Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte


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und entdeckte zwischen den Höhenlinien den unbekannten Namen. Sie fuhr sich ein paarmal durch die weizenblonden Haare, und ihre weibliche Intuition erkannte sofort, dass die Zukunft begonnen hatte, aber nicht ganz so, wie sie es sich wünschte.

      Und bei diesem Gedanken gingen ihre Hände unwillkürlich zu der Rundung ihres Bauches, wo Romeo Tini ruhig schlief, und streichelten ihn.

      Im Gepäckwaggon kann Giovannino vor Aufregung weder sitzen noch stillstehen.

      Unaufhörlich bewegt sich seine kräftige, den landesweiten Durchschnitt deutlich überragende Gestalt von einem Ausguck zum anderen, um zwischen den Dampfwolken der Lokomotive auf das weite grünende Flusstal des Lamone hinauszublicken.

      Seiner stattlichen körperlichen Erscheinung und den dunklen, entschlossenen Augen zum Trotz hatte Giovannino Tini das zögerliche Herz eines Krebses, schien ihm der Schritt zurück doch umsichtiger als der Gang nach vorn. Er selbst hatte in der nächtlichen Intimität des Ehebettes, nach der mit unbeschwerter Freude genossenen Lust, Lucia die Ängste und Befürchtungen seines jungen Lebens anvertraut. Einige davon waren die üblichen Ängste: die Gesundheit zu verlieren, zu erkranken, zu sterben, zu verarmen und verlassen zu werden, andere entsprangen der Rolle des Erstgeborenen, die das Schicksal ihm zugedacht hatte und die er als eine unbedingte Pflicht empfand, eine Schuld, die er – niemals ausreichend – bei den Eltern abtragen musste. Bei der Arbeit war er ein Mann, gründlich, ehrlich, gewissenhaft, in der Familie aber blieb er ein kleiner Junge und zögerte, sich die erforderliche Unabhängigkeit zu erwerben, unumgängliche Verantwortlichkeiten zu übernehmen, wahrscheinlich weil er davor zurückschreckte, eigene Positionen zu vertreten oder sich in irgendeiner Weise der väterlichen Autorität entgegenzustellen. Im Grunde freute Lucia sich über diese Geständnisse, denn sie zeugten vom Vertrauen ihres Mannes und zeigten, wie sehr er sich von den Männern der Romagna unterschied, allesamt einem Denken in starren Kategorien verhaftet, das die Welt in unabänderliche Zuständigkeitsbereiche unterteilte: Das macht die Frau, dies steht dem Mann zu, ein Denken, das psychologische Rücksichten jedweder Art nicht duldete.

      Also überlegte die aufgeschlossenere junge Ehefrau, dass ein Mann, der bereit war, die eigenen Schwächen und Ängste zuzugeben, ein achtsamerer Mann war, der mehr dem Zweifel zuneigte und folglich auch befähigt war, erwachsen zu werden. Andererseits, dachte sie unter ihrem weizenblonden Schopf, liebte sie ihren Giovannino gerade darum, und solange es die Liebe gibt, erlauben Irrtümer, sich gegenseitig Gutes zu tun. Alles andere würde man sehen, wenn es da war, wie es so schön heißt.

      Während dieses rastlosen Umherirrens von einem Ausguck zum anderen rät sein zögerliches Herz dem Bahnhofsvorsteher, Schweigen zu wahren und Lucias Blick zu meiden. Bei seinem Hin und Her folgte ihm der treue Hund Pipito, vier Flecken, schwarzer Kopf auf cremefarbenem Grund mit Kurzhaarfell. Nie hatten sie ihn bellen hören, seine einzigen Ausdrucksformen bestanden aus Jaulen und Zähnefletschen. Das Jaulen verfügte über ein recht komplexes Tonspektrum und bedeutete ja oder nein, aber zwischen diesen beiden Willensbekundungen gab es viele Varianten. Das Zähnefletschen behielt er echten oder vermeintlichen Feinden jedweder Größe vor, und damit bewies er Mut, denn er selbst besaß keine Respekt einflößende Statur. Doch der eigentliche Grund, warum erst Giovannino und dann Lucia diesen Findling liebgewonnen hatten, lag in der Art, wie der Hund am Leben teilnahm: In seinem Körbchen zusammengerollt, warf er häufig resignierte Blicke in die Welt, um dann besorgte Seufzer auszustoßen.

      Lucia, die auf dem Ruhesessel des Zugführers saß, verspürte keine Lust, aus dem Fenster zu sehen, obwohl sie diese kurvenreiche Eisenbahnstrecke kaum kannte. Sie war eine willensstarke Frau, und wie auch immer dieses Fornello aussehen würde, sie würde es in Besitz nehmen, und es würde ihr Zuhause werden. Sie erwartete eine kleine Ortschaft, wenige Häuser, im Schatten des Kirchturms zusammengedrängt, mit dem eleganten Faenza in puncto Lebensart gewiss nicht vergleichbar. Aber sie hatte lang genug gelebt, um zu wissen, dass Verzicht immer nur vorläufig ist und andere Erfahrungen mit sich bringen kann. Schließlich waren sie beide vereint, und dieses erwartete Kind – das beide sich als Jungen wünschten – würde die Wahrheit ihrer Verbindung beglaubigen.

      Noch flogen vertraute Stationen und Orte vorüber: Brisighella, Strada Casale, San Martino in Gattara. Winzige Bahnhöfe – manchmal nur zwei Fenster, eine Tür, daneben ein Hühnerstall – in einer naiven, tröstlichen Farbe, ein Rosa, das an jedem anderen Ort unstimmig gewesen wäre. Doch in diesem Tal, wo man Häuser aus Stein in Ocker und Aschgrau sah und fast keines verputzt war, zeugte eine so fröhliche Farbe vom Vorüberziehen einer Andersartigkeit, der möglichen Ankunft von Fremden. Weiter vorn wurde das Tal enger, und die ersten kurzen Tunnel tauchten auf. Der graue Rauch wurde durch die Fenster eingesogen, und Giovannino schloss sie, trotz der schwülen Junihitze.

      Am Bahnhof von Marradi hielt der kleine Zug, er musste einen entgegenkommenden Zug aus der Toskana abwarten, und die Fenster wurden wieder geöffnet. Neugierig geworden, blickte Lucia hinaus, und es tröstete sie, als sie ein Städtchen sah, klein, ja, aber mit schönen Häusern und gepflasterten Straßen, Kutschen und sogar einem vorüberfahrenden Auto.

      »Wird Fornello auch so sein?«

      Giovannino antwortete nicht, weil er nicht antworten wollte, er deutete ein Schulterzucken an.

      Die Lokführer nutzten den Halt, um aus der keuchenden Raupe zu steigen und sich an der Wasserpumpe zu erfrischen. Als der ältere der beiden sich die Mütze abnahm, enthüllte er eine kreisrunde Kuppel aus weißen Haaren, die zu seinem rußgeschwärzten Kopf in seltsamem Kontrast stand. Entschlossen steckte er den Kopf unter den Wasserschwall, rieb sich mit den Händen Gesicht, Hals und Nacken und kam wie durch ein Wunder entfärbt wieder zum Vorschein.

      Giovannino und Lucia beobachteten die Szene, und während sie ihm normal erschien, prägten sich der Ablauf des Rituals und die erzielte Wirkung seiner Frau tief ein. Im Moment selbst sahen es nur die blaugrünen Augen, doch diese Szene sollte ihr später, sehr viel später wieder einfallen.

      Er rollt, der kurze Zug, er rollt mit seinem Federbusch aus Rauch, der sich flach ausbreitet, und es scheint mehr Tunnel zu geben als Abschnitte unter freiem Himmel. Er transportiert eine Familie, einen stummen Hund, zwei Fahrräder, einen Schrank, zwei Matratzen, eine Aussteuer, Kleider, eine Bahnhofsvorsteheruniform, Hoffnungen, Ängste.

      Die Fahrräder waren das Ergebnis von Giovanninos mehrdeutigem Schweigen. Lucia hatte sie kurzerhand in das umzugsfähige Hab und Gut eingeschlossen, denn sie stellte sich ein zwar kleines Städtchen, aber immerhin ein Städtchen vor, also mit Straßen, einem Spazierweg, Feldern ringsum, und hielt es darum für möglich, die Räder mehr oder weniger wie in der Ebene zu benutzen. Eine romantische Vorstellung. Ihr Mann, der die Fahrräder bereitgestellt sah und schon wusste, was sie in Fornello erwartete, hatte sich keinen Einwand erlaubt, nicht mal eine verräterische Bemerkung war ihm entschlüpft.

      Nach Marradi wurde die Eisenbahnstrecke kurvenreich, faszinierend, mit ihren Spiralen, durch die sie an Höhe gewann, mit ihren schlanken Viadukten aus Stein und dem ständigen Wechsel aus blendendem Licht und Dunkel.

      Hinter dem Städtchen Crespino öffnete sich ein viel längerer Tunnel, der dem Ehepaar wie eine mit beißendem Rauch erfüllte Ewigkeit erschien. Am Ausgang kniffen sie die Augen zusammen, um nicht vom Sonnenlicht geblendet zu werden. Die Lokomotive wurde langsamer. Felswände und Stützmauern trugen hellgelbe Flecken aus Strauchkronwicken und prächtig blühenden Ginsterbüschen, als hätten sie den Auftrag, Lucia und Giovannino willkommen zu heißen.

      Aus dem Fenster des Gepäckwaggons sah der neue Stationsvorsteher, wie der Horizont sich nach der Kurve weitete, die Berghänge ein wenig von ihrer erstickenden Schroffheit zurückwichen, ein Wasserturm mit Steigleiter und gleich darauf der rosafarbene Bahnhof erschienen. Die Lokomotive bremste, und Giovannino bemerkte zwei reglose Silhouetten auf dem Bahnsteig vor dem Eingang. Lucia trat zu ihm, er legte ihr beschützend eine Hand auf die Schulter und strich über ihre zum Pferdeschwanz gebundenen Haare. Sie drehte den Kopf, um zu ihm aufzublicken, und ihre Augen wurden größer und strahlender. Aber ihr Ausdruck war besorgt.

      Der Zug hält mit dem üblichen Protestkreischen der Bremsklötze. Einige Sekunden lang ist da nur der ächzende, müde Atem des Kessels, dann öffnet sich die Tür des Gepäckwaggons, und die