Hans nicht zur Schule zu schicken. Stattdessen hielt er sie vollkommen von der Außenwelt fern, was er mit seiner extremen politischen Position erklärte. Selbst PaulaKellner, Paula, die ihm sonst treu ergeben war, fand das seltsam. Mit seinen Kindern habe man überhaupt nicht spielen, nicht einmal reden können, sie hätten alle »einen Knacks« gehabt, schreibt sie in ihren Erinnerungen.[62]
KellnerKellner, Leon erwähnt in seinem Brief an den Freund aus Troppau, dass er sich Sorgen um seine Kinder mache. Dazu bestand in der Tat sehr viel Anlass, nachdem Karl LuegerLueger, Karl im April 1897 Bürgermeister von Wien geworden war. Damit war dem Judenhass Tür und Tor geöffnet. Wenn jüdische Kinder von Mitschülern schikaniert wurden, konnten sie nicht mehr mit dem Schutz der Lehrer rechnen. Sie erhielten keine Schulgeldbefreiung und wurden bei der Notenvergabe oft stark benachteiligt.
Kurz nach dem Amtsantritt LuegersLueger, Karl muss KellnerKellner, Leon sich entschlossen haben, seine Vorgesetzten um ein Jahr Urlaub zu bitten, den er mit seiner Familie in England zu verbringen gedachte. Als Grund gab er an, ein deutsch-englisches Lexikon neu bearbeiten zu wollen, aber in Wahrheit brauchte er wohl Abstand von Wien, von dem Regime LuegersLueger, Karl und vielleicht auch von HerzlHerzl, Theodor, dessen Eitelkeit und Dominanz schon nach kurzer Zeit offenkundig wurden.
Anna berichtet, dass sie sich zunächst in einem Boardinghouse einmieteten, wo aber den Kindern das Essen nicht schmeckte. Hammelbraten, Erbsen, Bohnen, Brotpudding – das war nichts für Wiener Kinderzungen. Sie verlangten nach Gulasch, Apfelstrudel und Buchteln. Es war schwer, das Richtige zu finden. Mal gab es keinen Garten, mal keine Küche, mal wollten die Vermieter keine Kinder im Haus. Am Ende fanden sie aber doch ein paar Räume im Häuschen einer sympathischen Malerin.[63]
PaulaKellner, Paula konnte schon ganz gut Englisch, Dora ein bisschen, doch der kleine ViktorKellner, Viktor, zwei Jahre alt, verstand kein Wort. Anna berichtet, dass er immer zu weinen begann, wenn er Englisch hörte. Englisch habe auf ihn »wie Zanken« gewirkt. Für einige Zeit sei er ganz verstummt, aber dann habe er plötzlich den kleinen Mund aufgemacht und vollständige englische Sätze gesprochen.[64]
Da der Aufenthalt ohne AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) Mithilfe nicht zu finanzieren war, konnte sie sich endlich ihren Traum erfüllen und als Übersetzerin arbeiten. Für den Verlag Engelhorn in Stuttgart übertrug sie den gerade erschienenen Roman One man’s view von Leonard MerrickMerrick, Leonard unter dem Titel Eine persönliche Ansicht ins Deutsche.[65] MerrickMerrick, Leonard, eigentlich Miller, ist heute so gut wie vergessen, galt aber damals als »Novellist der Novellisten« und Hauptvertreter des englischen psychologischen Romans. Für AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) war es der Beginn einer großen Karriere in diesem Beruf, den sie ausüben würde, solange die politischen Verhältnisse es zuließen. Für die größten deutschen Verlage, darunter Ullstein, Drei Masken, Reclam und Goldschmidt, übersetzte sie Bücher von Mary CholmondeleyCholmondeley, Mary, Cicely HamiltonHamilton, Cicely, Elizabeth RussellRussell, Elisabeth, Ludwig LewisohnLewisohn, Ludwig und Somerset MaughamSomerset Maugham, William. Sie galt als Meisterin ihres Faches und war stolz, KellnersKellner, Leon Gehalt etwas aufbessern zu können.
PaulaKellner, Paula und Dora gingen auch in London nicht zur Schule, bekamen aber eine englische Erzieherin, die sie sehr liebten. Weil die Eltern meistens im British Museum waren, konnte sie mit ihnen kleine Ausflüge machen, in die Stadt, in den Hyde Park oder nach Hampstead Heath. So lernten sie etwas vom Londoner Leben kennen. Für Dora und PaulaKellner, Paula war es der Beginn einer lebenslangen Liebe zu England und zur englischen Sprache. Da Dora sehr gut Klavier spielte und eine schöne Stimme hatte, durfte sie das Royal College of Music besuchen. Dort fand sie endlich ein paar Freundinnen, die ersten ihres Lebens. Sie war acht Jahre alt.
»Dialekt der Kindheit«
Noch vor der Jahrhundertwende waren die Kellners wieder in Wien. Der Traum von der Niederlassung in London hatte sich nicht erfüllt. Leon KellnerKellner, Leon hatte zwar viele Freunde gefunden, aber keine ihm angemessene Position. London sei »eine wogende, stürmische, erbarmungslose See, auf der Tausende und Abertausende um ihr Leben ringen«, schreibt er in seinem Buch Ein Jahr in England.[66] Seine Bewunderung für das Land und dessen Literatur blieb bestehen. Doch er sah auch Seiten, die ihm gar nicht gefielen, die gnadenlose Ausbeutung von Menschen durch die »Magnaten des Bodens, des Handels, des Gewerbes und des Heeres« zum Beispiel,[67] ein fragwürdiges Verhältnis zur Demokratie[68] und eine enorme Selbstgerechtigkeit:
Ein Engländer tut alles, das Beste wie das Schlechteste, aber er tut nie Unrecht. Er tut alles aus Grundsatz. Er führt Krieg aus patriotischen Grundsätzen, betrügt aus geschäftlichen Grundsätzen, hält zu seinem König aus royalen und schlägt ihm den Kopf ab aus republikanischen Grundsätzen – dabei aber tut er immer nur seine Pflicht.[69] […] Wenn er für seine Pofelware einen neuen Markt braucht, so schickt er seine Missionare aus, um den Wilden das Evangelium des Friedens zu verkünden. Die Wilden fressen den Missionar. Da greift er zu den Waffen, um für das Christentum zu kämpfen. Er ist siegreich, erobert das Land, und nimmt es als eine Belohnung des Himmels in Besitz.[70]
Die englischen Juden – jedenfalls die reichen – erschienen ihm angepasst, ungläubig und arrogant:
Sie haben zu essen und zu trinken, eine Loge im Theater, ein Boot auf dem Flusse oder gar eine Yacht auf der See, einen Sitz im Tempel und einen liebenswürdigen Rabbiner, der nicht alles sieht und gelegentlich krumm gerade sein lässt – was kann ein Jude mehr vom Leben und von seinem Gotte verlangen?
Dem Zionismus ständen sie komplett ablehnend gegenüber, da sie seinen Sinn, seine Notwendigkeit nicht sähen: »Ich bitte Sie! Ich will nicht unhöflich sein! Aber wie kann ein gescheiter Mensch wie Sie solchen Unsinn mitmachen?«, zitiert er einen jüdischen Zeitgenossen aus England.[71]
Kein Wunder, dass es ihn selbst immer mehr in die Arme des Zionismus trieb. Im Februar 1899 übernahm er die Redaktion der Welt, des von HerzlHerzl, Theodor herausgegebenen »Zentralorgans der zionistischen Bewegung«. Dafür legte er sich das Pseudonym »Leo RafaelsKellner, LeonRafaels, Leo (Pseudonym) #i#Siehe#ie# Kellner, Leo« zu, um den Wiener Schulbehörden nicht unangenehm aufzufallen. Er schrieb Artikel über den hypothetischen Staat »Palästina«,[72] wurde Beirat eines »allgemeinen hebräischen Sprachvereins«[73] und gründete eine jüdische Bildungshalle in Wien-Brigittenau, die großen Zulauf fand.[74] Doch zugleich erlitt er einen »nervösen Zusammenbruch« wegen Überarbeitung und dauernder Streitigkeiten mit HerzlHerzl,