Christopher Ecker

Fahlmann


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muss ich mir noch ein Bier holen.» Je später es wurde, desto häufiger zog ich mich mit einem «Bester Alles!» aus Gesprächen zurück, die sich wie eine Schlinge um mein Denken zu legen drohten, manchmal rief ich aus: «Seltsam, aber so steht es geschrieben!» und, wenn ich mich recht entsinne, erzählte ich sogar Witze. Ein Ameisenbär geht ins Bordell, die Frau sitzt gerade in der Badewanne, da klopft der Klempner an der Tür. Und Bier. Viel Bier. Bier macht alles einfacher. Bier ist der flüssige Gott. Das ist heute auch noch so. Mit einem kleinen Unterschied. Damals musste ich, wenn ich zu viel getrunken hatte, auf der Couch schlafen und mich mit der Katzendecke zudecken. Heute kann ich so viel saufen, wie ich will, und keiner macht mir Vorhaltungen. Filmriss. Eine durchsichtige Jasmin setzte sich neben mich auf die Rückbank des Taxis. «Sie werfen ja gar nichts mehr ein», hatte sie bei meinem letzten Besuch in der Bäckerei Gallinger gesagt. Wir betrachteten die verplombte Sammelbüchse auf dem Tresen. «Das hab ich völlig vergessen!» Ich schlug einen scherzhaften Ton an: «Irgendwas muss mich hier wohl teuflisch ablenken.» Sie verstand nicht, ich sah an ihr vorbei in die Backstube: Unter riesigen Nudelhölzern hing ein kreisrundes Mehlsieb, das ein Draht-X in vier gleiche Teile schnitt; in einem Metalltrog lauerte eine zähe, klebrige Teigmasse; geräuschlos schloss jemand die Backstubentür von innen. Liebe Jasmin!, schrieb ich nach der Lesung heillos betrunken am Wohnzimmertisch.

       Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht. Ich weiß nur, wie Sie aussehen – in dieser gequälten Art ging es weiter, bis der Brief in dem markerschütternden Aufschrei gipfelte: Was für ein Mensch bist Du? Für mich unbemerkt war ich beim Schreiben zum Du übergegangen, egal, ich faltete das Blatt, küsste es und steckte es in einen frankierten Umschlag. Darauf schrieb ich: Jasmin Rimbach und die Adresse, die Heinz mir besorgt hatte. Und was für ein Mensch war ich? Ich klappte das Notizbuch auf und schrieb: Ich bin ein peinlicher Wichtigtuer, der jedem erzählt, der Große Schlumpf sei die Apotheose der Französischen Revolution. Ich bin einer, den das Urteil zweier Unbekannter auf einer VHS-Toilette an den Rand des Wahnsinns treiben kann. Jemand, der Inge gerne einer vielleicht noch minderjährigen Bäckereimieze glühende Liebesbriefe schreibt. Nein, ich würde den Brief nicht abschicken, durfte es nicht tun, auf gar keinen Fall. Ich legte mich auf die Couch, war hundemüde, aber kaum hatte ich mir Oms Decke bis zum Kinn hochgezogen, sah ich Großvater verloren inmitten meines Publikums sitzen und war wieder hellwach. Wieso hatte ich mich nicht länger mit ihm unterhalten? Und wieso hatte ich ihn mitten im Gespräch stehen lassen? Irgendwie machte ich alles falsch. Und natürlich warf ich den Brief am nächsten Tag in den Briefkasten.

      Vorhin, nach dem Frühstück, hatte mich Susanne gefragt, wie es gelaufen sei. Ich antwortete: «Ganz in Ordnung!», aber sie wollte es genau wissen und bedachte mich mit ihrem speziellen Du-kannst-mir-ja-viel-erzählen-Blick. «Die Lesung war ganz in Ordnung», gab ich klein bei. «Bis auf die Gedichte. Bis auf die Leute. Bis auf die Lesung.» Mein Lachen klang gequält. «Großvater war auch da. Ich muss ihn nachher anrufen. Irgendwie hab ich ihn im Getümmel aus den Augen verloren.» Jens war im Badezimmer, kristallklares Blassblau, das Licht der Küchenlampe fiel in Susannes Augen, brachte die Iris zum Leuchten. Fast andächtig bewunderte ich die Strahlenkränze dunkler Linien, die an die dichte Speichenharfe eines Fahrrads erinnerten. «Du hast schöne Augen», sagte ich, strich ihr die Haare aus der Stirn, Susanne umarmte mich, das kam für uns beide unerwartet, wir hielten uns umschlungen, ich spürte ihren Herzschlag an meiner Brust und vergrub das Gesicht in frisch gewaschenem Haar. «Wie hast du geschlafen?», flüsterte Susanne neben meinem Ohr. «Geht so», log ich. – «Ich hab dich gar nicht ins Bett kommen gehört.» – «Es war spät.» – «Schreibst du heute?» – «Ich werds versuchen», sagte ich, bezweifelte aber, dass es nach dieser Nacht klappen würde. Die Vorstellung, im Kopf fremder Menschen ein dubioses Schattendasein zu führen, hatte mich bis vier Uhr früh wachgehalten, dann erst war der Schlaf gekommen: in kurzen, flüchtigen Stippvisiten. Immer wieder erwachte ich, sah auf die Uhr, geisterte durch die Wohnung, Susanne schlief, der Brief an Jasmin lag gut versteckt unter dem Fußabstreifer, Jens schlief, und selbst Om hatte sich am Fußende des Kinderbetts zu einer schwarzen Pelzkugel zusammengerollt, deren Ohren unwillig zuckten, wenn ich neidisch ins Zimmer spähte. Und nun war ich endlich alleine. Den Brief hatte ich vorm Frühstück eingeworfen. Morgen bekäme Jasmin Post von einem anonymen Verehrer.

      Susannes Bademantel hing über dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stützte sich mit schlaffen Ärmeln auf den Fliesen ab; die Spüle bog sich unter schmutzigem Geschirr; ich bückte mich nach der Zeitung, der beim Sturz auf den Fußboden die Eingeweide in Form bunter Hochglanzprospekte aus dem Bauch gequollen waren. Rote Marmeladensiegel übersäten die Tischplatte. Jens hatte den Rest seines Brötchens zu kleinen Stückchen zerpflückt, damit keinem auffiel, dass er kaum etwas gefrühstückt hatte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Vater die butter- und marmeladeverschmierten Teile auf dem Teller zu einer fast kompletten Brötchenhälfte zusammensetzen würde! Wenigstens hat er seinen Kakao ausgetrunken. Die Mohrenkopfbrötchen seines geschäftstüchtigen Hausmeisters verfluchend, stellte ich mich wieder ans Küchenfenster, ich, der Verfasser eines von der Kritik kübelweise mit unverdientem Lob überschütteten Gedichtbands, ausgebrannt, müde, ohne Energie zum Schreiben anspruchsvoller Prosa. Hoffentlich dachten diese ernsten Menschen, die mir gestern so andächtig gelauscht hatten, nicht mehr an mich! Sie haben mich schon vergessen, sagte ich mir, ich verblasse in ihren Gedanken wie das Gegenteil einer Polaroid-Fotografie. Dennoch fühlte ich mich, wie man sich wahrscheinlich fühlt, wenn man eines Tages feststellt, seit seiner Geburt ein Bewohner Spitzbergens zu sein. Ich steckte eine Zigarette an, die nicht schmeckte, und blätterte hinten im Notizbuch, wo ich Zitate aufgeschrieben hatte wie: Und dann will es mir scheinen, als ob man uns doch zu viel zugemutet hätte, als ob wir uns niemals so recht von Herzen mehr freuen könnten. Diese Sentenz stammt von einem deutschen Literaten und Helmsammler, dessen Namen an der Uni zu nennen akademischem Selbstmord gleichgekommen wäre. Das zweite Fundstück, das ebenfalls zu diesem Tag zu gehören schien, hatte Pessoa seinem traurigen Lissabonner Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in den Mund gelegt: Wie Diogenes den Alexander habe ich das Leben nur gebeten, es möge mir aus der Sonne gehen. Ich bewegte mich in Gedanken um diese Sätze herum, zu viel zugemutet, aus der Sonne gehen, Hügel, Inseln, ich füllte die Zwischenräume mit Sand, bis die Gipfel der beiden Sentenzen (Worte wie Herzen oder Sonne) verschwunden waren und sich die Wüste einer existentiellen Traurigkeit in die Küche hinein erstreckte. Existentielle Traurigkeit. Das steht wirklich im Notizbuch. Ohne Anführungszeichen, wie so oft ohne Quellenangabe, vielleicht sogar von mir, beziehungsweise von einer früheren Version meines Ichs, einem flüchtigen Bekannten, den ich bereits vor langer Zeit aus den Augen verloren hatte.

      Schon damals glitschte mein Charakter aus den zupackenden Händen wie ein Aal: Einerseits beklagte ich die Ereignislosigkeit meines Lebens, andererseits wünschte ich mir, ohne mir dessen bewusst zu sein, nichts sehnlicher als eben diese Ereignislosigkeit. 1. Es ist, als schöbe sich eine Glasplatte zwischen mein Ich und mein Ich. 2. Ich bin derjenige, auf dessen Seite sich der Beobachter (ich) zufällig befindet. 3. Mein Ich pendelt zwischen gegensätzlichen Polen hin und her, und doch bin ich nicht das Äquatorische, das dazwischen liegt, sondern zum Zeitpunkt A bin ich X (A), und zum Zeitpunkt B bin ich X (B). 4. Es ist gefährlich, zu lange über sich selbst nachzudenken, Ausrufezeichen, Tinte trockenpusten, Notizbuch zu. Das Ich ist eine Falle in einem selbst.

      Meinen Freunden verschwieg ich solche Überlegungen (gefährlich