„Vater will, dass ich Pfarrer werde“, unterdrückte Schorsch sein Schluchzen, während er sich die Bettdecke an diesem Abend bis zur Stirn hochzog.
„Was?“, entfuhr es Friedrich, der im Bett hochschreckte und nicht sicher war, wo die Worte im Dunkeln herkamen. Träumte sein Bruder? Erst jetzt merkte er, dass Schorsch weinte.
Als sie noch klein waren, waren sie oft in den unbeheizten Zimmern unter eine Decke gekrochen, um sich gegenseitig zu wärmen. Friedrich zögerte einen Moment, doch dann nahm er seine Bettdecke und legte sich in Schorschs Bett an dessen Seite.
Schorsch hatte sich die Tränen mit dem Bettzipfel abgewischt und grinste verlegen.
„Ich muss dir morgen noch Moped fahren beibringen und mein Taschenmesser kannst du auch haben, als Andenken“, sagte er.
„Ich will nicht, dass du fortgehst“, erwiderte Friedrich und holte tief Luft, um nicht auch in Tränen ausbrechen zu müssen.
„Keine Angst, ich werd nicht Pfarrer, ich werd Richter und dann werde ich alle verklagen.“
Eng umschlungen unter ihren Bettdecken, dieses Mal hatte Friedrich seinen Arm schützend um den großen Bruder gelegt, schliefen sie ein.
Vater hörte sich weiterhin täglich in der Mittagszeit die Sorgen der Dorfbürger im Rathaus an. Es kamen Frauen aus dem Dorf, die ihn baten, ihren Männern zu sagen, dass sie nicht so viel trinken sollten, es kamen Kriegsinvalide, die ihr Leid klagten, weil sie mit der Arbeit auf dem Feld nicht fertig wurden, und manch einer wütete über sein ungezogenes Kind und fragte sich, ob es nicht ein Bankert aus den Kriegstagen sei. Es kamen Alte, die nach Brennholz fragten, oder Lebensmittel brauchten, weil sie zu wenig Rentenmarken geklebt hatten und ihr Essen nicht ausreichte.
„Euer Vater ist ein guter Mensch“, sagte Mutter immer, wenn sie Friedrich und Schorsch mal wieder mit einem Korb voller Kartoffeln und Äpfel zu den Häusern der Bedürftigen losschickte. Doch seit dem Tag, an dem Friedrich allein die Körbe trug, zweifelte er, ob Vater wirklich ein guter Mensch, ein guter Vater war.
*
Vater ist ein Schwächling, dachte Friedrich. Als der zweite Weltkrieg begann, hatte Friedrich gesehen, wie Mutter dem Hausarzt eine Stofftasche mit einer Flasche Schnaps und einen in Zeitungspapier gewickelten Schinken in die Hand drückte.
„Herr Doktor, mein Mann hat schon so viel mitgemacht, können Sie nicht was tun?“
Der Arzt nickte. „Und Ferdinand, der schafft den Hof ja auch nicht allein“, unterstützte er Mutters Absichten.
„Es ist wegen der Lunge, Herr Doktor, sein Husten nachts, den er vom letzten Krieg mitgebracht hat …“, wich Mutter aus.
Vater musste nicht in den Krieg ziehen, Ferdinand nicht – nur er.
In den letzten Kriegstagen kam eine Frau auf den Hof gerannt und rief: „Bürgermeister, die Amerikaner kommen, sie sind schon bei den Weinbergen, schnell, Sie müssen was tun“, rief sie ganz außer Atem.
Vater befahl Mutter ein Bettlaken zu holen und Ferdinand die Apfelpflückstange aus der Scheune, an die das weiße Laken gebunden wurde. Mit dieser weißen Friedensfahne in der Hand und seinem hinkenden Sohn an der Seite ging er den amerikanischen Soldaten auf den Weinbergwegen entgegen und überreichte ihnen den Rathausschlüssel.
„Es fiel kein einziger Schuss, Opa rettete unser Dorf “, prahlte sein Neffe jeden Sonntag beim gemeinsamen Mittagessen, bei dem die ganze Familie zusammensaß, eine Tradition, die Mutter nach dem Krieg hatte wiederaufleben lassen.
„Weißt du, dass Vater nicht mal in der Partei war?“, wandte sich sein Bruder Ferdinand jetzt an ihn.
„Mutter hatte ihn ins Rathaus nach Ellersbach geschickt, damit er sich als Parteimitglied eintrage. Aber Vater“, so erzählte dieser weiter, „war damals auf halbem Weg umgekehrt und all die Hitlerjahre hindurch hatte niemand gemerkt, dass er gar nicht in der Partei gewesen ist. Vater ist ein Held!“
Mutter klopfte bei diesen Worten sanft auf Vaters Schulter und setzte sich neben ihn. Er nahm ihre Hand und wollte mild und versöhnlich wirken, als er sagte:
„Ja, manchmal sind es die Daheimgeblieben, die ihren Mann stehen und das Vaterland retten müssen.“
Friedrich spürte, wie ihm der Sauerbraten aufstieß und einen bitteren Geschmack im Mund hinterließ.
„Ich muss gehen, meine kranke Frau wartet zuhause.“ Er stand ruckartig auf und murmelte noch „Gesegnete Mahlzeit!“
Mutter fing ihn an der Haustür ab und bat ihn zu warten, sie wolle für seine Frau noch etwas zum Einreiben mitschicken. Auch Gernot, der Jüngere der beiden Neffen, kam hinter ihm hergerannt:
„Onkel Friedrich, wann gehen wir wieder auf Rebhuhnjagd?“
„Bald“, antwortete Friedrich und tätschelte die Wange von Gernot. Er wurde jedes Mal schwach, wenn er die strahlend blauen Augen und den blonden Lockenkopf seines Neffen sah, die ihn immer wieder an seinen Bruder Schorsch erinnerten. Mutter hielt ihn am Arm fest, als sie ihm den Beutel mit dem Glas Gänseschmalz und einem Stoffsäckchen mit getrockneten Brennesselblättern in die Hand drückte.
„Dein Vater hat das nicht so gemeint, er war doch selbst im Krieg.“
„Ach was, für sein Drückebergertum müsste man ihn noch im Nachhinein erschießen“, entfuhr es Friedrich zornig, bevor er sich von ihr losriss.
„Friedrich, versündige dich nicht, um Gottes Willen!“, stieß Mutter hervor und als sie ihn die Treppe hinunter und zum Hof hinausgehen sah, bekreuzigte sie sich.
Friedrich war aufgewühlt von dem Geschwätz und quälte sich den ganzen Weg durch den Wald zurück nach Hause mit Gedanken über Sünde und Strafe. Wofür wurde er eigentlich bestraft, fragte er sich.
Schorsch, seinen Bruder, den er so geliebt hatte, hatte er verloren, seine Frau war krank, seine Ehe blieb kinderlos und für seinen Einsatz im Krieg wurde er nun mit der Häme der Drückeberger überschüttet – war dies nicht alles Strafe? Aber wofür?
Er verfluchte sich und die Welt und merkte, wie bei diesen Gedanken sein Kopf schwer wurde und er ließ ihn in beide Hände auf die Schreibtischplatte fallen. Als er wieder zu sich kam, seinen Kopf hob, sah er das Bild von Schorsch auf seinem Schreibtisch stehen und spürte, wie sehr er ihn noch immer vermisste, als draußen ein Ast vom Baum herunterkrachte.
Es war Paul, er hatte ihn gebeten, die Obstbäume zu schneiden. Paul war jung, ein ehemaliger Schüler von ihm – auch er war im Krieg gewesen.
Durchs Fenster beobachtete er, wie Paul auf den Bäumen herumkletterte und die Äste für den nächsten Austrieb zurückschnitt. Mit seinen weit ausholenden, gestreckten Armen lockerte er die abgeschnittenen Zweige aus dem Geäst und warf sie auf die Erde. Friedrich konnte die Muskeln seiner Oberarme und seiner Schultern unter dem Hemd erkennen, wie diese sich zusammenzogen und gespannt weiteten, wenn wieder ein Ast Richtung Boden fiel. Der Schweiß rann ihm den Nacken hinunter und in seinen dunklen Locken verfing sich das eine oder andere trockene Blatt des Baumes. Friedrich spürte den Schmerz, eine Sehnsucht in der Brust, die ihn fast zerriss. – Wie gerne wäre er noch einmal jung gewesen.
7 Liebesreigen
Martha konnte es noch immer nicht glauben. Antonia, die junge Wirtshausbesitzerin war zu Besuch da gewesen. Sie hatte Bohnenkaffee mitgebracht, von dem die Mutter gleich welchen aufbrühte, und Seidenstrümpfe für Martha. Ob Martha am Wochenende beim Bedienen helfen könne, hatte sie gefragt. Die Mutter nickte und ließ sich auf den Stuhl sinken und Martha konnte ihr Glück kaum fassen.
Antonia, auch Toni genannt, die nur fünfzehn Jahre älter war als sie, führte den Gasthof im Dorf. Martha hatte von den Tanzabenden mit modernem Swing und Schlagern gehört, die bei Antonia im Saal stattfanden. Antonia fuhr das erste Auto im Dorf und wenn sie montags am Ruhetag vom Einkaufen aus der Stadt zurückkam, warteten die Frauen aus der Metzgerei schon vor ihrem Haus gespannt darauf, was sie dieses Mal für sie mitgebracht hatte: Bett- und Tischwäsche, Kleider,