Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage


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Friedrich zum Beispiel, die sie bald vollständig nacherzählen konnte. Ihre Eltern waren bass erstaunt, als sie über SchillersSchiller, Friedrich Fiesco sagte: Nein, er sei nicht böse, er sei gut, sie müssten das Stück nur einmal richtig zu Ende lesen, und wenn sie einmal ein Brüderchen haben sollte, wolle sie, dass es »Fiesco« genannt werde.[43]

      Die heiligen Pflichten des Weibes

      KellnerKellner, Leon war Ordinarius einer siebten Klasse an der »k.u.k. Oberrealschule am Schulring« und unterrichtete außerdem in vier weiteren Klassen Englisch, Deutsch und Französisch.[44] Die Stimmung an der Schule war gespannt, denn die Tschechen bzw. Böhmen strebten nach mehr Autonomie und wollten ihre eigenen Lehrpläne haben.[45] Außerdem gab es Antisemiten im Kollegium, die KellnerKellner, Leon und den jüdischen Schülern das Leben schwer machten. AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) schreibt, ansonsten sei KellnersKellner, Leon Herkunft in Troppau kein Thema gewesen. Besonders die Söhne »armer schlesischer Weber und Bauern« hätten ihn geschätzt und geliebt, weil er sich um ihre sozialen Nöte gekümmert habe.[46]

      In den Ferien fuhr KellnerKellner, Leon so oft wie möglich nach England. Er sah dort viel Kinderelend, sah Armen- und Arbeitshäuser für Straßenkinder, aber auch Kinder mit runden Gliedern und rosigen Gesichtern, die an den Stränden der Seebäder spielten, denn in England gab es »Ferienkolonien«, in denen sie »kostenlos Landluft« genießen konnten. An jeder Ecke wurde dafür gesammelt, von der Heilsarmee oder anderen Wohltätigkeitsvereinen. Viertausend Kindern sei auf diese Weise schon geholfen worden, schreibt er im Neuen Wiener Tagblatt.[47]

      Das englische Kind sei insgesamt freier und glücklicher als das österreichische, lautete sein Fazit. Doch welche Konsequenzen zog er daraus? Keine. Er fuhr fort, PaulaKellner, Paula und Dora wie im Käfig zu halten. Kein Sport, keine Freundschaften, keine Schule, kein Kindergarten, nicht einmal Haustiere. Sie sollten auf den »Beruf des Weibes« vorbereitet werden, der darin bestand, Kinder zur Welt zu bringen und dem Mann eine treue, kultivierte Gefährtin zu sein. Dazu genügten ein paar oberflächliche Fähigkeiten, die man problemlos zu Hause erwerben konnte: Geographie, Geschichte, ein oder zwei fremde Sprachen, ein wenig Literatur, Handarbeit, gutes Benehmen und vor allem Klavierspielen, vielleicht auch Gesang. Diese Haltung teilte er mit vielen Männern seiner Zeit, zum Beispiel mit Sigmund FreudFreud, Sigmund, der sich auch kategorisch dagegen wehrte, seine Töchter am Leben teilnehmen zu lassen. Ob Lesen, Stricken, Tanzen oder der Besuch von Kursen: Alles war zu anstrengend für sie, machte sie »neurasthenisch«. Er meinte, dass die Frau »nicht zugleich erwerben und Kinder erziehen« könne. Von der »modernen Frauenbewegung« profitierten »die Frauen als Gruppe gar nichts, höchstens einzelne«.[48]

      Es war die Zeit, in der auch KellnerKellner, Leon dieses Thema für sich entdeckte: den Kampf gegen die Emanzipation, ein Übel, das seiner Ansicht nach seine Wurzeln in England hatte, wo die »Frauenbewegung« schon seit Jahrzehnten diskutiert wurde. Immer wieder tauchte es in seinen journalistischen Arbeiten auf, ob er nun gegen den neuen englischen Frauenroman[49] wetterte oder die jüngste Marx-Tochter, Eleanor Marx-AvelingMarx-Aveling, Eleanor, angriff, die im Verein mit IbsenIbsen, Henrik und George Bernard ShawShaw, George Bernard die heiligen Pflichten des Weibes abzuschaffen gedenke.[50]

      So lange die Frau nicht ihre Weiblichkeit, die Pflicht gegen ihren Mann, gegen ihre Kinder, gegen das Gesetz, gegen Jedermann außer ihrer eigenen Person, mit Füßen tritt, ist sie nicht frei. […] Deswegen fort mit der Pflicht! In der Verwerfung der Pflicht liegt die Freiheit der Frau! […] Ganze Körbe voller Ideale der heiligsten Art werden im Kampfe um die Gleichheit zwischen Mann und Weib in Trümmer gehen. […] So ungefähr denken auch Ibsens Nora und Frau AvelinghMarx-Aveling, Eleanor, nur mit etwas anderen Worten.[51]

      In solchen Kommentaren verlor KellnerKellner, Leon jede Distanz. Er schrieb nur noch mit Schaum vor dem Mund. Seiner Meinung nach steckten die »Rothen« hinter der Bewegung. Doch das Schlimmste war: Sie griff auch auf Österreich über. Es gab einen »Allgemeinen Österreichischen Frauenverein«, einen »Frauenerwerbsverein«, einen »Verein für erweiterte Frauenbildung«, eine Wiener »Arbeiterinnen-Zeitung«, es gab Frauen wie Bertha von SuttnerSuttner, Bertha von, Rosa MayrederMayreder, Rosa oder Irma von TrollTroll, Irma von, die das Wahlrecht für Frauen, die Vereinfachung der Scheidung und die Reform der Mädchenbildung forderten, das Recht auf Matura und Zugang zu allen akademischen Berufen. Was wäre, wenn diese Bewegung auch PaulaKellner, Paula und Dora, seine Töchter, erreichte? Und wenn AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) sie vielleicht dabei unterstützen würde? Sie verhielt sich bereits jetzt ziemlich aufmüpfig, las viel, besonders englische Frauenliteratur und äußerte manchmal die Absicht, literarische Übersetzerin werden zu wollen. Sie führte auch ihren Haushalt nicht »rituell«, also streng jüdisch, anders als ihre Mutter, Klara WeißWeiß, Klara, die noch den Barches- oder Challe-Teig selber anrührte, den Segen über die Sabbat-Kerzen sprach, ihren Söhnen befahl, Gebetsriemen zu tragen und alle über zwölfjährigen Kinder an Jom Kippur fasten ließ, nachdem sie sich vorher den »Kappores« in Gestalt eines lebenden Huhns um die Köpfe geschlagen und dazu gesagt hatten: »Das ist mein Stellvertreter. Das ist mein Auslöser. Das ist meine Sühne. Dieses Huhn geht dem Tode entgegen, ich aber gehe einem guten Leben und Frieden entgegen.«[52] Das alles war AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) zuwider, obwohl sie sehr gläubig war. Aber sie wollte sich durch die Religion ebenso wenig versklaven lassen wie durch ihren Mann.

      Großstadtnomaden

      Im Sommer 1894 kam die erlösende Nachricht: Leon KellnerKellner, Leon wurde wieder nach Wien versetzt, an eine Knabenoberrealschule im 18. Bezirk. Zunächst wohnten sie wieder in ihrem alten Quartier in der Hetzgasse. Doch in den nächsten sechs Jahren würden nicht weniger als vier Umzüge folgen: Alserbachstr. 11, Hofzeile 17, Kutschergasse 44 und Gersthofstr. 84. Waren die Mieten zu hoch? Die Nachbarn zu unfreundlich? Oder war es die tief sitzende Angst, eines Tages doch wieder vertrieben zu werden, die Angst des »Juden auf Wanderschaft«, um mit Joseph RothRoth, Joseph zu sprechen? Jedenfalls waren die Kinder »überall und nirgends zu Hause«, sondern genau das, was KellnerKellner, Leon selbst später schärfstens anprangern würde:

      Nomaden oder – wenn es schöner klingt – Kosmopoliten. [53]

      1895 schien sich das Schicksal von ElserleWeiss, Else Elserle wiederholen zu wollen. Auch Dora, fünf Jahre alt, erkrankte an Diphtherie.[54] Die Krankheit war lange als »Würgeengel der Kleinen« bezeichnet worden. Oft trat sie zusammen mit Scharlach auf und griff auf Herz, Nieren und Leber über. Sie galt als unheilbar, bis Ernst