Christopher Ecker

Fahlmann


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und wir verständigten uns mit Gesten und Klopfzeichen. Ich wusste nicht, wovon er lebte, tippte aber auf reiche Eltern oder eine Erbschaft, denn abgesehen vom Dosenbier brachte er mir jedes Mal eine Schachtel Senior Service mit. «Virginia Tabak. Lasse ich mir aus Norddeutschland schicken. Die Briten waren dort nach dem Zweiten Weltkrieg stationiert und haben die Freundlichkeit besessen, uns ihre köstlichen Zigaretten zurückzulassen.» Einziger Schwachpunkt der Geschichte war, dass es Senior Service auch in hiesigen Tabakläden gab, aber ich hütete mich, ihm das Ergebnis meiner telefonischen Recherche zu unterbreiten, denn die geschenkte Schachtel hielt in der Regel bis zu seinem nächsten Besuch vor, wenn er, zwei Sixpacks unter den Armen, ein verstörtes Lächeln im Gesicht und ohne nach rechts und links zu sehen, durch den Flur in die Küche stürmte, um die Dosen im Gemüsefach des Kühlschranks zu verstauen.

      «Sellerie! Das darf doch nicht wahr sein! Der ganze Kühlschrank stinkt nach Sellerie!» Dann saßen wir uns im Wohnzimmer gegenüber, er zündete einen Zigarillo an, und ich wartete gespannt darauf, mit welch erfrischend abseitigen Themen er mich heute wieder befremden würde. Ich traf Winkler stets alleine. Nur ein einziges Mal hatte ich gegen diese Regel verstoßen, und jener Abend, an dem ich mit Achim, Winkler und Susanne die Van-Hoddis-Medaille feiern wollte, wurde mein privates Spitzbergen. Achim machte sich über Winklers Begeisterung für James Bond lustig; Winkler machte sich über Achim lustig, weil der nicht wusste, wie Bond seinen Wodka Martini trinkt; Achim rülpste das Vater Unser; Susanne fühlte sich von meinen «obergeilen Spannerfreunden» belästigt, machte mir im Flur eine Szene und ging früh ins Bett. Danach versuchte der stolze Medaillengewinner den Abend zu retten, indem er missratene Jugendwerke vorlas. Ich ließ das Blatt sinken: «Da kann ich höchstens sechzehn gewesen sein!» – «Na und? So schreibt unser Freund James Bond immer noch. Die-die», Achims Gesicht hatte sich alarmierend gerötet und sein gespaltener Kehlkopf fuhr wie ein Besessener Knorpellift, «die Briten und insbesondere die britischen Geheimagenten, sind völlig verschwult.» Winkler steckte sich ungerührt einen Zigarillo an. «Mensch, Tommi!», rief Achim. «Rillo rauchen, das ist doch das Allerschärfste! Mensch, Tommi, du bist schon ne tolle Nummer!» Winkler sah mich nachdenklich an. «Meint der mich?» – «Klar mein ich dich», sagte Achim, «den guten alten Onkel James Schwul!» Ich räusperte mich beklommen. «Ihr benehmt euch wie … wie …» Beide sahen mich an.

      «Wie wer oder was?», fragte Winkler. Vor Schreck vergaß ich, was ich hatte sagen wollen, und verkroch mich in einem selten gelüfteten Winkel meines Kopfs unter einem Treppenabsatz. Fassen wir zusammen: Winkler hielt Achim «für zu blöd, um sich mit ihm ernsthaft zu unterhalten»; Achim hielt Winkler für einen «billigen Aufschneider», doch hier trübten wohl Neid und Missgunst seinen Blick, denn Winkler war ein großer Aufschneider, ein Meister der Täuschung und der Selbststilisierung. Als ich ihn beispielsweise fragte, wieso ein Verein, der sich dem Andenken Sherlock Holmes’ widmet, den kryptischen Namen Von Herder Airguns Ltd. trage, zog Winkler sich nicht nur elegant aus der Schlinge, sondern verwandelte diese gleichzeitig in eine engmaschige, köcherähnliche Knüpfarbeit. Um seine zentrale These zu rekonstruieren und sie, was ich mir schon vor langer Zeit vorgenommen habe, eingehend zu prüfen, steht mir zum Glück ein englischsprachiger Sherlock-Holmes-Sammelband aus der bemerkenswert gut bestückten Hotelbibliothek zur Verfügung. Beginnen wir mit den Airguns. In der Erzählung The Final Problem heißt es:

      «You are afraid of something?» I asked.

       «Well, I am.»

       «Of what?»

       «Of air-guns.»

       «My dear Holmes, what do you mean?» (469 f)

      Holmes fürchtet, von seinem Widersacher Professor Moriarty ermordet zu werden, aber weshalb der Detektiv solche Angst vor air-guns hat, wird in The Final Problem nicht geklärt, denn hier stürzt er, Moriarty (Hoppla! Fast hätte ich Marsitzky geschrieben!) umklammernd, in einen awful abyss (near the fall of Reichenbach), und zwo, drei, vier, vergehen die Jahre, bis Doyle auf die hartnäckigen und zunehmend verzweifelter werdenden Proteste seiner treuen, zutiefst betrübten Leserschaft reagiert und seinen verstorbenen Helden wiederauferstehen lässt:

      «Holmes!» I cried. «Is it really you? Can it indeed be that you are alive? Is it possible that you succeeded in climbing out of that awful abyss?» (486)

      Holmes, erfährt Watson bass erstaunt in The Adventure of the Empty House, täuschte seinen Tod lediglich vor, um seine Feinde in die Irre zu führen. Schnitt. Baker Street 221 B, Außen, Nacht. Unser lieber Watson erblickt hinter einem erleuchteten Fenster ein so lebensechtes Holmes-Modell, dass er seinen glucksenden Freund berühren muss, weil er einer Sinnestäuschung zu erliegen glaubt:

      «Good heavens!» I cried. «It is marvellous.» (489)

      Eine Büste ist’s, die unseren Freund so erfolgreich täuschte, eine Wachsbüste, angefertigt von Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble. Meiner Meinung nach ein bemitleidenswert schlecht ausgedachter Name. Wieso nennt ihn Doyle nicht Meunier Oscar Monsieur? Oder schlicht und ergreifend Monsieur Monsieur? Und was macht die gute Mrs. Hudson? Sie bringt die Wachsbüste alle Viertelstunde in eine neue Position, denn Holmes weiß, mit welch listigen und ausgekochten Gesellen er es heuer in London zu tun hat. Da! Eine Gestalt! Sehr böse! Ein Schuss! Ein SchuSS – dramatischer Trommelwirbel – aus einem LuftGeWehr! Pressluftfanfare, splitterndes Glas, und prompt zieht Holmes den Schuldigen aus seiner Pfeife: Niemand anderen als Colonel Sebastian Moran, den zweitgefährlichsten Mann Londons. Und diese Waffe? Holmes, seien Sie vorsichtig! Grundgütiger Himmel, diese gefährliche Waffe!

      «An admirable and unique weapon (…), noiseless and of tremendous power: I knew Von Herder, the blind German mechanic, who constructed it to the order of the late Professor Moriarty. For years I have been aware of its existence, though I have never before had the opportunity of handling it.» (493)

      Über die Seiten des Buchs, aus dem ich mit ungezügeltem Genuss zitiere, schwebt ein sepiafarbenes Bild: Inmitten malerischer Nebelschlieren kniet Holmes vor Lestrade und überreicht ihm im Schein einer Londoner Straßenlaterne das Luftgewehr, als wollte er damit den Ritterschlag empfangen. Watson, der auffallend Pu dem Bären ähnelt, nimmt in rührender Erleichterung einen großen Topf Honig aus seinem Arzttäschchen, während der trottelige Lestrade (gespielt von einem zu Hochform auflaufenden Peter Sellers) seinen Zeigefinger nicht mehr aus dem Lauf der vermaledeiten Büchse kriegt. «Mein lieber Lestrade, ich würde Ihnen gerne mit einem Pfund Butter aus meinen eigenen Vorräten aushelfen, um Ihren so misslich verklemmten Finger aus der stählernen von Herderschen Umklammerung zu befreien, hätte sich die gute Mrs. Hudson nicht damit ihre Knie eingerieben, um sich der bemerkenswert naturgetreuen Büste am Fenster meines Zimmers mit behutsamsten Rutschbewegungen nähern zu können, ohne von der Straße aus entdeckt zu werden. Oh, sehen Sie nur, die Büste hat sich wieder bewegt! Watson, gehen Sie doch bitte hinauf und richten Sie der treuen Seele aus, dass der Fall abgeschlossen ist!» Ich komme vom Kurs ab. Die These! Die zentrale These! Her mit der zentralen These! Winkler hatte damals behauptet: «Doyle wollte Sherlock Holmes nie sterben lassen! Bereits in The Final Problem hat er alle Weichen für ein Fortleben seines Helden gestellt. Bei der abstrusen Bemerkung über Luftgewehre handelt es sich um nichts anderes als ein perfekt funktionierendes, gut geöltes Hintertürchen.» Ich sehe, wie ein zufriedener Holmes Inspektor Lestrade «the famous air-gun of Von Herder» (496) für das Scotland Yard Museum übergibt. «Soweit, so gut», sagte ich. «Aber ich verstehe nicht ganz, wieso ein Holmes-Club den Namen einer potentiellen Holmes-Mordwaffe trägt?» Winkler sah mich an, als hätte ich wissen wollen, was ein Hühnerei ist. «Holmes kann nur getötet werden, wenn er lebt», sagte er, «und somit feiert der Name Von Herder Airguns Ltd. Holmes’ Wiederauferstehung.» – «Aber der Schuss galt doch einer Attrappe.» Winkler zuckte die Achseln und sagte abfällig, ich sähe das zu eng.

      Ich glaubte ihm nicht, dass es einen Verein namens Von Herder Airguns Ltd. gab, und bezweifele es noch heute. Vereine heißen «International Bond Community» oder «Pater Brown Fanclub Boblingen», notierte ich, glaube ich, am Vormittag nach der Lesung. Der Name «Von Herder Airguns Ltd.» ist einfach zu gut! Ich klappte das Notizbuch zu und nahm mir vor, irgendwann einmal nachzuprüfen, ob bei Doyle überhaupt Luftgewehre und Wachsbüsten vorkamen. Inzwischen hatte die wütende Intensität des Regens nachgelassen, und weil die Thermoskanne fast leer war, ging ich, schwipp-schwapp, eine halbvolle