Christopher Ecker

Fahlmann


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Achim hätte gelacht, und Winkler hätte meine Bekenntnisse ungerührt zur Kenntnis genommen und mir dann übergangslos von seinem neuesten literarischen Projekt berichtet: «Es geht um belebtes Geschirr …» Oder er hätte Übergescheites zum «Topos des Doppelgängers» abgelassen, um dann die Handlung eines indizierten Splatterfilms zu referieren, wo man mit bloßer Gedankenkraft Gehirne zum Platzen bringt und mit herausbaumelnden Augäpfeln, aufgeschlitztem Unterleib und behängt mit schillernden Eingeweidegirlanden ein hysterisch kreischendes Blondinchen in der Badewanne heimsucht, um sie unter heftigen Blutstürzen mit safrangelbem Eiterstrahl zu schwängern.

      In der Zeit vor meiner erzwungenen Abreise nach Paris traf ich mich hauptsächlich mit Achim und Winkler. Winkler kannte ich erst seit zwei Jahren, Achim seit frühester Kindheit. Er hatte zwar nur drei Straßen weiter gewohnt, aber unsere Freundschaft begann erst, als wir im Grundkurs Physik nebeneinander saßen und gleichwenig von den Formeln verstanden, mit denen Dr. Bostel die Tafel füllte; nichts vermag Menschen enger aneinanderzuschweißen als Nichtwissen. Außerdem gaben wir uns beide gerne die Kanne, Achim vertrug angeblich «vier Liter aufwärts», und eines Abends erlaubte ich ihm, mich in Mollingers Eck zu begleiten, in meine nahe Stammkneipe, die einer bushaltestellenlosen Seitenstraße voller Eisenwarenhandlungen und chemischer Schnellwäschereien das Recht auf Existenz verlieh. Mit diesem Besuch begann ein neues Kapitel meines Lebens. Achim hatte nicht geschwindelt, er vertrug tatsächlich so viel wie ich, trank nicht zu schnell, nicht zu langsam, und er quasselte keinen Schwachsinn, wenn man seine Ruhe haben und nur dumm herumkucken wollte. Von nun an trafen wir uns jeden zweiten Abend in Mollingers Eck, was die langweiligen Wochen unseres frauenlosen Kosmos angenehm rhythmisierte. An den übrigen Abenden vermieden wir es gewissenhaft, Alkohol zu trinken, und so verging die Schulzeit. Dann wohnten wir zusammen und tranken «an den Abenden dazwischen» sauren Weißwein von der Tankstelle, einen Wein, den vernünftige Menschen nicht mal zum Kochen verwendet hätten. Bei einem dieser Abende in unserer WG-Küche, wo zur Freude aller Besucher ein dichter Schimmelbart unter der Spüle wucherte, hatte Achim lallend verkündet, sein Biologiestudium zu schmeißen, um mir ab sofort «im Simpelstudiengang Germanistik» Gesellschaft zu leisten. Sind die Rahmenbedingungen unserer Freundschaft überhaupt wichtig? Ich denke nicht. Wichtig sind allein die großartigen Abende in Mollingers Eck! In spätpubertärer Begeisterung für Chandler hatten wir Molli überredet, Cocktails zu mixen, und nach anfänglichen Protesten wie: «Nur Schwule und Flittchen trinken so ein Klebzeugs!» wurde es eine Selbstverständlichkeit, einen Gimlet oder Whiskey Sour bestellen zu können, ohne schief angesehen zu werden: eine willkommene Abwechslung zwischen den Bieren!

      Molli zapfte ein wunderbares, eiskaltes Bier, das Glas beschlug in der Hand, perfekte Schaumblume sowieso. Würde mir hier jemand ein derart gezapftes Bier servieren, ich bräche in Tränen aus. Der Name «Molli» ist übrigens irreführend. Unwillkürlich sieht man einen dicken, schlampigen, vermutlich unrasierten Mann in verdrecktem Rollkragenpulli und abgewetzten Cordhosen vor sich, aber bei dem wirklichen Molli handelte es sich um eine dünne, alterslose Erscheinung mit Stirnglatze und Nickelbrille, die man eher in einem Bioladen vermutet hätte als hinter dem Tresen einer Vorstadtkneipe mit Kegelbahn. Ich erinnere mich noch gut, wie liebevoll er die Glasränder mit frischgepresstem Limettensaft befeuchtete, bevor er sie in die weit aufgerissene Zuckerpackung tauchte. Das Rasseln der Eiswürfel im Shaker war ein vertrautes Geräusch in Mollingers Eck, und zwischen den Bieren genehmigten wir uns immer mal wieder einen Cocktail und behielten diese liebenswerte Tradition auch bei, als ich Achim und dem sauren Wein Adieu sagte und mit Susanne (und irgendwie auch mit Jens) in das Haus meiner Eltern zurückkehrte. Da wir gerade bei den Saufgeschichten sind: Jedes Jahr am 26. März traf ich mich mit Achim bereits nachmittags in Mollingers Eck, und um Schlag fünfzehn Uhr fünfzig begossen wir Chandlers Todestag – es geht doch nichts über gute Anlässe zum sanktionierten Trinken! Soupault berichtet, Joyce habe neben Hochzeitstag, Lichtmess, Heilige Drei Könige und Weihnachten auch die Publikationsdaten seiner verschiedenen Werke gefeiert. Wäre außer schWEINe-essIG etwas anderes von mir erschienen, etwas Ordentliches, Ernstzunehmendes, ein Band mit Erzählungen vielleicht, ein Roman, hätte ich liebend gerne auf diese Anregung zurückgegriffen, aber das Erscheinungsdatum eines Buchs zu feiern, in dem kaffeetasse johann zirpt im kaltbach steht, war wie in Hundescheiße zu treten und sich dabei wohlzufühlen. Und nun ist es höchste Zeit für einen Abstecher zu Molli.

       «Noch ein Bier?», hatte Achim zwei Wochen vor der Lesung gefragt, der nun, nachdem er in rascher Folge drei WG-Mitbewohner verschlissen hatte, wieder sein altes Kinderzimmer in der Vorstadt bewohnte. «Gimlet?», fragte ich. Achim dachte nach. «Gimlet?», fragte ich wieder. «Noch ein Bier und dann nen Gimlet?», schlug er vor. «Okay», sagte ich. «Erzähl weiter! Was machen die Frauen.» Achim hatte Pech mit Frauen, seit wir befreundet waren. Zurzeit lief er einer Achtzehnjährigen hinterher; er würde sie nie erreichen. «Ich sitze mit ihr zusammen und stelle sie mir unentwegt nackt beim Squashspielen vor», gestand er flüsternd. «Wieso beim Squashspielen?», fragte ich. «Wieso nackt?», gab er zurück, und diese spaßhafte Bemerkung verriet mehr über ihn, als er ahnte. Erst kürzlich hatte ich Susanne gesagt: «Der hat sich schon so oft mit der Kleinen getroffen, dass jede Berührung unmöglich geworden ist. Sie erzählt ihm in irgendwelchen überfüllten Schülerkneipen von ihren Lehrern, ihren Eltern, von ihrem jüngeren Bruder, was für Musik hörst du, was sind deine Hobbys, und über diesem ganzen Geplapper wird jede Berührung unmöglich. Wenn sie zum vierten Mal nebeneinander im Kino sitzen, kann er ihr nicht mehr zufällig die Hand aufs Bein legen. Wenn sie zum zehnten Mal nebeneinander durch die Stadt gehen, kann er nicht mehr nach ihrer Hand greifen! Der Zug ist abgefahren.» Es passte also ins Bild, dass Achim die Vorstellung ihrer Nacktheit gleichermaßen beunruhigte wie belustigte, und so, wie ich die Lage einschätzte, würde er mir bald von einer neuen Schnalle berichten, bei der er sich große Chancen ausrechnete, und der ganze Zirkus ginge von vorn los.

      Achims Unentschlossenheit zeigte sich auch in seinem Aussehen. Mal ließ er sich Koteletten wachsen, mal ein modisches Kinnbärtchen, mal versuchte er, seine vorstehende Oberlippe mit einem fadenscheinigen Schnurrbart zu kaschieren. Er sah sich unentwegt um wie ein schlechter Schauspieler, der in einem B-Picture einen Spion spielt, schien sich nie ganz wohl in seiner Haut zu fühlen, und der spöttische Ausdruck in den Mundwinkeln war weniger ein Indiz für Arroganz, wie viele meinten, sondern die Folge einer schmerzhaften Unsicherheit in alltäglichen Dingen. Je länger ich über ihn nachdenke, desto deutlicher sehe ich ihn vor mir: Zu kleine Nasenlöcher, Brille, das leicht fliehende Kinn mündet in einen kräftigen Hals mit ausgeprägtem Adamsapfel, Aknenarben. Zog er den Parka aus (ein Kleidungsstück, das er das ganze Jahr über trug), sah man, dass etwas mit seinem Hinterteil nicht stimmte. Es saß zu hoch, wirkte knöchern, war auffällig flach und ziemlich breit; ich verstehe nicht, was Susanne damals in Paris so anziehend an Achim gefunden hatte. Ob er ihr noch gefiel, nachdem er mit ihrer dauerkichernden Freundin das Weite gesucht und uns alleine und verlegen im Hotelzimmer zurückgelassen hatte? «Was machst du denn so», fragte Susanne nach einer Weile. – «Ich schreibe», sagte ich. – «Was schreibst du?» – «Abenteuergeschichten und so Zeugs.» – «Das find ich ja toll. Ehrlich? Kein Witz?» – «Ehrlich …» Und ganz und gar kein Witz!

      Seit der Spritztour nach Paris hatte die Zeit ihre Spuren in Achims Gesicht hinterlassen: Falten, Krähenfüße, das Übliche. Außerdem waren seine Wangen ständig gerötet, und früher hatten sie sich nur in aufregenden Situationen verfärbt, an der Tafel im Physikunterricht zum Beispiel, oder als wir auf der Treppe vor der Sacré-Cœur endlich mit den beiden deutschen Mädchen ins Gespräch gekommen waren. Es ist beunruhigend, schreibe ich aus dem hilfreichen Notizbuch ab, mitansehen zu müssen, wie ein Freund altert, wie er fett wird, wie seine Gesichtszüge erschlaffen. Das ist fast so, als trüge man einen riesigen Spiegel mit sich herum, der einem unentwegt zeigt, wie schnell das eigene Leben dem Tod entgegentickt. (…) Allein die Angst, meiner eigenen Vergänglichkeit gewahr zu werden, ist der Grund, warum ich nie zu einem Klassentreffen gegangen bin.

      «Geh doch mal mit ihr nackt Squashspielen», hatte ich Achim damals übrigens vorgeschlagen. Konzentriert zog er einem aufgeweichten Bierfilz die Haut ab und zupfte sie Fetzen um Fetzen in den Aschenbecher. «Danke für den Tipp.» Unsere Abende begannen üblicherweise maulfaul. Wir tranken, rauchten, beobachteten die Frauen vom JLB. Doch an jenem Abend, an den ich mich erinnerte, als ich an einem regnerischen Vormittag, genauer gesagt, an dem Vormittag nach der VHS-Lesung,