Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte


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Physiognomien, Merkmale und, als das Pflichtgefühl sich Mut machte, auch eine Stimme.

      »Guten Tag! Seid Ihr der neue Bahnhofsvorsteher?«

      Der Erste, der ausstieg, war nicht Giovannino, sondern Pipito. Er sprang die Stufen des Trittbretts hinunter und beschnüffelte die Hosen des Mannes, der gesprochen hatte, danach die des anderen, der, die Mütze in den Händen, stumm geblieben war. Ein gelassenes Schnüffeln, ohne Jaulen und Zähnefletschen, eine vertrauensvolle Kenntnisnahme der Neuigkeit, um dann zwischen den beiden Platz zu nehmen und schwanzwedelnd zu warten, als wollte er sagen: »Nun, worauf wartet ihr, kommt, ihr seid dran!«

      Derjenige, der nicht gesprochen hatte, ein Mann ohne Alter, wenn nicht dem des Lebensabends, mager, sonnendunkle Haut, nahm eine Hand vom Mützenrand und schenkte Pipito ein Streicheln, die Freundschaft war geschlossen.

      »Ich bin der neue Bahnhofsvorsteher.«

      Giovanninos Antwort hat die Wirkung eines Startschusses.

      »Ich heiße Cenci Rinaldo, ich bin der zweite Stationsvorsteher, und das ist Mori Sebastiano, der Briefträger … Wir müssen uns beeilen, bis zur nächsten Durchfahrt ist es nicht einmal mehr eine Stunde, öffnet die Schiebetür …«, und beide gehen zum Waggon, dessen Tür darauf wartet, geöffnet zu werden.

      Lucia beobachtet alles, und ein Angstkloß verschließt ihr die Kehle. Dieser Ort vor dem Viadukt, dieses Dickicht aus Bäumen und Ginsterbüschen um den Bahnhof, dieser Abgrund hinter dem Gebäude, der eine Schlucht oder einen Sturzbach verbergen konnte, diese Mergelschichten, die sich zwischen der Macchia hervordrängten, vermittelten ihr das Bild eines Exils, das Gefühl einer unüberwindlichen Feindseligkeit. Da halfen auch nicht das Glühen der Farben, der Duft des Ginsters, die Klarheit der Luft und die Stille in der Ferne, deren Übermacht man ahnte. Für Augenblicke, lang wie eine heilige Messe, ließ ihr weiblicher Instinkt sie taumeln unter dem Gewicht einer Realität, die stärker war als sie.

      Inzwischen hatte Giovannino energisch am Griff der Schiebetür gezogen und Rinaldo beim Einsteigen geholfen. Dieser zog rasch die Truhe mit der Aussteuer heraus und übergab sie Sebastiano, ergriff flugs die Koffer, die Matratzen und die Fahrräder – vom zweiten Bahnhofsvorsteher und dem Briefträger mit verwunderter Neugierde gemustert –, und schon war der wenige Hausrat ausgeladen, der den Umzug der Familie Tini bildete.

      »Bei dem Schrank müsst Ihr mir helfen, Signor Capostazione!«, befahl Rinaldo mit fester Stimme, und Giovannino gehorchte gern, um sich vom Gedanken an seine Frau abzulenken, deren Beklemmung er gespürt hatte. Angesichts der frenetischen Aktivitäten wegen der erwarteten Durchfahrt eines Zuges kam Lucia wieder zu sich, und es war, als schüttelte sie ein Netz, ein Hindernis ab. Sie stieg aus dem Zug, den Saum ihres Rocks in der Hand, damit er sich nicht im Trittbrett verfing. So wie sie mit einer Hand den Rock hielt, die andere Hand am Geländer, übertrugen sich die Sinnlichkeit der wehenden Haare, die Anmut des ernsten Gesichts und der Stolz des Blicks auf die ganze Erscheinung ihres Hinabsteigens, und die beiden improvisierten Lastenträger blieben verzückt stehen, als sähen sie diese Frau zum ersten Mal.

      Es ist ein kurzes Innehalten, unwillkürlich, respektvoll und bewundernd, und zeigt Giovannino, dass sie eine solche Frau in dieser Gegend wirklich noch nie gesehen haben.

      Das Ausräumen des Gepäckwagens ging rasch vonstatten und ließ den Waggon leer zurück.

      Der Lokführer und der Heizer, die die Szene vom Gehweg aus verfolgt und sich jeder Form von Mitarbeit enthalten hatten, außer viele Zigaretten der Marke Serraglio zu rauchen, nahmen mit einer gewissen Eilfertigkeit ihren Platz wieder ein, verabschiedeten sich von Giovannino und Gattin, begannen wie verrückt Kohle in den Kessel zu schaufeln, worauf der Zug sich mit üppigen grauen Rauchwolken wieder in Bewegung setzte.

      »Nach Ronta! An der Kreuzung geht’s nach Ronta! Viel Glück, Tini …«, schrie der Lokführer in väterlichem Ton, und der gute Wunsch verhallte im Rauch. Die Lokomotive entfloh in Richtung Monzagnano-Tunnel, und vor dem rosa Bahnhof blieben der Hausrat der Familie Tini, der Hund der Familie Tini, die gegenwärtige und zukünftige Familie Tini mit dem zweiten Stationsvorsteher Cenci Rinaldo und dem Gehilfen Mori Sebastiano, die Mütze wieder in der Hand, zurück.

      Sie alle standen dort am 18. Juni 1935 um elf Uhr zwei Minuten mit dem Gefühl einer Frage, der sie keine einzige Antwort entgegenhalten konnten.

      Das Bahnhofsgebäude

      Das Bahnhofsgebäude bestand aus zwei Stockwerken plus Gemeinschaftskeller. Im Erdgeschoss befanden sich das Betriebsbüro, der Fahrkartenverkauf und ein Wartesaal mit polierten Nussbaumbänken um einen Kachelofen. Zwei Zimmer mit Küche bildeten die Wohnung des zweiten Stationsvorstehers.

      Die Treppe mit schmiedeeisernem Handlauf führte in den ersten Stock, wo der gesamte Raum des darunterliegenden Stockwerks die Wohnung des Stationsvorstehers bildete. Und die Wohnung verfügte über einige in der Gegend unbekannte Annehmlichkeiten wie Toiletten, einen Becchi-Ofen und das kostbare Gut des elektrischen Stroms.

      All das weiß Lucia noch nicht, Giovannino weiß mehr. Er hat diese Strecke nicht oft befahren, doch oft genug, um sich zu erinnern, und der Bahnhof ist ihm nicht unbekannt. Aber Fornello sollte auch für ihn eine Überraschung bereithalten. Nachdem sie den Hausrat auf dem Bahnsteig stehen gelassen haben, übernimmt es Rinaldo mit einem gewissen Stolz, die Familie Tini bei der Besichtigung der Wohnung, die von diesem Tag an ihr Heim sein wird, zu begleiten. Mit unvermuteter Galanterie öffnet der zweite Stationsvorsteher Lucia die Haustür, zeigt ihr die Treppe, reicht einen Arm, um ihr beim Aufstieg behilflich zu sein und präsentiert die Tür ihrer zukünftigen Wohnstatt.

      Lucia zögerte. Räume haben besondere Maße, heimliche Tiefen, die man erst mit der Zeit oder eben nur in besonderen Momenten erfassen kann. Sie atmete langsam ein, sog die Luft auf, als wäre sie parfümiert und nicht der abgestandene Mief geschlossener Räume. Sie spürte die Nähe ihres Mannes und legte wieder unwillkürlich die Hand auf ihren runden Bauch, ein beschützender Reflex in der Ungewissheit. In diesem Moment war sie ein neues Tier in neuer Umgebung, einer Umgebung, die ihren Erwartungen nicht entsprach und deren Räume, Eigenart und gelebte Bedeutung sie bestimmen musste, um sie voll und ganz akzeptieren zu können. All das geschieht ohne meine Kontrolle, dachte sie, und ich muss es ertragen. Dieser Beginn erschien ihr nicht als der bestmögliche, aber sie hielt sich für stark genug, ihm standzuhalten.

      Giovannino, dem es nicht an Sensibilität mangelte, verstand das Zögern seiner Frau, die ungewisse Welt, in der sie sich bewegte. Aber in dieser Krisenzeit zählte alles, was man bekommen konnte: Das bessere Gehalt als Bahnhofsvorsteher, der Karrierefortschritt und vor allem die Aussicht auf eine zukünftige Versetzung waren gute Gründe für ihre Anwesenheit in Fornello. Und so schritt er, von einem etwas forcierten Optimismus erfüllt, den die Ausstattung und Weite der Wohnung jedoch beflügelte, als Erster über die Schwelle ihres neuen Heims.

      »Sieh mal, Lucia, es gibt sogar elektrischen Strom …«, und er drehte den Knopf aus Keramik, worauf die Deckenlampe aufleuchtete. Sebastiano beobachtete hingerissen, wie der Leuchtdraht glühend hell wurde, lächelte zufrieden über dieses durch Zauber erzeugte Licht, und endlich vernahm man seine Stimme: ruhig, gesittet, tief.

      »Elektrischen Strom hat hier niemand.«

      Das bedeutete, dass sie sich als Privilegierte betrachten sollten, und er sagte es nicht aus Neid. Fast schien er einen sozialen Abstand bestätigen zu wollen, ihre Zugehörigkeit zu einer Kaste, die der Zufall oder das Schicksal zur Überlegenen bestimmt hatte, und damit drückte er schon seine Anerkennung der Neuankömmlinge aus. Denn so ist es ja, Privilegien machen die Unterschiede aus, und Unterschiede bilden die Abstände zwischen den Menschen.

      Die Wohnung war groß, gut gepflegt und komfortabel. Öffnete man die Fensterläden, ließ sie sich mit weichem Licht füllen, und Pipito erforschte sie bis in alle Ecken, jene Bestimmung der Räume vornehmend, die Lucia in ihrer Verwirrung nicht vermocht hatte. Und da Pipito sich als Hund mit bescheidenen Ansprüchen betrachtete, beendete er den schwierigen Vorgang mit dem ersten Jaulen, seit er aus dem Zug gestiegen war: ein zustimmendes Jaulen.

      »Wohin führt diese Tür?«

      Auf dem