Anna Neder von der Goltz

Martha schweigt


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      „Der Paul ist wieder da, weißt du’s schon?“, sagte Annegret ganz aufgeregt.

      Martha, die ihren Blick noch immer nicht vom Ort des Geschehens abwenden konnte, seufzte tief: „Jetzt haben sie unsere Welt verbrannt.“

      „Sei nicht albern“, stieß Annegret sie in die Seite, „des waren doch nur Kindereien.“

      „Kommst du mit?“, fragte sie und fasste Martha an der Hand, „wir laufen die Kirchgasse hinunter an Pauls Hof vorbei, vielleicht sehn wir ihn ja.“

      Martha ließ ihre Hand los, ihr war nicht nach Rennen zumute und verwirrt fragte sie: „Wer ist denn dieser Paul?“

      „Dem Karl sein Bruder, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, der war bei uns in der Schule?“

      Martha schüttelte den Kopf. Annegret war zwei Jahre älter als sie und es gab nur eine Dorfschulklasse, doch sie konnte sich nicht erinnern.

      „Naja, du warst ja damals noch ein Kind, als die zum Krieg eingezogen wurden“, kommentierte sie Marthas Erinnerungslücke.

      Martha schaute sie mit großen Augen an. Annegret packte sie an beiden Armen und schüttelte sie.

      „Heute Abend auf dem Dorfplatz treffen wir uns an der Waagbank neben dem Backhaus. Kommst du?“, fragte Annegret.

      Martha zuckte mit den Schultern.

      „Die Liesl hat gesagt, die jungen Burschen kommen auch“, versuchte sie die Freundin zu begeistern.

      Martha löste sich aus dem Haltegriff Annegrets, die sich noch einmal umdrehte, bevor sie die Bergstraße mit großen Sprüngen hinunterrannte und ihr zurief: „Also, bis heute Abend!“

      Martha lief gern die hintere Bergstraße entlang. Von dort aus konnte sie in die Gärten und Höfe der Häuschen blicken, die am Hang zur Dorfstraße hin gebaut worden waren. Sie sah die Kaninchenställe und die freilaufenden Hühner hinten im Hof, die nach den restlichen Körnern pickten, die Frauen, die Wäsche an die Leine hängten – es war immer jemand zuhause. Am Scheunentor hingen Kaninchenfelle, die auf Holzgestellen zum Trocknen aufgezogen worden waren. Sie musste an ihren Vater denken, der immer Tränen in den Augen hatte, wenn er wieder einen Hasen mit einem Nackenschlag getötet oder einem Huhn mit dem Beil den Kopf abgehackt hatte. Sie vermisste ihn sehr. Mit Mutter allein war alles so dunkel und trostlos im Haus.

      Doch als sie wieder an die verbrannte Welt des Lagerhausspeichers dachte, wich ihre Traurigkeit einer Wut, einem Entsetzen darüber, was sich Menschen antun können. Gleichzeitig spürte sie eine beängstigende Unruhe in sich aufkommen, eine Ahnung, ein Gedanke, dass vielleicht noch Schlimmeres passieren könnte.

      4 Heimkehr

      Auf dem Feldweg unterhalb der Weinberge lief ein Mann auf das Dorf zu. Die Stiefel an seinen Füßen schienen zu schwer für seinen schmalen Körper zu sein und doch setzte er entschlossen jeden Schritt vor den anderen, so als ob er sein Ziel kannte.

      Nichts als heim, dachte Paul, heim zur Mutter, heim ins Dorf. Mutter hatte ihm über die Feldpost geschrieben, dass sein Bruder Karl gefallen war und sein Vater als vermisst galt, doch er wollte nur nach Hause, einfach nach Hause.

      Er wischte sich mit der staubigen Hand über die Stirn und hoffte, dass niemand fragen würde. Das Gewehr drückte schwer auf seinen Schultern, ebenso das Gewicht seines leeren Rucksackes, an dessen Riemen ein Kaffeebecher baumelte. Das Gewehr hatte ihm auf der langen Strecke durch Wald und Wiesen geholfen zu überleben, jetzt würde er es nicht mehr brauchen.

      An den Weinstöcken am Wegesrand konnte er schon die ersten Triebe an den Reben erkennen und musste an all die Jahre denken, wie sie als Kinder bei der Weinlese am Abend mit nackten Füßen die Trauben in der Kelter festgestampft hatten und danach den ersten Most kosteten, der über eine äußere Rinne in einen Eimer gelaufen war. Die Arbeit dauerte oft bis spät in die Nacht, doch jedes Mal war es ein Freudenfest.

      In seinem Innern erklang die Musik von damals und beschwor Bilder von lachenden Mädchengesichtern herauf. Er versuchte sich vorzustellen, wie Annegret und Liesl wohl jetzt aussehen mochten und musste dabei schmunzeln, als plötzlich zwei Gestalten auf dem Feldweg vor ihm auftauchten und seine Erinnerungen vertrieben.

      Er warf sich ins nächste Gebüsch und hielt den Atem an. Er wollte nicht gefunden werden, noch nicht. Einer der beiden Gestalten hielt eine Fahne in den Händen, die im Wind flatterte. Als sie näherkamen, spürte Paul, wie er zu keuchen anfing. Er hatte so viele Male im Krieg den Atem anhalten müssen, so dass sich sein Mund seit einiger Zeit wie von selbst öffnete, wenn er Luft holte. Hoffentlich hören oder sehen sie mich nicht, dachte Paul noch, als sie abrupt vor ihm stehen blieben.

      „Komm raus!“, rief der Ältere mit der Fahne in der Hand.

      Paul duckte sich noch tiefer, in der Hoffnung, unerkannt zu bleiben, als er erneut die Stimme vernahm.

      „Komm raus! Wir tun dir nichts.“

      Er befand sich im Nachbarort und er hätte nur noch den Waldhügel überqueren müssen, um zu Hause zu sein. Was sollte er tun? Doch dann sah er durch die Äste hindurch die Holzkrücke des Jüngeren und das missgebildete Bein und beruhigte sich. Mit erhobenen Händen trat er aus seiner Deckung heraus.

      Der Ältere streckte ihm die Hand entgegen und sagte:

      „Ich bin der Bürgermeister, Grüß Gott, mein Sohn.“

      Jetzt erst sah Paul, dass es keine Fahne, sondern ein weißes Betttuch war, das an einer Apfelpflückstange gebunden war.

      „Wir gehen den Amis entgegen“, sagte der Bürgermeister, als er Pauls fragenden Blick sah, „damit sie unser Dorf verschonen.“

      „… und den Leut‘ nichts tun“, fügte der Jüngere hinzu.

      „Wem g’hörst du denn?“, fragte der Ältere weiter.

      „I..ch bin au…s Wiemersdorf, d..d..em Luber sein Jüngster“, stotterte Paul.

      „Ludwig Kassierer aus Wiemersdorf, stimmt’s?“, wiederholte der Bürgermeister zackig und Paul nickte verlegen.

      „Wenn du aus Wiemersdorf bist, dann kennst du meinen Sohn, den Friedrich, Friedrich Tetzlaff, der is’ doch Lehrer bei euch im Dorf.“ Paul nickte erneut und spürte, wie sein Herz zu klopfen begann. Seine Knie zitterten, das Blut sackte ihm in die Beine und ihm wurde schwindelig.

      „Bist ja ganz blass“, hörte er den Bürgermeister noch sagen, während er sein Gewehr von der Schulter rutschen ließ, um sich darauf zu stützen.

      „Gehst bei unserm Hof vorbei, wenn du vorne die Gasse runterkommst, meine Frau macht dir ’ne Brotzeit, dass d’ wieder zu Kräften kommst. Trink ’nen Schluck Most, damit d’ wieder Farb’ im G’sicht kriegst“, sagte er noch und klopfte Paul dabei auf die Schulter.

      „Sagst dem Friedrich Grüß Gott von uns, bin auch froh, dass er wieder g’sund vom Krieg daheim ist.“

      „Vergelt’s Gott“, grüßte Paul mit erhobener Hand und lief zügig, wenn auch noch schwankend, so schnell wie möglich den beiden Männern davon.

      Er nahm sich fest vor, nicht beim Hof des Bürgermeisters einzukehren. Nichts, aber auch gar nichts mehr wollte er mit diesem Lehrer zu tun haben.

      Doch als er die Gasse hinunterkam und die Bürgermeisterin durch das offene Tor mit dem Eierkorb in der Hand über den Hof laufen sah, trieb ihn der Hunger hinein. Er rief ihr zu, dass ihr Mann ihn geschickt habe, da ließ sie alles liegen und stehen und bewirtete ihn, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Als er fertig war, packte sie ihm noch einen Laib Brot, Butter, Eier und ein paar Räucherwürste in den Rucksack, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte.

      „Vergelt’s Gott“, bedankte sich Paul verlegen, bevor er aufstand und den Hof verließ.

      „Grüß den Friedrich von mir, war so froh, als sie im Radio gebracht haben, dass der Krieg vorbei ist.“

      Paul spürte Verwirrung und Erleichterung