Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte


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um mit dieser Station nicht unzufrieden zu sein. Wie vielen Italienern, obgleich eine Minderheit, war ihm die politische Situation, die sich in Europa zusammenbraute, nicht geheuer. Noch komplizierter wurde sie durch die jüngste Nachricht von der deutschen Wiederbewaffnung, diesen Kanonen, die den Frieden garantieren sollten, aber Kanonen blieben, und in seinem Krebsherzen entdeckte er jeden Tag eine neue Sorge, ein unheimliches Vorgefühl, eine Furcht. Darum, so Giovannino Tinis schlicht pragmatische Schlussfolgerung, war es besser, an einem Ort zu leben, der weniger von Gott als vielmehr von den Menschen vergessen war.

      Lucia begann den neuen Tag mit anderen Aussichten. Das nächtliche Gewitter, dessen klar gegliederter Ablauf im Flachland undenkbar war, hatte sie nicht nur als Zeichen des Willkommens erlebt, sondern, und das war sehr wichtig, als die Preisgabe einer unbewussten Neutralität. Bis jetzt war es ihr so vorgekommen, als führte sie ein Leben im Wartezustand, sie hatte darauf gewartet, dass das Leben begann, sie hatte darauf gewartet, etwas tun zu dürfen, und auf eine unbekannte, aber nicht fremde Heimat. Einfach ein Warten. Und jetzt dachte sie darüber nach: Sie wartete auf das Leben, weil sie es leben wollte und Geschenke vom Leben haben wollte – schöne oder hässliche –, die ihm einen unwiederholbaren, ganz eigenen Sinn geben würden. Diese abgeschiedene Bahnstation mit ihrem naiven Rosa zwischen den Ginsterbüschen stellte eine Herausforderung, eine Provokation dar, und in ihrem Inneren spürte sie, zusammen mit diesem Kind, die nötige Energie, um die angebotene Chance wahrzunehmen. Jeder Tag würde eine neue Eroberung sein, eine Erfahrung, die zum Gepäck der Seele hinzukam. Entschlossen bestätigte sie, dass sie dazu bereit war.

      So war sie die Erste, die aus dem Bett stieg, auf das Tal hinausblickte und sich an den kräftigen Farben des frühen Morgens erfreute. Wohlgemerkt, sie war die Erste, die in diesem Haus auf den Beinen war, denn auf den feuchten Berghängen und in den Wäldern sah sie Menschen Heu mähen und Tiere grasen.

      Am Vorabend hatte Rinaldo ihnen eine Flasche Milch dagelassen.

      »Das ist gute Milch, Ihr werdet es schmecken. Man bringt sie mir frisch von den Häuschen dort drüben«, und er hatte nach oben gezeigt, nach Norden, zum Bergkamm hin.

      Lucia machte den Petroleumofen an und stellte die Kanne aus Aluminium darauf, nachdem sie zwei Tassen der pastösen Milch hineingegossen hatte, die dickflüssig war wie Sahne. Dann schnitt sie vier Scheiben vom Brot aus Kastanienmehl ab, auch dies ein Geschenk von Rinaldo: »Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch morgen zum Einkaufen nach Gattaia runter. Wir stellen zwei Bütten auf das Fahrrad, dann dient es wenigstens als Lastesel …«

      Lucia hatte zugestimmt.

      Der erste Zug fährt um sieben Uhr durch, er kommt aus der Romagna, sein Ziel ist Florenz. Es ist keine Dampflok, sondern eine neue Maschine, Littorina genannt. Die Schnauze des Triebwagens ist kielförmig, als flöhe sie gebückt vor dem großen Radiator in Form eines griechischen Tempels. Mit ihren zwei Motoren ist die Littorina schneller als Dampflokomotiven, und die Waggons sind gut ausgestattet, mit bequemen, breiten Samtsitzen. Giovannino hat einige dieser Züge bei Testfahrten gesehen. Nur schade, denkt er, dass dieser dunkle, beißende Dieselrauch unangenehm ist und zu lange in der Kehle bleibt.

      Der neue Bahnhofsvorsteher ist pünktlich an seinem Platz, der Zylinder und die Uniform tadellos in Ordnung. Lucia hat alles kontrolliert und ist ihm mit einem Vorschlag gekommen: »Weißt du, dass dir ein Schnurrbart gut stehen würde?« Giovannino hat sich im Spiegel über dem Waschtisch betrachtet und versucht, sich mit Bart vorzustellen.

      »Mag sein«, gibt er zu. »Ich denk drüber nach.«

      Verärgert bemerkt der Stationsvorsteher, dass die Littorina verspätet ist.

      Als er die Treppe herunterging, hat er im Wartesaal eine in feierliches Schwarz gekleidete Alte mit elfenbeinfarbener Schürze gesehen, auf dem Boden vor sich zwei Taschen, prallvoll mit frischem Gemüse. Die Alte ist aufgestanden und zum Fahrkartenschalter gegangen.

      »Einmal dritte Klasse nach Ronta, Hin- und Rückfahrt, mit Ermäßigung.«

      Nein, so sagt sie das nicht. Das Fehlen der Zähne zerquetscht die Aussprache, vermischt die Worte. Giovannino bringt es nicht über sich, sie nach einem Ausweis zu fragen, um zu überprüfen, ob sie ein Anrecht auf Ermäßigung hat. Er ahnt das arbeitsreiche Leben dieser Großmutter, und die Frage erscheint ihm unredlich, denn die Frau hat den Preisnachlass auf jeden Fall verdient. Schweigend reicht er ihr die Fahrkarte, das Geld ist abgezählt, Zeichen einer eingeübten Praxis. Pipito, der aus dem Büro gelaufen ist, als sein Herrchen herunterkam, stellt sich vor die schwarze Gestalt und beobachtet sie freundlich mit seinen wachen, intelligenten Augen. Denn dieser Hund verliebte sich in die Verlierer, und das hatte niemand je verstanden.

      Noch bevor er sie sieht, hört Giovannino die Littorina ankommen, und als der Zug vor seiner Signalscheibe hält, zählt er gut fünf Minuten Verspätung. Dem Zugführer, der die Tür des Triebwagens öffnet, verbirgt er seine Missbilligung nicht, schaut ostentativ auf seine Uhr und spricht ernst seinen Tadel aus: »Dem Land dient man auch mit Pünktlichkeit.«

      Der Zugführer kassiert den Vorwurf, denkt vielleicht, dass er es mit einem dieser Hundertprozentigen zu tun hat, einem, der von Anfang an dabei war, und erwidert nichts. Giovannino reicht der Großmutter seinen Arm, um ihr beim Einsteigen zu helfen, und Pipito begleitet sie bis zur ersten Stufe. Der Rock hebt sich und enthüllt die schwieligen Füße ohne Schuhe. Der Zugführer will die Fahrkarten lochen und sieht, dass es ein Billett dritter Klasse ist. Die moderne Littorina hat sechsundfünfzig Plätze, aber keine dritte Klasse mehr. Giovannino bemerkt die Verwunderung des Eisenbahners, und ihn ergreift ein ungewohntes Gefühl, ähnlich wie Scham – aber es ist keine Scham. Er hört sich sagen: »Die Signora steigt in Ronta aus«, und seine Stimme ist entschlossen, duldet keine Erwiderung, gewährt keinen Rabatt. Dann gibt er das Signal zur Abfahrt. Mehr muss nicht gesagt werden, vor Pipitos feuchtem, fragendem Blick wird die Tür geschlossen.

      Rinaldo hatte schon alles vorbereitet.

      Mit einem Strick hatte er zwei Weidenkörbe am Sattel befestigt und so den Drahtesel in einen Lastesel verwandelt. Mehr konnte man von dem Fahrrad nicht verlangen, denn an diesem Ort hätte man es nie benutzen können, auch nicht bergabwärts, und Lucia sollte das bald verstehen.

      Als Giovannino sie aufbrechen sah, hatte er besorgt gebeten: »Sei vorsichtig, pass gut auf dich auf …«, und die Augen verrieten die Angst um seine Frau.

      Auf dem Saumpfad brauchte man bergabwärts bis Gattaia etwa eine Stunde, etwas länger für den Rückweg bergauf. Mit einer Breite von knapp zwei Metern, manchmal viel weniger, folgte er wie alle Saumpfade den natürlichen Windungen des Berges. Er war aus den grauen Kalksandsteinen der Gegend errichtet, einer dicht hinter den anderen gezwängt und an den Rändern durch größere Blöcke befestigt. Sie bildeten einen stabilen Pfad mit unregelmäßiger Oberfläche, gut für Maultiere, sehr viel weniger geeignet für die Schuhe von Städterinnen.

      Der zweite Stationsvorsteher hatte sie sofort gesehen. Schöne Stadtschuhe mit weicher Sohle, elegant, ebenes Straßenpflaster gewohnt. Er hatte überlegt, ob er etwas sagen sollte, und sich dann entschlossen, nichts zu sagen. Die Frau des Bahnhofsvorstehers musste ihre eigenen Erfahrungen mit diesem Ort machen, dachte er, und Warnungen oder Ratschläge hätten nichts genützt. Es war ihm gleich verschroben vorgekommen, Fahrräder ins Gebirge mitzunehmen, ein Fahrrad hatte hier niemand, man dachte nicht im Traum daran, Fahrrad zu fahren. Er würde aufpassen, dass sie sich nicht wehtat, das ja, denn in ihrer Situation war ein Sturz gefährlich, leicht konnte sie das Kind verlieren. Mehr als einmal hatte er gesehen, wie sie ihren Bauch streichelte, dann entspannte sich ihr Gesicht, ihre Züge wurden sanfter bei dieser Geste, die die Zukunft schützte.

      Als sie aufbrachen, Rinaldo schob das Fahrrad, gesellte Pipito sich zu ihnen. Er sah sein Frauchen losgehen und hörte sofort auf, den Bürgersteig überall zu beschnüffeln, sich bei der Jagd nach Bienen um sich selbst zu drehen und lustige Sprünge zu machen, im vergeblichen Versuch, nach Schmetterlingen zu schnappen. Jetzt lief er den beiden gut zehn Meter voraus, denn er hatte die Aufgabe übernommen, die unbekannte Strecke zu erforschen. Dann kehrte er zu seinem Frauchen und Rinaldo zurück, stand auf seinen krummen Beinchen vor ihnen, der Schwanz fegte durch die Luft, die länglichen Ohren hingen herab, als wollte er sagen: »Alles friedlich, ihr könnt