Christopher Ecker

Fahlmann


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brüllen oder hemmungslos rülpsen hörte. Mal beneidete ich ihn um diese Unkompliziertheit, mal bekümmerte mich die gleichförmige Melodie seines Lebens, gestört durch den Missklang einer verborgenen Familie im Hintergrund. Für mich hatte Heinz immer zu unserer Familie gehört. Er aß mittags bei Onkel Jörg (Chilibohnen waren ihre Spezialität), und schon als Kind hatte es mich in Erstaunen versetzt, dass Heinz nicht Fahlmann hieß. Von ihm bekam ich die tollsten Geburtstagsgeschenke (Messer, Luftpistole, Wehrmachtshelm); als mich die Schachtsträßler auf dem Kieker hatten, holte er mich einen ganzen Monat lang mit der Vespa von der Schule ab; spucks aus, Junge, wie viel Dollar fehlen dir noch zu deinem Moped? Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Heinz vermisse, und werde das ungute Gefühl nicht los, ihm meine Zuneigung zu wenig gezeigt zu haben. Aber damals lebte ich hinter Glas.

      Widerwärtig alltägliche Probleme wie ein zur dämonischen Schreckgestalt aufgeblähter Marsitzky verstellten mir den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge. Meine Freunde wussten nichts davon. Sie durften nie von meinen Schwierigkeiten mit Marsitzky erfahren. Winkler, weil es ihn nichts anging, und mit Achim redete ich hauptsächlich über Sex (allgemein), Biertrinken (speziell) und das lästige Studium – aber meistens machten wir Quatsch. Mit professionellem Geschick vertrieben wir unliebsame Tischgenossen, irgendwelche Trottel, die Achim von seiner Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr kannte, und die ihn «Flacharsch» nannten. Ein Dummes Gesicht setzt sich zu uns an den Tisch, Flacharsch und so weiter, hahaha, Herrenwitze, und plötzlich fragt Achim mich in beiläufigem Tonfall: «Was haben wir denn damals eigentlich gekriegt, als wir das Mittelmeer ausgehoben haben.» – «Fünfhundertvierundvierzig Mark die Stunde», sage ich. «?», macht das Dumme Gesicht. «Der Sack, der die Alpen aufgeschüttet hat, hat sechshundert Mark bekommen», fahre ich mit Bedacht fort und erkläre unserem neuen Freund herablassend: «Höhenzulage.» – «Die brauchen uns bald wieder», sagt Achim. «Die Verschalung ist undicht.» – «Das wird teuer», seufze ich. «Alles abpumpen, die Muscheln abkratzen, der Sand muss rundumerneuert werden, Unterbodenwäsche, dann Silikon in die Fugen – wird ein scheißteurer Spaß!» In dieser Art machten wir weiter, bis dem Dummen Gesicht die Sicherungen im Kopf zu qualmen begannen, und es genervt das Weite suchte. Besonders peinigend empfanden die Typen von der Freiwilligen Feuerwehr unsere offenkundige Unkenntnis in handwerklichen Universalien. Der Achter Schlüssel, die Zwölfer Nuss, die mächtige Hilti waren die schwarzen Trümpfe, die, falsch ausgespielt, die Hände des hartgesottensten Handwerkers zum Zittern brachten. Nur gegen Onkel Jörg gab es keine Allzweckwaffe.

       Hönk, hönk, der Transit fährt vor, Onkel Jörg betritt Mollingers Eck, begrüßt die Anwesenden mit einer kreisenden Handbewegung, die einen Heiligenschein in den Zigarettenqualm über seinem Kopf zeichnet, zischt mit Heinz ein schnelles Bier am Tresen, tritt dann an unseren Tisch, mimt den Zerknirschten und versucht mit einigen Fragen, den Grad meiner Trunkenheit zu ermitteln. Achims Gesicht ist längst zur Grimasse erstarrt, aber so verdiene ich mein Geld! Im Nachhinein hat sich immerhin eine Nachtfahrt mit Onkel Jörg gelohnt, jene Fahrt nämlich, als ich mich aus heiterem Himmel an Sonettkränze erinnerte. Bestehen aus fünfzehn Sonetten, rekonstruierte ich, während die Sargkanten den Putz von den Wänden eines Treppenhauses schabten, der Schlussvers des ersten Sonetts ist der Anfangsvers des zweiten und so weiter. Mich interessierte vor allem das Meistersonett, das sich aus den ersten Zeilen der vierzehn Kranz-Sonette zusammensetzte. Erste Worte! Nun wusste ich, was ich Marsitzky schicken würde! Letzte Worte! Die erste Zeile des ersten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile meines Gedichts erste worte; die zweite Zeile des zweiten Gedichts der mond-schein-parade bildet die zweite Zeile; die dritte Zeile des dritten Gedichts bildet die dritte Zeile und so fort …

      erste worte

      unfug mit dem feuerlöscher

       oben am jong bösch

       peilt gott lotrecht im eimer

       komm mal mit mein kleines

       duseln nattern durch krummbüsche

       steh kopf, schwammenwald!

       schwester inge! ihr busen!

       deine kleine raupe

      Bei den letzten worten verfuhr ich umgekehrt: Die letzte Zeile des letzten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile, die vorletzte Zeile des vorletzten Gedichts bildet die zweite, die vorvorletzte Zeile des vorvorletzten Gedichts die dritte Zeile – mochte Marsitzky daran verrecken!

      letzte worte

      deine kleine raupe

       oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst

       très joli! pierre oiseau:

       plätten maulwurfshügel maulwurfshügel

       nack-tack-tack so dunkel

       hat tee in der tube (7 liter und mehr)

       oben am jong bösch

       unfug mit dem feuerlöscher

      Die kleine Raupe beschloss die ersten worte, die kleine Raupe eröffnete die letzten worte, krümmte sich und bildete einen weichen Kreis. «Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles», sagte die Raupe; und damit steckte sie die Wasserpfeife wieder in den Mund und schmauchte weiter. Auch der unvorhergesehene, aber durchaus willkommene Umstand, dass die letzte Zeile der letzten worte nicht nur identisch mit der ersten Zeile der ersten worte war, sondern auch – oh, Wunder! – mit der ersten Zeile des Eröffnungspoems der mond-schein-parade, gab den ersten beiden Gedichten meiner Nachkregelphase ein spielerisches, fast magisches Flair. Bestürzt über den Stolz auf diese lyrischen Bastelarbeiten brachte ich sie noch in der Nacht zum Briefkasten. Am Fenster. Schlechtes Wetter. Genau … Ich stehe am Fenster. Ich rieche den Geruch der Wohnung, ein Wasserhahn tropft. Mittlerweile hatte der Wind gedreht, peitschte Regen gegen die Scheibe und machte unser Haus zum Unterseeboot, das sich in einer versunkenen Stadt verfranzt hat; gluckernd füllte sich die Thermoskanne; Zeit verging; Großvater rief an: «Hast du die Lesung gut überstanden?»

      «Mehr oder weniger», sagte ich.

      «Du hast ausgezeichnet gelesen.»

      «Danke.»

      «Genieß es doch einfach als Schauspiel!»

      «Das sollte man tun», murmelte ich, hatte aber keine Lust, mit ihm über meine literarische Karriere zu reden, erste worte, letzte worte, ich war gespannt, wie Marsitzky meine Spaßpost aufnehmen würde, und hoffte fast, er würde seiner Sekretärin einen kühlen Brief diktieren, so nicht, Herr Fahlmann, eine knappe Mitteilung, die unsere demütigend einseitige Verbindung beendete. «Das sollte ich wohl tun», sagte ich und lenkte das Gespräch mit einem ungeschickten, aber bestimmten Ruck vom Hauptgleis Fürchterliche Lesung auf ein Nebengleis: «Was liest du zurzeit?»

      «Vera christiana religio. Eine Schrift von 1771.»

      «Du liest religiöse Traktate?»

      «Nicht direkt», lachte Großvater. «Das Buch ist kurios. Momentan erfahre ich zum Beispiel, dass es zwei jenseitige Londons gibt.»

      «Jenseitige Londons?»

      «Ein London der Hölle und ein London des Paradieses. Das ist mit allen Städten so.»

      «Soso», bemerkte ich befangen, «das ist ja wirklich kurios.» Ich gab mir Mühe, noch ein wenig mit Großvater zu plaudern, aber irgendwie fehlte mir der rechte Schwung. Als ich auflegte, starrte mich Om fassungslos an. Ich starrte zurück, er ließ sich seitlich umfallen, streckte einen Hinterlauf in die Höhe und widmete sich voller Behagen einer schamlosen Intimhygiene. Ich sah ihm eine Weile dabei zu, ging dann in die Küche zurück, legte die tropfende Filtertüte behutsam auf den Unrat, der den Deckel des Mülleimers anhob, schraubte die Thermoskanne zu und stellte mich wieder ans Fenster. Dahinter ging das Leben weiter: Heinz und Onkel Jörg luden einen leeren Sarg in den Transit, einen Wulstsarg mit gekernter Blattschnitzung in Eiche, altdeutsch, 3.530,– DM, gehobene Mittelschicht. Kürzlich hatte ich Winkler belehrt: «Wenn jemand einen Sarg bestellt, sieht man sofort die Wohnung des Bestellers vor sich.» – «Man kann vom Sarg auf die Wohnung schließen?» Winkler steckte sich einen Zigarillo an. «Klingt logisch.» Konzentriert betrachtete er die glimmende Spitze. «Wie sind eigentlich eure Preise?» Ich berichtete von unserem billigsten Modell, dem Einfachen Kiefernsarg. «Damit