Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte


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eine Brücke, die diesen tiefen Spalt, diesen geheimnisvollen Sturzbach neben dem Bahnhofsgebäude überquert. Weiter hinten erkennt sie endlich sauberes Unterholz, krumme Bäume von einer Art, die sie noch nie gesehen hat, Pfade, deren Spuren sich zwischen den unterschiedlichen Höhen verlieren, kleine, abschüssige Parzellen von einer Farbe wie ihre Haare, und weiter oben auf dem freien Bergkamm reglose weiße Flecken, die weiden. Sie schärft die Augen, dreht leicht den Kopf, da werden die Umrisse zur Linken, die sie für eine Felswand gehalten hatte, zu einem Gehöft, und was aussah wie ein verlassener Steinhaufen, belebt sich, es sind Rinder, und dieser einsame Steinblock stößt Rauch aus, es ist ein Mähdrescher bei der Arbeit, es gibt sogar winzige menschliche Gestalten.

      Der Briefträger erklärte ihr, der Padrone der Brancobalardi – das waren die Häuser, die man oben auf dem Kamm der Giogana kaum erkannte – sei ein Hauptmann der Forstmiliz. Den Mähdrescher habe er Stück für Stück, Schraube für Schraube zerlegt und mit Maultieren und der Kraft von hundertneunundsiebzig Männern bis hierher bringen lassen, wirklich hundertneunundsiebzig, denn weil die Maschine nirgendwohin fahren durfte, hatte sie keine Räder: ein funktionstüchtiges Mahnmal.

      Die Erzählung regt Lucias Phantasie an, erinnert sie an die fünfzehn Schiffe von Cortés, die auf dieselbe Weise durch das Reich der Azteken transportiert wurden, und diese verrückte Geschichte scheint ihr kennzeichnend für das ganze Tal. Staunend entdeckt sie seine pulsierende, unveränderliche Wirklichkeit, ihr ist, als vernähme sie sogar den fernen Duft gedroschenen Korns.

      Am Abend überfiel die Familie Tini große Müdigkeit.

      Der letzte Zug fuhr um 20 Uhr. Nicht, dass es viel Verkehr gab: Während Lucia am Nachmittag ihre Aussteuer und die Unterwäsche in der Truhe hinter dem Bett verstaute, zählte sie vier Züge, und niemand stieg aus oder ein. Giovannino half ihr, Ordnung zu schaffen, er machte sich mit dem Haus vertraut, doch wenn er das mittlerweile vertraute Klingeln hörte, zog er sich blitzschnell um und übernahm das Kommando auf dem Bahnhof. Obwohl er genau wusste, aus welcher Richtung die Züge kamen, ob aus Mugello oder aus der Romagna, blickte er gleichgültig mal zu dem einen, mal zum anderen Tunnel hin, ohne sein Wissen beobachtet von Rinaldo, der halb versteckt am Fenster stand. Und Rinaldo schüttelte den Kopf, ihn amüsierte dieser baumlange Stadtbürger, der sich schon für einen Bahnhofsvorsteher hielt, nur weil er den Wettbewerb um diese Stelle gewonnen hatte. Diese Wettbewerbe, das wusste Rinaldo, gewannen die Parteimitglieder, nicht die Befähigten. Und der hier war ein Parteimitglied, einer, den man empfohlen hatte, so lief das. Aber dieser Giovannino Tini missfiel ihm nicht, und er dachte, dass er es weitaus schlechter hätte treffen können.

      Am Abend waren sie also sehr müde. Nach dem letzten Zug, in den Sebastiano einstieg – er wohnte in Ronta und kam nur zweimal in der Woche nach Fornello –, ließen sie sich vom zweiten Stationsvorsteher die Reste vom Mittagessen servieren, und nach dem Essen genehmigte sich Giovannino ein zusätzliches Gläschen. Er schloss das Büro ab, in dem Pipito schlief – er hatte ihm einen Schlafplatz aus zwei zusammengerollten Decken bereitet –, schloss den Bahnhof ab, löschte das Licht im Wartesaal und nahm die Treppe, um auch den Tag abzuschließen.

      Lucia ist im Bad, sie steht vor der Waschschüssel aus Keramik. Ihre blonden Haare hat sie gelöst und bürstet sie jetzt sorgfältig, dabei beobachtet sie sich im runden Spiegel. Sie trägt ein Nachthemd aus weißem Leinen, es reicht ihr bis zu den Knien, und darunter ahnt man das Unterkleid. Nach beendeter Abendtoilette bleibt sie unschlüssig in der Tür zum Schlafzimmer stehen. Giovannino zieht sich gerade aus, hängt die Uniformjacke ordentlich auf einen Bügel, legt den Zylinder in die Truhe und schiebt die Schuhe unter den Nachttisch. Dann stellt er den Wecker auf sechs Uhr, eine Stunde vor der ersten Durchfahrt. Er sieht Lucia in der Tür stehen, ihr Busen ist durch die Schwangerschaft voller geworden, ihr Bauch hat diese neue weiche Mondrundung, und er bekommt große Lust, sie zu liebkosen, mit ihr zu schlafen. Dann hält ihn der Gedanke an den zweiten Stationsvorsteher direkt unter ihnen zurück. Er würde alles hören, und Giovannino schämt sich.

      Im Tal haben alle Tätigkeiten aufgehört, die dunkle Nacht bricht an, von den schwachen Petroleumlichtern in den Häusern kaum gestört. Der Himmel ist sternenübersät, wie sie ihn noch nie gesehen haben, die Luft so reglos wie Eis, und in der vollkommenen Stille setzt der im tiefen Spalt verborgene Gebirgsbach neben dem Bahnhof seinen endlosen Weg in Richtung Flachland fort.

      Als sie zusammen, einander nahe waren und Giovannino die Wärme von Lucias Körper spüren konnte, gab es mehr Stille als Worte, mehr Seufzer als Stöhnen. Was sie während des Tages gedacht hatten, machte der ersehnten Zärtlichkeit Platz, ineinander verschlungenen Händen, in heimlicher Lust sich biegenden Rücken. Alles schien sich in wenigen Augenblicken aufzulösen, um sie erschöpft und befriedigt zurückzulassen. Sie schliefen in enger Umarmung ein.

      Keiner der beiden sah ein paar Stunden später den jähen hellen Schein im nächtlichen Dunkel, einen über dem Bergkamm aufzuckenden Blitz. Das dumpfe Grollen, das auf den Lichtschein antwortete, drang fremd in Romeos Träume, und vielleicht hatte das Kind darum niemals Angst vor dem Donner.

      Aus dem Schlaf geweckt, schüttelten die Blätter der Kastanienbäume sich unter einem peitschenden Windstoß. Lucia erwachte aus Giovanninos Umarmung – vielleicht war es auch Romeo, der sie weckte, vom Donnergrollen neugierig gemacht –, stellte sich ans Fenster und öffnete die Läden. Der Himmel war nicht mehr sternenbedeckt, das Dunkel kompakt, einförmig, bedrohlich. Über der Bergkette sah sie von den Wolken getrübte Blitze, die sich auf einer weiten Fläche verteilten, gefolgt von undeutlichem Grollen.

      Da nahm Lucia ein Spiel aus ihren Kindertagen auf: Sobald sie das Flackern des Blitzes sah, fing sie an, die Sekunden bis zum Rollen des Donners zu zählen. So konnte sie die Entfernung zwischen dem Gewitter und ihrem Standort annähernd bestimmen.

      Zwanzig Kilometer. Achtzehn. Zwölf.

      Das Gewitter kam rasch näher. Das verzweigte Aufflackern der elektrischen Entladungen wurde zu einem faszinierenden Schauspiel. Der nachfolgende Donner war stärker geworden, entfaltete sich in einem hin und her schaukelnden Rollen mit zunehmender Lautstärke. Die Windstöße wurden heftiger, schon bogen sich die zarten Zweige der Kirschbäume hinter dem Bahnhof. Und endlich hörte Lucia mit kindlicher Freude, wie die ersten Tropfen mit einem dumpfen Echo auf die Dachziegel fielen, erst vereinzelt und schwer, dann als flüssige Masse, die ihr sogar die Sicht nahm. Bald gurgelte das Wasser in den Dachtraufen, den Regenrinnen, und aus dem Tal stieg der starke Duft nach Feuchtigkeit auf, jene charakteristische Mischung aus Wald, Erde und weichem Holz.

      Was sie in diesem Moment verspürte, war unendlich wertvoll für Lucia Assirelli. Sie merkte, wie gierig sie den Geruch des Gewitters einatmete, in der Hoffnung, dass auch das Kind, das sie behütete und wachsen ließ, ihn atmen konnte. Sie erlebte diesen unerwarteten Regen als Willkommensgruß des Tals und dachte, dass sie auf dem Flachland niemals ein solches Schauspiel hätte genießen können.

      Der Wecker klingelte

      Der Wecker klingelte, und sein Läuten drang in den Schlaf der Familie Tini.

      Nur langsam begriff Giovannino, wo er war. Beim Erwachen begleitete ihn die übliche morgendliche Angst. Dies war für ihn der schwierigste Moment des Tages: aufstehen, den Tag mit verantwortungsbewusstem Verhalten füllen, die Arbeit gewissenhaft tun, ihre unvorhergesehenen Zwischenfälle meistern, den Tagesablauf überstehen, um zurück ins nie genug zu preisende Bett zu kommen.

      So sah seine tägliche Qual aus.

      Vielleicht war das der Grund, und Giovannino sah darin keine Feigheit, warum die Aussicht auf die Versetzung nach Fornello ihn insgeheim begeistert hatte. Denn für ihn bedeutete diese Abgeschiedenheit – er hatte sich sofort über den Ort informiert – eine Lebensstrategie. Er mochte einsame Orte, es genügte ihm, Lucia an seiner Seite zu haben, die Frau, mit der er einen heimlichen Pakt fürs Leben geschlossen hatte. »Du wirst mich begraben«, hatten sie sich gegenseitig versprochen, und das genügte. Nein, er war kein Schürzenjäger, kein Kneipenbesucher. Er liebte Lucia, er liebte ihren vollkommenen Körper, den guten Charakter, die tröstende Kraft dieser blaugrünen Augen, und dann würde Anselmo kommen, und er würde diesem Kind beibringen, die Tiere, die Natur, die Größe der Schöpfung zu entdecken, und dafür