Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte


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verziehend: Nao.

      »Eier?«

      »Nao.«

      »Kartoffeln?«

      »Nao.«

      Was war das für ein Laden ohne Käse, Eier, Kartoffeln? Im Lebensmittelladen in Faenza fand Lucia alles und weit mehr als Käse, Eier und Grünzeug, sie fand tagesfrisches Gemüse, soeben gekochten Ricotta, Squacquerone, den typischen Frischkäse der Romagna, Cassatelle, duftiges Gebäck, das die Luft mit Wohlgeruch erfüllte, und weiche, pikante Schafskäse aus Castelraniero! In was für einen schäbigen, heruntergekommenen Laden hatte der zweite Stationsvorsteher sie da gebracht?

      »Signora«, erklärte Rinaldo, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Ihr dürft ihn nicht nach Dingen fragen, die die Bauern selbst haben, denn die verkauft er nicht. Ihr müsst das verlangen, was die Bauern nicht selbst erzeugen: Kaffee, Zucker, Streichhölzer, solche Sachen …«, und dann, an den Ladenbesitzer gewandt: »Das ist die Frau des neuen Bahnhofsvorstehers, wisst Ihr …«

      »Und wo finde ich Kartoffeln, Käse, Eier? Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich die selbst erzeuge?« Lucias Antwort mischte sich mit seiner Erklärung.

      »Gute Frau«, fuhr der Ladenbesitzer brüsk dazwischen, »die findet Ihr bei den Bauern, zu Eurem Nutzen und Gefallen.«

      Zu ihrem Nutzen und Gefallen kaufte Lucia Assirelli diverse Vorräte für mehrere Wochen. Getrocknete Hülsenfrüchte, Dosenerbsen, Salz zum Konservieren, Reis, Tomatenkonzentrat, sogar die berühmten Fischfilets der Marke Florio, das war ein Schwangerschaftsgelüst. Als es ans Bezahlen ging, fischte sie, während Rinaldo alles ordentlich in den Bütten verstaute, Geldscheine aus ihrer Börse, wurde aber vom Ladenbesitzer mit weit ausholenden Handbewegungen zurückgehalten.

      »Was tut Ihr da? Immer mit der Ruhe, hier schreibt man an, Ihr zahlt am Monatsende, wie alle …«, und er schlug ein blaues Heft mit welligen Rändern auf. »Hier: Bahnhofsvorsteher von Fornello. Wir streichen den alten Namen durch und schreiben den neuen. Was schreibe ich?«

      »Tini, Giovannino.«

      »Tini … Giovannino. Fertig, das wär’s. Faschistischer Gruß, Signora Tini.«

      Der Rückweg

      Der Rückweg, das sieht sie sofort, wird zu einem langen, mühseligen Aufstieg. Vorsichtig klettert sie auf den ungefügen Steinen des Saumpfads in die Höhe und ist ganz Nachdenken: die Strapazen, das Kind, die Lebensmittel, die sie nicht hat kaufen können, dieses Tal, das ihr mal feindlich, mal freundlich erscheint, die Zeit, die sie hier verbringen muss. Und in das Klettern schleicht sich das enttäuschende Gefühl, beim Einkaufen versagt zu haben, wieder ein Schuldgefühl, in dem sich ihr Unbehagen bei der Begegnung mit dieser neuen Realität widerspiegelt. Sie ist nicht mehr im komfortablen Faenza, sondern plagt sich auf einem Maultierpfad über die Berge.

      Rinaldo, der das unpassende Flachlandfahrrad schiebt, dessen Kette bei jedem Stoß laut im Schutzblech rasselt, bemerkt Lucias fragenden Ausdruck und möchte ihn richtig deuten: »Dies hier war die Straße der Romei …«

      »Wie bitte?«, fragt die Frau des Bahnhofsvorstehers Tini geistesabwesend.

      »Ich sagte, dies war die Straße der Romei«, abermals sieht er Verständnislosigkeit, Lucias gerunzelte Stirn, und möchte sich so klar wie möglich ausdrücken: »Die Romei waren die Pilger damals, die Leute, die nach Rom gingen. Darum heißen sie so.«

      Die Romei waren die Pilger damals, Lucia kaut den Satz wieder und weiß nicht recht, warum. Ein Tritt im Bauch entlockt ihr einen Ausdruck der Überraschung, ihre Hand fährt zur halbmondförmigen Rundung, das besorgte Streicheln. Romeo hat endlich seinen Namen gehört und geantwortet, aber das – auch das – sollte erst später verstanden werden.

      »Wo kauft man den Käse? Und die Milch?«

      »Kuhmilch?«

      »Natürlich, Kuhmilch.«

      Der zweite Stationsvorsteher blieb stehen und nutzte die Gelegenheit, um sich den Schweiß vom Fahrradschieben abzuwischen.

      »Von den Checchi in Piandolci.«

      »Dann gehen wir nach Piandolci.«

      Rinaldo blieb nicht viel hinzuzufügen. Die Maultierpfade, wo man heute keine Pilger mehr sah, hießen eben deswegen so, weil Maultiere über sie wanderten, und diese schöne Frau erschien ihm eigensinnig wie jene Tiere. Mit einer eigensinnigen Frau zu diskutieren, nein, das kam nicht infrage, erst recht nicht, wenn es die Frau seines Vorgesetzten war, um Himmels willen, nein. Sie würde schon verstehen, was es bedeutete, bis nach Piandolci zu gehen. Alles, außer einem angenehmen Spaziergang.

      Unterhalb des Viadukts bog Rinaldo nach links in einen Seitenweg ab, schmaler und von niedrigen, regelmäßigen Trockenmauern gestützt. Erst folgte der Weg dem Bächlein in der Talsohle, dann begann er in engen Serpentinen anzusteigen. Die Vegetation auf dem grasbewachsenen Berghang wurde spärlicher, im gleichen Maße nahmen die Hitze und mit der Hitze die Fliegenschwärme und der umherziehende Gestank der Kuhfladen zu. Die beiden gingen langsam, gemessenen Schritts voran, begleitet vom Schlagen der Kette und Pipitos verspieltem Vor und Zurück, und als sie aus dem Wald kamen, fanden sie sich mitten auf einer ziemlich belebten Weide wieder.

      Wenn das Fahrrad für die Kühe eine Neuheit darstellte, zeigten sie es nicht. Kühe, Tiere mit einer stoischen Philosophie, bringt man nicht so leicht zum Staunen, ungerührt rupften sie weiter Gras, verscheuchten Trauben von Fliegen mit Schwanzschlägen und Ohrenzucken, und die beiden Gestalten, der Hund und das Fahrrad wurden mit friedlicher Nachgiebigkeit ignoriert.

      Pipito, der noch nie eine Kuh gesehen hatte, ließ der instinktiven Regung, sich ihnen zu nähern, ein umsichtiges Abwägen ihrer Größe vorausgehen und entschied dann, sich in der Nähe seines Frauchens wachsam, aber still zu verhalten.

      Die Häuser von Piandolci lagen sonnenbeschienen am oberen Rand der Weiden, zwei Gebäude aus dem Stein, der im Sommer vom Südwestwind und im Winter vom Schnee angenagt wird. Das Bellen des Hundes machte die Bewohner auf die Ankömmlinge aufmerksam, und sofort kamen die beiden Frauen heraus, die man schon unten im Tal gesehen hatte, dazu ein Mann mit gelblichem Strohhut.

      Der gesellige Pipito lief los, den Bruder zu begrüßen, und das Aufeinandertreffen wurde sofort zu einem befriedigenden, gegenseitigen Beschnüffeln der Genitalien. Nachdem ihre Hunde sich in dieser Form ausgewiesen hatten, gingen die Menschen aufeinander zu und begannen zu sprechen.

      »Ihr seid die Signora von heute …«, hob die Frau an, die in Lucias Augen die Tochter sein musste.

      »Schwanger!«, bemerkte die andere, vermutlich die Mutter. »Ihr dürft Euch nicht so abplagen … Los, rein ins Haus und setzt Euch hin!«

      Der Ton war gebieterisch und wissend, Lucia, erhitzt vom Aufstieg, weigerte sich nicht. Der Mann mit dem Hut sagte kein Wort, die Daumen in die Taschen seiner abgewetzten Weste geklemmt, und alle gingen in das größere der beiden Häuser. Hier wurden sie von einer trockenen Luft aus Kühle und Schatten empfangen, einem großen Raum mit rußgeschwärztem Kamin, einem langen Tisch mit gedrechselten Beinen und neben dem Wandregal, wo der Wasserkrug stand, einem von der Decke baumelnden Fliegenpapier.

      »Das ist die Frau des neuen Stationsvorstehers …«, sagte die Tochter zum Mann, und erst jetzt sah Lucia seine Augen aus trübem Weiß. Sie erschrak, noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Blinden gesehen, und ihr erster Gedanke, logisch in seiner Widersinnigkeit, ging zu dem, was ihre Mutter ihr oft geraten hatte: »Vermeide Gelüste und Schrecken, wenn du willst, dass das Kind gesund geboren wird.«

      Denn es hieß, und man glaubte daran, dass furchtsames Zusammenschrecken und die natürliche Lust aufs Essen den Fötus verändern konnte, und erklärte sich so Krankheiten wie die Hasenscharte, den Blutschwamm und anderes. Lucia überfiel die irrationale Vorstellung, ein blindes Kind zur Welt zu bringen, ihr Herz klopfte schneller, ein starker Schwindel erfasste sie, und sie sank noch erschöpfter auf einen Stuhl.

      »Was hab ich Euch gesagt …«, bemerkte die Frau leise. »Sie sind’s nicht gewohnt …«, womit sie