das die Makel der menschlichen Stimme überwunden hat.

      Für die Dauer des gesamten Konzerts rühren wir uns nicht vom Fleck und saugen die Klänge in uns ein. Fabians Gesicht nimmt bei den gesungenen Passagen einen verklärten Ausdruck an und seine Lippen murmeln manche Worte mit. Sandrina hat die Augen geschlossen und lässt ihren Körper leicht von der Musik hin- und herwehen. Nur Michael scheint seltsamerweise als Einziger nüchtern zu bleiben. Ab und zu blickt er um sich oder schüttelt sich, wie um sich von einem unangenehmen Gedanken zu befreien. Auf seinem ebenmäßigen Gesicht bilden sich von Zeit zu Zeit misstrauische Falten.

      Die Lieder gleiten meist von einem ins nächste oder aber sie sind nur von kurzen Pausen unterbrochen, in denen die Musiker ihre Instrumente neu arrangieren. Sie folgen mit ihrem Spiel einer festen Ordnung und nehmen dabei vom Publikum kaum Notiz. Nur einmal zwischendrin streift der Blick der Flötenspielerin müßig die Reihen der gebannten Zuhörer und scheint dabei direkt an uns, die wir vorne stehen, hängenzubleiben. Eine seltsame Intensität geht von diesem Blick aus dunklen Augen aus. Unscheinbar wie die Frau ist, mit ihrem schlichten Gewand und den schwarzen geflochtenen Haaren, trifft ihr Blick uns tief unter die Haut und macht uns frösteln. Michael tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. Eine leichte Irritation rollt über ihre ruhig konzentrierte Miene, bevor sie den Blick wieder in sich kehrt und die Doppelflöte für das nächste Lied an die Lippen setzt.

      Viel zu früh verlassen die Musiker die Bühne und kommen erst nach langen Minuten tosenden Applauses für eine Zugabe zurück. Sie tuscheln untereinander und scheinen kurz etwas verloren. Anscheinend haben sie kein Lied für eine Zugabe geplant. Dann jedoch wendet sich die Flötenspielerin von den anderen ab, blickt in den Himmel und beginnt zu spielen. Die übrigen Bandmitglieder wechseln ratlose Blicke und legen dann ihre Instrumente nieder. Die Bühne gehört allein ihr. Sie improvisiert und dieses, ihr neues, Lied unterscheidet sich von den vorangegangenen. Die jubilierende Ordnung, die ihr Instrument bisher verströmt hat, ist dahin. Sie zögert, spielt sich leise in die Luft, setzt neu an, und plötzlich bricht es aus ihr hervor: sich überschlagende, ungezügelte Töne, die teils dissonant übereinander purzeln und mit archaischer Kraft den Himmel erstürmen. Wir ahnen Schwindel und Abgrund in der Musik und tanzen wie hypnotisiert. Auf Gedeih und Verderb werfen wir uns in den taumelnden Sog der Töne, doch dann ist es mit einem Mal vorbei und die Melodie bricht ab. Die Flötenspielerin blickt ins Publikum, als wäre sie aus einem Traum erwacht, dann verlässt sie hastig die Bühne. Die anderen folgen ihr und das Konzert kommt zu einem abrupten Ende.

      Den restlichen Abend verbringen wir wie schlafwandelnd. Die Welt verblasst und wir sind erschöpft. Gleichzeitig hat der Auftritt von Satyrika eine Unruhe in uns hinterlassen. Ziellos wandern wir für eine Weile auf dem Gelände herum, trinken etwas und gehen dann hinunter ans Lagerfeuer. Anna braucht diesen Abend lange, um in ihre Musik hineinzufinden, zu sehr hallt das Konzert in ihr nach, das hinter sich keine Normalität aufkommen lassen will. Doch irgendwann fallen wir hinein in die trostreichen Lieder und alles nimmt seine vertrauten Formen an. Die Nacht hüllt uns in ihren heimelig sehnsüchtigen Mantel. Und wir spüren sogar eine leichte Veränderung und fragen uns, spät am Abend, ob nicht unser Erlebnis mit Satyrika einen neuen Glanz, eine neue Tiefe auf die Nacht und in die Musik gelegt hat.

      3 Ekstase

      Der dritte Tag atmet schon vagen Abschiedsschmerz, der den Geschehnissen einen bittersüßen Geschmack gibt. Wir treffen uns nachmittags im Chai-Zelt, trinken Tee und genießen die angenehme Schwere der Erschöpfung, die die kurze Pause vom bunten Taumel uns spüren lässt, als Fabian als letzter der Gruppe atemlos hinzukommt.

      »Ich habe mit ihr gesprochen«, sagt er, noch ehe er sich hingesetzt hat.

      »Ganz ruhig, was ist denn mit dir los? Mit wem hast du gesprochen?«, fragt Moritz träge.

      »Mit Adrastea, der Flötenspielerin! Sie lief einfach so allein über den Handwerkermarkt und dann hat sie mich gesehen und mit mir gesprochen.«

      »Ah ja, die von Satyrika? Wie konnte das passieren, du sprichst doch sonst nicht einfach Leute an?«

      »Hier, trink erstmal«, sagt Anna und schiebt ein großes Glas Tee mit Schuss in Fabians Richtung. »Oder hast du sie so lange angestarrt, bis sie nicht anders konnte, als auf dich aufmerksam zu werden?«

      Fabian wird etwas rot, geht aber über den Kommentar hinweg.

      »Sie war freundlich, ganz anders, als ich gedacht hätte, und hat mir so viel erzählt … Darüber, welche Texte sie in ihren Liedern verwenden und wie sie antike Melodien rekonstruieren. Das war wahnsinnig interessant. Ich hab ihr erzählt, dass ich etwas Altgriechisch kann und da hat sie sich wohl gefreut und mich gefragt, wie ich das Konzert fand und wie viel ich verstanden habe. Da konnte ich aber nur stammeln und es nicht in Worte fassen. Jedenfalls, am Ende hat sie gesagt, dass die übrigen Bandmitglieder schon weg sind, sie aber diese Nacht noch hierbleibt und da habe ich gefragt … also ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat … jedenfalls habe ich gemeint, wir machen immer Musik unten im Lager und ob sie nicht abends zu uns kommen möchte, wenn sie Lust hat.«

      »Was? Und was hat sie geantwortet?«, fragt Michael auf einmal hastig.

      »Sie hat kurz nachgefragt, wer wir sind, und hat gemeint, sie überlegt es sich. Dann hat sie geheimnisvoll gelächelt und ist verschwunden.«

      Fabians Augen verlieren sich für einen kurzen Moment in der Ferne, bevor er rigoros den Kopf schüttelt, um sich wieder ins Hier und Jetzt zu bringen. Wir sind seinem Bericht fasziniert gefolgt, doch Tom wedelt die schwebende Möglichkeit beiseite.

      »Ach, das macht sie doch nicht! Sie hat es nur gesagt, weil sie nett sein wollte.«

      Wir kommen von unserem kurzen Höhenflug herunter und gestehen uns ein, dass Tom wohl recht hat. Michael scheint sogar heimlich aufzuatmen und auch in Fabians Gesicht schleicht sich nach der ersten Enttäuschung so etwas wie Erleichterung.

      »Ja, wahrscheinlich«, sagt er, »weil sie nett sein wollte. Vielleicht ist es besser so. Ehrlich gesagt hat sie mir ein klein bisschen Angst gemacht. Sie hatte so etwas … Strenges. Und ihre Augen …«

      Seine Stimme verliert sich und das Thema ist beendet.

      Diesen Abend sind wir schon früh unten am Feuer, da das Festivalgelände am letzten Tag früher geschlossen wird. Wir sind schon sehr betrunken. Wie immer verspricht der letzte Abend zu eskalieren, denn es gilt, alle übrigen Flaschen zu leeren und das Aufwachen in der Wirklichkeit möglichst lange und intensiv hinauszuzögern. Tom und Beate trommeln zu Annas ausgelassenen Trinkliedern und Moritz packt seine kleine Flöte aus, mit der er sich darin versucht, laut und schief den Refrain mitzuspielen. Nele grölt abwechselnd mit und stiert dann wieder mit glasigen Augen ins Feuer, während sie große Schlucke aus einer halbleeren Rumflasche nimmt.

      Mit der fortschreitenden Nacht weichen die Grenzen zwischen uns auf und wir beginnen, unmerklich ineinander zu fließen. Neles Kopf fällt schwer in Sandrinas Schoß, wo er von ihren weichen Fingern umschlossen wird. Tom und Beate nehmen Moritz in ihre Mitte, der seine Flöte weggelegt hat und sich an Tom anschmiegt wie eine Katze. Nur Katrin versucht noch, mit Toms Trommel einen Rhythmus aufrechtzuerhalten, während Anna Michael eng umschlungen hat und es dabei weiterhin schafft, der Gitarre Liederfetzen zu entlocken. Es ist nicht auszumachen, ob es Annas oder Michaels Finger sind, die über die Saiten gleiten und wie zufällig manchen wohlklingenden Akkord greifen.

      Schließlich ersterben die Gitarrentöne. Eine Weile lang sind nur ab und zu ein leises Kichern oder ein freundlich gemurmeltes Wort zu hören und davon abgesehen nichts als das Knistern des Feuers und der still wabernde Nebel. Bis irgendjemand von uns in die Stille hinein eine zarte Melodie zu singen beginnt. Nach und nach stimmen wir alle mit ein in das wohlbekannte Lied und das Band der Melodie webt uns zusammen, tanzt mit den Funken und schwingt sich heiter hinauf in die Nacht. Unser Lied wogt, mal lauter und mal leiser, durch uns hindurch und über uns hinweg, während wir warm und wohlig ums Feuer herum liegen. Nach einem nicht