unser Haus hält.“
„Das ist doch kein Haus, Mutter, das ist eine Bruchbude!“, entgegnete Martha ihr zornig.
„Versündige dich nicht, Kind“, ermahnte die Mutter sie.
„Wenn ich Lehrerin wäre, könnten wir im Schulhaus wohnen, Mama, wär das nicht schön?“
Doch die Mutter hatte den Kopf schon wieder über ihre Handarbeit gebeugt.
Am nächsten Morgen konnte Martha es kaum erwarten, in die Schule zu kommen, denn heute würde sie dem Fräulein ihr Plissee- Kleid zeigen. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, klemmte ihr Kleid, das sie in Packpapier eingewickelt hatte, auf dem Gepäckträger fest und fuhr mit ihrem Schulranzen auf dem Rücken los.
Während der ganzen Fahrt musste sie an ihre Plisseefalten denken, die sie dieses Mal oben im Brustteil eingenäht hatte, damit ihr Busen größer wirken würde. Mit einem weißen Spitzenkragen darauf wollte sie es zu ihrem Vorstellungsgespräch in der Hauswirtschaftsschule anziehen und hoffte, dass man fragen würde, ob sie das Kleid selbst genäht hatte.
Sie lehnte ihr Rad an die alte Buntsandsteinmauer des Schulhauses, kein Schüler saß mehr auf der Treppe. Bin ich zu spät?, dachte sie erschrocken, und da niemand im Flur zu sehen war, fing sie an zu rennen. Als sie an der offenen Klassentüre stand, sah sie den Lehrer am Fenster stehen – er war aus dem Krieg heimgekehrt.
Alle Kinder saßen schon auf ihren Plätzen und eine seltsame Stille lag wie ein bleierner Nebel über dem Raum.
„Guten Morgen, Herr Lehrer“, grüßte Martha vorsichtig, und als keine Antwort kam, ging sie verängstigt auf ihren Platz.
„Aufstehen!“, befahl der Lehrer, nachdem die Schulglocke geläutet hatte. Anton schlug beim Aufstehen seine beiden Schuhe fest aneinander und streckte reflexartig seine Hand zum Hitlergruß nach vorne.
Der Lehrer, der zwei Stufen erhöht auf dem Pult stand, ignorierte ihn und ließ ein lautes Grüß Gott über die Köpfe der Dorfschulkinder erschallen.
„Grüß Gott, Herr Lehrer“, kam es im Chor zurück.
Beim Morgengebet waren alle Blicke auf das Kreuz gerichtet, das über dem Lehrer hing, dort, wo vorher das Hitlerbild gehangen hatte und von dem nur noch die vergilbten Ränder übriggeblieben waren. Martha fragte sich mit Bangen, wo denn das Fräulein geblieben sei.
„Setzen“, ordnete der Lehrer an und schickte Martha sogleich mit den jüngeren Kindern zum Rechnen in den hinteren Teil des Klassenzimmers. Während die Kleinen versuchten durch Abzählen einzelner Finger ihre Rechenaufgaben zu lösen, war Martha in Gedanken bei dem Fräulein. Auch wenn sie zwischendurch die Kinder daran erinnerte, doch immer zwei, drei oder fünf Perlen gleichzeitig am Abakus weiterzuschieben, damit sie die Lösung schneller finden würden, konnte sie die Gedanken nicht loslassen.
Als der Lehrer die Überschrift Unser Getreide an die Tafel schrieb und Edwin bat, die Ähren von Weizen, Roggen, Hafer und Gerste an die Tafel zu zeichnen, merkte Martha, dass sie das alles nicht interessierte.
Erst nach dem Schlussgebet, zu dem sie sich mühsam erhoben hatte, spürte Martha wieder Leben in sich aufkommen, als der Lehrer bekannt gab, dass das Fräulein morgen zu Hauswirtschaft und Handarbeit kommen werde, während er die Buben in Handwerken und Technischem Zeichnen unterrichten werde.
Ihr „Auf Wiedersehen, Herr Lehrer“ klang wie ein Freudenruf.
Martha sprang die letzten Steinstufen vor dem Schulhaus hinunter. Sie wollte Edwin einholen, der in der gleichen Bankreihe saß wie sie, nur der Gang, der Jungen und Mädchen im Schulzimmer trennte, lag zwischen ihnen, auch er wollte auf die höhere Schule gehen. Edwin wollte Arzt werden und konnte jetzt schon alles auf Latein aufsagen, was er durch seinen Ministrantendienst in der Kirche mitbekommen hatte und wofür ihn Martha bewunderte.
„Edwin“, rief sie ganz außer Atmen, als sie am Schultor angelangt war, wo sie ihn zusammen mit Anton einholte. „Gehst du nächstes Jahr in die Oberschule?“
„Wieso, wer will des denn wissen?“, fragte Edwin misstrauisch.
„Meine Mutter“, log Martha, „sie lässt fragen, ob sie Hemden vom Vater für dich umnähen soll?“
„Weiß nicht“, murmelte Edwin verlegen.
„Ach, da is’ jemand hinter unserem zukünftigen Doktor her“, spöttelte Anton, und Martha spürte, wie sie rot anlief.
„Ich brauch keinen Herrn Doktor, ich will selbst Lehrerin werden!“, gab Martha trotzig als Antwort zurück.
„Oh, da will jemand was Besseres werden“, reizte Anton sie weiter.
„Lehrerin willst du werden?“, mischte sich Edwin jetzt ein, „wieso denn?“
„Es ist nur die Hauswirtschaftsschule, ich kann im Schwesternhaus wohnen und am Samstag fahr ich mit meinem Fahrrad heim zur Mutter und am Sonntag wieder zurück“, sagte Martha fast atemlos.
„Na, wenn da mal der Herr Lehrer nicht auf den Tisch haut“, stieß Anton hervor und als Martha Edwin verwirrt ansah, erklärte der:
„Paul war auch gescheit, und trotzdem hat der Lehrer ihn nicht auf die höhere Schule gelassen. Die Tüchtigen sollen daheim im Dorf bleiben, soll er gesagt haben.“
Jeder wusste, dass es Widerrede beim Lehrer nicht geben durfte.
Auf der Fahrt nach Hause trat Martha so fest in die Pedale, wie sie es nie zuvor getan hatte. Sie musste ihrem Zorn und ihrer Wut über das Gehörte freien Lauf lassen. Und als sie durch die Gartentür zum Haus hochlief, schwor sie mit festem Blick zum Himmel, dass sie sich niemals für ihr Vorhaben schämen würde.
2 Kinderspiel
Immer ging er irgendwo verloren, immer musste er ihn suchen. „Schau, wo dein kleiner Bruder ist“, sagte die Mutter zu Edwin, „du musst auf ihn achten, jetzt wo der Vater nicht mehr da ist.“
Er fand ihn oft auf den langgezogenen Gartenbeeten, unten am Ortsausgang, oder weiter draußen am Waldrand auf den Kartoffelfeldern, lange nachdem schon alle nach Hause gegangen waren. Er stand allein vor dem versengten Kartoffelkraut, aus dem noch leichte weiße Rauchschwaden emporstiegen, wühlte mit einem an der Spitze verkohlten Stock im Haufen und suchte nach weichen Kartoffelstücken oder nach Resten von geröstetem Hasenbrot.
Edwin sah ihn schon von weitem, mit seinen krummen Beinen, ganz hinten am Ende des Feldes stehen. Wie klein er war, dachte Edwin, während er die Ackerfurchen entlang zum Feldrand hinlief; nie kam dieser schnell genug den anderen hinterher und die knöchelhohen Schuhe, meist eine Nummer zu groß und mit Nägeln beschlagener Sohle, trugen nicht dazu bei, dass sein Gang sich beschleunigte und er nicht mehr abgehängt werden konnte.
Das Wetter war ungemütlich, der Himmel trüb und es hatte zu nieseln angefangen. Edwin, bei seinem Bruder angekommen, beugte sich zu ihm hinunter, löste den Stock aus der klammen Kinderhand, wischte mit dem Hemdsärmel über dessen Rotznase, hob ihn hoch, setzte ihn seitlich auf seine Hüfte und hielt ihn mit dem Arm fest umschlungen. Leo legte sein blasses sommersprossiges Gesichtchen an die Halsmulde seines großen Bruders und stieß einen tiefen Seufzer aus, so als ob er schon darauf gewartet hätte, dass Edwin ihn sicher nach Hause bringen würde.
Abends, wenn es dämmerte und die Mutter nach Leo rief, erschrak Edwin jedes Mal, weil er Angst hatte, dass er irgendwann zu spät kommen würde und Leo ertrunken sei, in der gefüllten Regentonne, wo der Bruder kleine Rindenstücke als Schiffchen fahren ließ, oder im Dorfweiher, wo er mit den anderen Buben nach Molchen fischte, während Edwin mit seiner Mutter die Feldund Hofarbeit machte.
Die Kinder wateten im hüfthohen, grünlich schlickigen Gewässer und schöpften die kleinen Tierchen in Dosen und Gläser, um sie mit nach Hause nehmen und beobachten zu können, wie sie sich in Frösche verwandelten. Doch meist verschüttete Leo die aufgefangene Wassermenge schon beim Hinausklettern auf den moosig glitschigen Stufen der Holztreppe am Weiherrand oder stolperte und ließ das Glas fallen, während er auf der holprig steinigen Dorfstraße nach Hause lief.