ist ein Ort nachweisbar, der sich Dragovag oder Dragovacs oder so ähnlich schreibt.
Auf einem Atlas habe ich dieses Kaff, denn größer kann der Ort nicht sein, jedenfalls nicht finden können. Nach meinen Unterlagen soll es dort auch ein Schloss geben und darin – zumindest zu damaliger Zeit – einen Lehnsherren gegeben haben, der als ‚der dunkle Fürst‘ beschrieben wird. Was das beschreibt, weiß ich nicht. Allerdings gibt es eine Andeutung, dass es eine Verbindung meiner Familie ins Schloss gegeben haben könnte.
Auf jeden Fall sind die Vorfahren mütterlicherseits vor einigen Jahrhunderten von dort nach Westen gezogen auf der Suche nach besseren Lebensmöglichkeiten, denn in jener Region gab es regelmäßig Hungersnöte. Nur die fürstliche Familie lebte in Saus und Braus.«
Jonny machte eine Pause. »Magst du auch noch eine Melange?« fragte er. Angelika allerdings bevorzugte eine Capuccino, der neben all den österreichischen Kaffeespezialitäten auch serviert wurde. Während die sehr freundliche, etwas mollige Bedienung sich um die Bestellung kümmerte, schwiegen sie beide und schauten sich in die Augen.
»Du bist sehr hübsch«, sagte Jonny mit einem Mal. »Dieses Wort mag ich mehr als das banale ‚schön‘, das eher kalt wirkt. Man spricht ja auch von kalter Schönheit bei einer Frau. Du aber bist richtiggehend hübsch, voller Leben und Energie, voller Gefühl und Wärme. Das gefällt mir. Du gefällst mir.«
Mit diesen Worten erhob er sich, beugte sich über den Tisch und küsste sie. Dabei kam er der Bedienung ins Gehege, die gerade die bestellten Getränke brachte. Doch behende wich diese aus und wartete einen Augenblick, bis sich der sichtbare Gefühlssturm gelegt hatte.
Eine geschickte Art, dachte Angelika und nickte ihr dankbar zu. Sie sollte nachher ein ordentliches Trinkgeld bekommen, das nahm sie sich fest vor.
»Nun wieder zu mir«, hub Jonny an weiterzuerzählen: »Schon als kleiner Bub hatte ich seltsame Träume, in denen ich mich in fremdem Landschaften wiederfand: dunkle Wälder, einsame Berghöhen, einfache Hütten, in denen ärmliche Menschen wohnten. Und ich träumte, dass ich irgendetwas schluckte, was ich zuvor gegessen oder getrunken hatte. Um was es sich dabei handelte, weiß ich bis heute nicht, ich habe nur in Erinnerung, dass ich beim Aufwachen regelmäßig Tränen in den Augen hatte. Wohl aus Enttäuschung, dass man mir etwas weggenommen hatte, was ich brauchte oder unbedingt behalten wollte.
Mit Beginn der Pubertät, jetzt muss ich mich an Schilderungen meiner Mutter halten, scheinen sich diese Träume verloren zu haben. Ich selbst kann dazu nichts sagen, das ist wie ausgelöscht in mir. Dafür entwickelte sich in mir etwas Seltsames, was ich lange Zeit nicht deuten konnte.«
Er griff wieder nach ihrer Hand, als bräuchte er gerade jetzt wieder ihre Unterstützung. Und selbstverständlich überließ sie sie ihm gerne, denn sie mochte es, ihn bei sich zu fühlen.
»Es war ein Gefühl, das … Wie soll ich es beschreiben? Ich glaube, das kann ich gar nicht so genau. Irgendwie entgleitet mir das Wort, mit dem ich dieses Gefühl beschreiben will, immer wieder. Es ist wie ein Sehnen, ein sich hingezogen fühlen, ein Streben nach etwas, was ungesagt ist und damit unbekannt. Ich denke, dass es am Anfang lediglich ein dumpfes Ahnen war, sozusagen ganz im Hintergrund meines Jünglingseins, eigentlich noch gar nicht wahrgenommen und dennoch schon präsent und in gewisser Weise mich leitend. Davon habe ich natürlich in den jungen Jahren nichts gespürt. Ich weiß auch nicht, wie ich darauf reagiert hätte, wäre es mir bewusst geworden …«
Angelika hörte Jonny gebannt zu. Ja, sie hatte geahnt, dass es bei ihm irgendein Geheimnis gibt, etwas Intimes, worüber man gemeinhin nicht redet. Aber mit den Äußerungen, die sie gerade gehört hatte, hatte sie nicht gerechnet. Sie musste darauf eingehen und Jonny damit zeigen, dass dieses Problem, das ihn beschäftigte, auch für sie wichtig war. Ein Rätsel, das gelöst, ein Problem, das überwunden werden musste.
»Wann wurde dieses Gefühl, wie du es nennst, so prägnant, dass es dir bewusst wurde? Und konnten deine Eltern dir nicht helfen?«
»Meine Eltern, nein! Allein schon deswegen, weil sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Mein Vater starb noch an der Unfallstelle, er hatte den Wagen gefahren und war bei dichtem Nebel in einem Waldstück gegen eine Eiche geprallt, die jene Linkskurve beherrschte. Und meine Mutter war so schwer verletzt, dass sie zwei Tage später starb, sie war aus dem Koma nicht wieder aufgewacht. Das war an meinem fünfzehnten Geburtstag, ausgerechnet an meinem Geburtstag.«
Traurigkeit erfüllte Angelika. Sie hing sehr an ihren Eltern und konnte Jonnys Schmerz, der jetzt noch fühlbar war, nachempfinden. Spontan streichelte sie ihm über die Wange, und freute sich über das kleine Lächeln, das über sein Gesicht glitt.
»Ach, es ging mir eigentlich nicht schlecht, eine verwitwete Tante kümmerte sich um mich. Geld für meine Ausbildung war ausreichend vorhanden, was fehlte, war die familiäre Wärme. Denn Tante Lisbeth war eine verbitterte Frau, alle Gefühle, die sie aufbringen konnte, mündeten in eine gewisse erzieherische Strenge. Nicht, dass sie mir geschadet hätte!«
Er verstummte, hing kurz seinen Gedanken nach. Angelika sah sich um, das Café war nun gerappelt voll. In ihr Gespräch vertieft, hatten sie gar nicht bemerkt, welche Menschenmassen in das Lokal gedrängt waren.
»Wie ging es weiter?«, fragte sie. »Nochmal: wann bist du dir dieses Gefühls voll und ganz bewusst geworden?«
Ganz offensichtlich hatte sich Jonny in seinen Erinnerungen verloren. Sie stupfte ihn vorsichtig mit dem rechten Finger an; seine Haut am linken Arm fühlte sich kühl an. Er schrak auf.
»Ach so, ja! So ganz bin ich mir auch heute, hier in diesem Kaffeehaus, nicht sicher, wie dieses Gefühl zu beschreiben ist. Ich weiß, dass es mit jedem Tag mehr Besitz von mir nimmt; das ist besonders deutlich, seit wir von Passau abgefahren sind. Ich meine, kann es sein, dass die Reise das Ziel dieser Gefühlswallung ist? Oder wo liegt das Ziel dieser Reise?«
Er sah sie verwirrt und unglücklich zugleich an.
»Lass es für heute gut sein«, schlug sie vor. »Wir wollen noch ein wenig herumschlendern, Wien ist eine schöne, eine historisch reizvolle Stadt. Das sollten wir uns noch ein wenig gönnen, sowieso müssen wir uns in einer Stunde wieder auf den Rückweg zum Schiff machen.«
Rasch hatten sie gezahlt; die geschickte Bedienung wurde nicht vergessen. Sie waren kaum aufgestanden, da waren ihre Plätze bereits wieder belegt. Angelika nahm Jonny, der immer noch ein wenig geistesabwesend wirkte, bei der Hand. Als sie das Lokal verließen, versprach sie ihm:
»Wann immer du das Bedürfnis hast, mit mir über das Gefühl und deine Probleme damit zu sprechen, ich bin für dich da. Und einen stillen Winkel dafür finden wir immer, zum Beispiel in der Kabine.«
Und dankbar umarmte er sie, während die Massen der unzähligen Touristen sie umbrandeten.
*
In Schloss Dragovac herrschte große Aufregung. Ein Bote hatte die Nachricht gebracht, dass eine wilde Holzfällerkolonne in einem der fürstlichen Wälder mit dem illegalen Abholzen begonnen hatte. Das Gebiet lag ziemlich abseits der großen Straßen, in einer Gegend, in der noch Bären umherstreiften und Wölfe Jagd machten auf kranke und damit leicht zu packende Beute.
Die Wälder und damit das Holz ihrer Bäume waren der einige Reichtum der Fürsten von Dragovac, überkommen aus einer Zeit, als die Verbindungen zur Außenwelt noch schlechter waren als aktuell. Holzraub war etwas, was die Familie keineswegs dulden konnte.
Der Familienrat hatte sich im großen Saal des Schlosses, dem sogenannten Ahnenhort, versammelt und erörterte die Lage. Während der Fürst sich dafür aussprach, die Polizei hinzuziehen, hatte sein ältester Söhn, Mitri, dem sofort widersprochen.
»Nicht nur, dass Familienangelegenheiten die Anderen nichts angehen, ist es Tatsache, dass die Polizei einige Tage, wenn nicht gar Wochen braucht, um hier zu erscheinen. Das ist keine Lösung.«
»Und was also ist dann die Lösung, die du uns vorschlagen willst?« fragte Fürstin Constanta, die bereits ahnte, worauf alles hinauslaufen würde.
Mit blitzenden Augen sah Mitri sie an: