Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte


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Steine rutschig gemacht, hinzu kam ihre unterschiedliche Höhe. Bei der Suche nach sicherem Stand geriet jeder Schritt nachdenklich, die Wadenmuskeln verhärteten sich, wenn der Weg abschüssiger wurde. Rinaldo hielt das Fahrrad, ständig schlug die Kette mit einem metallischen Geräusch gegen das Schutzblech.

      »Seid vorsichtig dort drüben …«, mahnte er vorausblickend, während Pipito ganz auf sein erkundendes Vor und Zurück konzentriert war. Da Rinaldo sah, dass Lucia sich immer schwerer tat, blieb er vor dem Strunk eines schönen Nussbaums stehen, entdeckte einen gerade gewachsenen Schössling, holte ein Messer aus der Tasche, in wenigen Minuten war der Gehstock fertig und wurde überreicht. »Hier, stützt Euch darauf.«

      Trotz des unsicheren Abstiegs, den das fortwährende Hin und Her des Hundes noch schwieriger machte, entging Lucia Assirelli die wilde Schönheit des Tals nicht. Nachdem sie die imposanten Eisenbahnüberführungen zu ihrer Rechten hinter sich gelassen hatten, waren sie in üppigeres, frisches Grün gekommen, wo sich zwischen den Bäumen die regelmäßigen Kastanienhaine und das gepflegte Unterholz auf der anderen Seite abhoben. Die reine Luft ließ sich gut atmen, sie war leicht und zart, nicht schwül wie die Luft im Flachland, außerdem gab es zum Glück keine Mücken, die besonderes nachts lästig wurden. Lucia versuchte, so viele gute Seiten wie möglich zu erkennen, wusste sie doch nur zu gut, dass sie weit mehr als eine Jahreszeit an diesem Ort verbringen würde, und dass eine Versetzung ihres Mannes wegen des späten Parteieintritts auf sich warten lassen würde. Wichtig ist auf jeden Fall, sich gut einzuleben, dachte sie, die Gegend kennenzulernen, mit den Menschen vertraut zu werden, das Haus so gemütlich wie möglich einzurichten und, warum nicht, ein bisschen Geld für die Zukunft beiseitezulegen, vielleicht sogar ein Radio auf Raten zu kaufen. Außerdem fuhr hier der Zug nach Florenz vorbei, eine Gelegenheit, die Stadt zu besuchen, sie war noch nie in Florenz gewesen.

      Darüber dachte Lucia Assirelli nach, während sie achtgab, auf diesem steilen, steinigen Weg nicht zur stürzen. Sie dachte an das Morgen, wie es sich gehört für eine junge Frau, die bald Mutter wird.

      Pipito lief immer noch vor und zurück, die Zunge hing ihm wegen der Hitze aus dem Maul, als sie auf einem hohen Brückchen aus roten Backsteinen zwei Frauen gemessenen Schritts aufsteigen sahen. Sie kamen näher, und Lucia sah den vollgefüllten Korb, den jede auf dem Rücken trug, die Trageriemen aus Stricken, die ihnen in die Schultern schnitten, und als die Frauen dicht vor ihnen waren, konnte sie den Geruch nach Schweiß und ungewaschener Kleidung nicht ignorieren. Sie verbarg ihren Eindruck, denn die beiden blieben stehen, um Rinaldo zu begrüßen, in Wirklichkeit aber wollten sie die Fremde sehen.

      »Signor Cenci, da habt Ihr aber eine wirklich schöne Begleiterin …«, sagte die Ältere mit lauter Stimme, und nichts verriet ihre Anstrengung. Lucia musterte die beiden, ohne dass sie ihnen ein Alter zuordnen konnte. Die Haut ihrer Gesichter und Hände war sonnenverbrannt, rissig vom Wind und schwielig von der Arbeit. Statt die Frau des Stationsvorstehers zu begutachten, warfen die beiden nun neugierige Blicke auf das Fahrrad mit den Bütten.

      »Und das, was ist das für eine Erfindung?«, fragten sie lachend.

      »Das Fahrrad der Signora Lucia, der Frau des neuen Bahnhofsvorstehers.« Ein schüchternes Anwesenheitsjaulen lenkte die Aufmerksamkeit auf Pipito.

      »Und der da, was ist das für ein Hund?«

      »Das ist unser Hund. Er heißt Pipito«, erklärte Lucia.

      »Ich meine … ist das ein Jagdhund? Ein Hirtenhund?«

      »Ein Gesellschaftshund.«

      Die Frauen sahen sich verwundert an. Hunde hielt man nur aus wirtschaftlichen Gründen, nie war es vorgekommen, dass Hunde aus Gefühlsgründen angeschafft wurden. Zur Gesellschaft? Reichte nicht eine acht- bis zehnköpfige Familie als Gesellschaft?

      »Ein Gesellschaftshund?«, wiederholten sie als Antwort und legten die größtmögliche Ungläubigkeit in das Wort. Lucia fühlte sich geprüft und bewertet, beginnend bei ihren Stadtschuhen, sie suchte mit Blicken nach den Schuhen der beiden und sah unter den schmutzigen Säumen der langen Röcke nackte Füße hervorschauen. Unwillkürlich zog sie ihre Füße unter den Rock zurück und schämte sich, für sie ein ungewohntes Gefühl.

      »Wohin wollt Ihr?« Mit der Frage versuchte sie das Thema zu wechseln. Rinaldo, der den gutgemeinten Versuch wahrscheinlich verstand, übernahm die Antwort.

      »Sie gehen nach Piandolci. Das liegt vor Fornello, aber höher.«

      Nun wurde Lucia ihrerseits neugierig, sie sah die beiden forschend an und wollte wissen, was sie in diesen vollen, schweren Körben trugen und wie sie miteinander verwandt waren, denn sie ähnelten einander und mochten Schwestern sein, obgleich man den Altersunterschied bei näherer Betrachtung deutlicher sah.

      »Wie geht’s dem Papa?«, fuhr der zweite Stationsvorsteher fort.

      »Besser, wegen der Salze aus Montecatini …«

      »Dann grüßt ihn schön von mir und sagt, ich komme bald den Käse holen … Einen guten Tag noch!«

      Sie nahmen ihren langsamen Abstieg nach Gattaia wieder auf. Rinaldo räusperte sich verlegen und schüttelte den Kopf.

      »Ich muss Euch etwas sagen, Signora, aber nur, wenn Ihr’s mir nicht übel nehmt.«

      Lucia hörte den Tonfall, und wieder überfiel sie ein ungewohntes Gefühl, sie fühlte sich schuldig.

      »Ihr dürft die Frauen nicht so anschauen.«

      »Wie anschauen?«

      »Als wären sie anders als Ihr. Sie merken das.«

      Getroffen von der Bemerkung sagte sie kein Wort mehr bis zum Ende des Wegs, als die ersten der wenigen Häuser von Gattaia auftauchten: die Kirche mit dem Pfarrhaus, der Friedhof, vier große Steinhäuser an der Straße neben dem Gebirgsbach, der hier zum Fluss wurde.

      Sie hatte mehr erwartet und konnte kaum glauben, dass zu diesem Klümpchen Häuser sogar ein Laden gehörte. Natürlich gab es ihn, aber anders als die Geschäfte in der Stadt mit ihren geschmückten, bunten Schaufenstern. Eine schlichte Tür ohne irgendein Reklameschild und ein großer Raum, niedrig, dunkel, es roch nach Tabak, Korn, Öl und Wachs. Hinter dem hölzernen Ladentisch mit Brandflecken von Zigarren stand neben der roten Waage ein bärtiges Subjekt in schwarzer Latzhose, buschige Augenbrauen, dicht behaart bis zur Nase, einer kolossalen Nase.

      »Faschistischer Gruß«, und er hob die rechte Hand wie ein Pinguin den Stummelflügel, nämlich bloß mit einer trägen Drehung des Handgelenks.

      »Faschistischer Gruß«, erwiderte Rinaldo gleichmütig, als hätte er gesagt: »Gutes Wetter heute.«

      Als sie den kurzen Austausch von Floskeln hörte, beschlich Lucia das dritte ungewohnte Gefühl an diesem Tag, das Befremden über faschistische Grüße. Sie begriff, dass sich zwischen dem Tag des Umzugs und diesem heutigen Tag schon ein Graben, eine Andersartigkeit aufgetan hatte. Im Tal von Fornello – so nannte sie es, weil sie noch nicht wusste, dass es das Tal des Muccione war – hatte sie nicht das geringste Anzeichen des Regimes, keine Inschriften, keine Uniformen gesehen. Erst jetzt wurde ihr die Abwesenheit der Politik in diesem Tal bewusst, und obwohl dieser Aspekt im Leben von Lucia Assirelli zweitrangig war, konnte sie sich eine leise Sympathie für die Eroberungen des Regimes gewiss nicht verhehlen. Sie dachte und sagte es auch, dass es Gutes und weniger Gutes gab, wie bei allem in dieser Welt, außerdem gingen bedauerliche Ereignisse wie die Ermordung des Abgeordneten Matteotti oder des Pfarrers von Argenta auf die frühen Zwanzigerjahre zurück, als sie ein kleines Mädchen war. Einmal an der Macht, hatten die Faschisten sich gehäutet, hatten die ungezügelten Elemente nach Ostafrika exiliert, die Hitzköpfe unschädlich gemacht. Aber warum fühlte sie sich dann so befremdet? Vielleicht war es weniger die Frage, die sie ärgerte, als die Tatsache, dass sie keine Antwort fand.

      Sie lenkte sich ab, indem sie ihren Blick durch den Laden schweifen ließ. Alles war da: von der Pasta aus Nola bis zum Cerasella-Likör, vom Efti-Mokka bis zum Negri-Sirup und sogar dem Waschmittel Lysoform. All das sah sie aufgestapelt in den Regalen, in Schachteln, auf Stühle gelegt, am Boden aufgetürmt. Aber sie sah nicht alles.

      »Habt