Anna Neder von der Goltz

Martha schweigt


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net beim Friedrich vorbeischauen, er kommt ja eh’ jeden Sonntag zum Mittagessen, hab nur gemeint, wenn du ihn halt triffst.“

      Ich werd ihn nicht treffen, dachte Paul, und wenn’s der Zufall doch will, dann werd ich einen weiten Bogen um ihn machen.

      Sein Bruder Karl war der Liebling des Lehrers gewesen, an ihm hatte der seinen Narren gefressen. Da nutzte es auch nichts, dass Paul ein guter Fußballspieler und ein guter Schüler war. Am Anfang wollte sein Bruder ihn nicht mal zu den HJ-Treffen mitlassen, und wenn sie mit der Fahne und uniformiert durchs Dorf marschierten, da trug sein Bruder jedes Mal die Fahne und Paul musste mit den anderen hinterhertrotten.

      Wie eifrig er sich auch meldete und Interesse bekundete, der Lehrer schaute immer über ihn hinweg, so als ob er nicht existierte. Er hatte bei einem Diktat dem Bruno noch schnell die Kommas in den Text gemacht, bevor sie ihre Zettel abgeben mussten. Der Lehrer erwischte ihn und als sich Paul entschuldigen wollte, zischte dieser nur höhnisch, während er Paul das Ohr umdrehte, bis dieser vor Schmerz aufschrie.

      „Entschuldigung, was heißt hier Entschuldigung – das ist ein Charakterfehler, ein Charakterfehler!“, hallte es bis in die letzte Bank der Schulstube. Paul ging beschämt und gedemütigt auf seinen Platz zurück. Nicht mal Bruno, sein Banknachbar, dem er eine gute Note verschaffen wollte, nahm Notiz von ihm. Der Lehrer hielt alle, vom erhöhten Pult aus, mit seinem stieren Blick im unsichtbaren Würgegriff.

      Am Abend hat er’s dann Fritz, dem Ackergaul, im Stall erzählt, während er sein Fell mit Striegel und Bürste reinigte. Bei jedem Strich wiederholte er: „Ich hab keinen Charakterfehler, ich hab keinen Charakterfehlen, ich hab keinen Charakterfehler, …“ und bildete sich dabei ein, dass das Pferd jedes Mal mit dem Kopf nickte, bis der Vater mit der Petroleumlampe auftauchte, um vor der Nachtruhe noch mal nach den Tieren zu sehen. Paul wusste nicht, ob sein Vater ihn gehört hatte.

      Paul war mittlerweile im Wald oben am Hügel, angelangt. Er wählte den gleichen Weg, den er immer mit Vater und Karl gegangen war, wenn sie die Verwandten im Nachbarort besucht hatten. Der weiche Waldboden war durchzogen mit Wurzelgeäst. In den Lichtungen konnte man die ersten Blätter der Maiglöckchen sehen und am Wegrand links und rechts die Bäume, in deren Rinde sie ihre Initialen eingeritzt hatten: A+K, L+P und K+P für Karl und Paul.

      Paul blieb stehen und fuhr mit dem Finger den Buchstaben K nach. Wo Karl jetzt wohl ist?, dachte er wehmütig. Er spürte, wie eine große Welle der Traurigkeit ihn übermannte und wie eine bleierne Hand in seinem Nacken versuchte, seinen Kopf nach unten zu drücken. Doch Paul warf ihn ruckartig zurück in den Nacken und mit Blick zum Himmel schrie er: „Nein, nein, nein!“

      Er weigerte sich vorzustellen, dass Karl tot sei. Er wird, wie ich, von der Kompanie geflohen sein, er war im Lazarett und ist nicht wieder zurückgegangen, die wissen nicht, die können doch gar nicht wissen, wo er ist, dass er noch lebt. Doch dann hätte Karl ein einziges Mal ungehorsam sein müssen, Paul zögerte bei diesem Gedanken, ein einziges Mal in seinem Leben. Und dieser Gedanke machte Paul erneut traurig und ließ seinen Kopf und die Hoffnung zugleich sinken.

      Karl war so stolz, wenn er beim Abendbrot nach dem Gebet die Wochensprüche aus der Schule auswendig aufsagte:

      „Der Führer weiß und kann alles“, sagte Karl eines Tages plötzlich nach dem Tischgebet.

      „Der Hitler ist ein gottloser Mensch!“, entgegnete Vater erbost.

      „Nur mit Gewalt kann man das erreichen, was man will“, postulierte Karl weiter.

      „Gewalt erzeugt nur wieder Gewalt“, protestierte der Vater aufgebracht. Und erst als die Mutter ihre Hand auf die seine legte, beruhigte er sich.

      „Euch wird’s nicht gut gehen, Kinder – wir gehen schweren Zeiten entgegen“, sagte er dann und kündigte mit den Worten „Gesegnete Mahlzeit“ die Schweigezeit während des Essens an.

      Der Lehrer hatte den Paul immer übersehen und als der in die höhere Schule gehen wollte um zu studieren, da hat der Lehrer zum Vater „nein“ gesagt, „die jungen Leut sollen daheim im Dorf bleiben, dort wo sie gebraucht werden“. Der Vater war weitsichtiger, er wusste, dass der Hof nicht für beide Söhne reichen würde und deshalb hatte er Paul in der Fabrik eine Schlosserlehre machen lassen, bevor der Krieg begann. Die Mutter und sie alle hatten gedacht, dass Vater nicht mehr an die Front muss, wegen seiner Lungenkrankheit aus dem letzten Krieg. Die Nachricht hatte alle schockiert.

      Am Abend des Tages, an dem der Einberufungsbefehl für Vater gekommen war und sie noch ein letztes Mal zusammen die Tiere im Stall striegelten, da sah Paul, dass sein Vater weinte, während er ruhig und gleichmäßig über das Fell der Tierrücken strich.

      „Warum musst du denn in den Krieg?“, traute Paul sich nun zu fragen.

      Jetzt war ein leichtes schmerzhaftes Lächeln auf dem Gesicht des Vaters im flackernden Schein der Petroleumlampe zu sehen.

      „Weil ich einen Charakterfehler habe“, gab er zur Antwort zurück und Paul musste schlucken.

      Bei den Weinbergen seines Heimatortes angelangt, lief er den Hang hinunter. Frauen, die in den angrenzenden Gemüsegärten ihre Beete jäteten, kamen ihm entgegengelaufen, als sie ihn erblickten.

      „Paul, um Gottes Willen, Paul, bist du’s?“– „Heilige Maria Mutter Gottes, die ersten kommen schon heim.“ – „Gott sei Dank!“

      Und dann kamen die Fragen: „Weißt du was vom Erwin?“ – „War der Josef bei dir in der Kompanie?“ – „Hast du was vom Hans gehört?“

      Paul musste sie alle enttäuschen, als er sagte, dass viele in Gefangenschaft geraten seien.

      „Na ja, um Gottes Willen, es wird scho’ alles gut gehen.“ – „Deine Mutter wird sich freuen, Paul, jetzt muss sie nicht mehr die ganze Arbeit allein machen.“

      Paul lief das Dorf Richtung Kirchgasse, wo sein Elternhaus stand, hoch. Der Gedanke, dass er nicht Bauer sein wollte, sondern wieder zurück in die Fabrik gehen wollte, ließ ihn nicht mehr los. Er wollte zu seinem Meister zurück. Der Lehrer mochte ihn nicht, aber sein Meister, der wusste, was in ihm steckte, wusste, dass er tüchtig war.

      5 Maikäfer flieg!

      Sie fanden den kleinen Rico in den späten Abendstunden am Bachufer, durchgefroren und wimmernd saß er dort, die Arme um die Beine geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt. Neben ihm seine Kleider zusammengefaltet auf einem Haufen, daneben eine leere Zigarrenkiste, in der das gewesen war, womit sie ihn angelockt hatten. Er hielt diesen Schatz noch immer fest in seiner Hand, einen Maikäfer, den er so festgedrückt hatte, dass der jetzt tot war.

      Martha musste wieder an ihn denken, jetzt wo die Leute vor ihr auf dem Dorfplatz in ihrem Tun stehen geblieben waren, weil ein Jeep mit zwei amerikanischen Soldaten vor der Waagbank gehalten hatte. Sie kamen öfters in der letzten Zeit, immer samstags, wenn die Frauen auf dem Weg ins Backhaus waren oder die Männer ein Schwein über den Dorfplatz zur Waage zogen, doch heute war zum ersten Mal ein dunkler GI dabei.

      Der Bäcker Körner zog wie jeden Samstag seinen Leiterwagen mit Körben voller Brotlaibe und Brötchen beladen über die Straße auf das Gasthaus zu. Auch bei ihm gab es Amerikaner, weiße und schwarze: Gebäckteilchen mit weißer Zuckerglasur und welche mit schwarzer Schokolade überzogen. Die Kinder liebten diese runden Kuchenstücke viel mehr als den Hefekuchen ihrer Mütter und Großmütter, den diese, auf riesigen Blechen in die Hüfte gestemmt, vom Backhaus nach Hause trugen.

      So wie sie auch die olivfarbenen Döschen liebten, die ihnen die amerikanischen Soldaten zusteckten, wenn sie sich in ihre Nähe wagten.

      „Hello, how gaard’s?“, trauten sich die Mutigen unter ihnen den Soldaten zuzurufen, und die Schüchternen zählten im Hintergrund, „One, two, three, …“, um auch ihr Können zur Geltung zu bringen, in der Hoffnung, dass sie etwas von der Beute abbekommen würden.

      „Hello, good morning kids!“, rief der schwarze der beiden Soldaten ihnen zu und warf ihnen aus dem offenen Jeep Kaugummipäckchen entgegen.

      „Catch it!“, rief er