Angie beobachtete ihn mißtraurisch. Er schrieb zwei Medikamente auf.
»Die Tropfen jede Stunde, Frau Winkler. Und abends und morgens eins von den Zäpfchen. Dann haben wir den Jungen in ein paar Tagen wieder auf dem Damm. Es ist eine ganz normale fieberhafte Erkältung. Auf jeden Fall schaue ich in den nächsten Tagen täglich vorbei.«
Damit schien der Besuch beendet. Aber Thomas Hassberger blieb auf dem Bettrand sitzen.
»Wie lange bleiben Sie in Lüttdorf, Frau Winkler?«
»Nicht mehr lange. Ich hoffe, daß meine Schwägerin bald zurückkehrt. Oder daß wenigstens mein Bruder wieder auftaucht.«
Da erhob er sich. Er war gut einen Kopf größer als sie. Seine sanften Augen ruhten auf ihr, als benötige sie ebenfalls seelischen Zuspruch und ärztlichen Rat.
Dieser ruhige und stete Blick verwirrte sie. Eigentlich sah der Mann gut aus, ob er nun ein Spinner war oder nicht.
»Sie werden lange bleiben, Frau Winkler«, prophezeite er in diesem Moment nüchtern, und sofort schwand bei Angie die gerade aufkeimende Sympathie für ihn wieder.
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte sie gereizt.
Statt zu antworten, beugte er sich zu Wolfi, fuhr ihm über das Strubbelhaar, sagte »Bis morgen!« und ging dann aus dem Zimmer.
Dort wandte er sich zu ihr. »Der Junge soll viel trinken, Frau Winkler. Obstsäfte oder Tee mit Zitrone, das braucht er jetzt. Und keine großen Temperaturschwankungen. Nachts ist es oft kalt, stellen Sie den Heizkörper in seinem Zimmer ein wenig an.«
»Die Heizung funktioniert doch noch gar nicht!«
»Was funktioniert denn in dem Haus?«
»Alles Elektrische. Aber der Heißwasserboiler ist auch noch nicht angeschlossen. Sie sehen ja, in welchem Chaos ich hier lebe.«
»Das wird sich bessern. Sie müssen die Handwerker antreiben. In Lüttdorf lassen sich die Menschen Zeit. Sie werden es noch merken. Herr Stellmann wird sich mit seiner Rückkehr auch Zeit lassen.«
»Sie scheinen meinen Bruder sehr gut zu kennen«, erwiderte sie mit beißender Ironie.
»Ja, ich kenne ihn gut. Wir haben beide dieses Haus kaufen wollen, Frau Winkler. Nur war mir der Preis zu hoch. Ich hatte mich schon damit abgefunden und wollte in eine andere Stadt ziehen.
Da wurde mir oben die alte Remise an der Birkenallee angeboten. Da konnte ich nicht nein sagen. Und jetzt bin ich mit der Renovierung eher fertig als Herr Stellmann.«
»Das von Ihnen gekaufte Haus ist längst nicht so groß wie dieses«, sagte Angie. Aus einem unerklärlichen Drang heraus fühlte sie sich dazu berufen, ihren Bruder zu verteidigen.
Er stand jetzt wieder unten in der Halle. Angie beobachtete ihn, wie er den Kopf hob und die Decke betrachtete. »Nun ja«, bemerkte er endlich nachdenklich. »Das ist aber auch eine Frage der Organisation. Ihr Bruder wollte sich doch hier zur Ruhe setzen. Ich weiß aber nur, daß er fast ständig unterwegs ist. Wir mußten uns ja die Handwerker untereinander teilen. Oft dauerte es Tage oder sogar Wochen, bis die Leute mit einer Arbeit beginnen konnten.«
»Meine Schwägerin hält sich bei ihrer Mutter auf, Herr Doktor.« Angie stellte fest, daß sie schon wieder jemanden verteidigte. Wozu das alles? Ihr Bruder und Natalie waren doch glücklich verheiratet? Wenn die Krankheit von Natalies Mutter nicht dazwischengekommen wäre, sähe es hier schon anders aus. Aber so etwas begriff ein Junggeselle wie Dr. Thomas Hassberger natürlich nicht. Er hatte auch keine Kinder, die betreut werden mußten. Also kurzum: Er hatte keine Ahnung.
»Sie hält sich ziemlich lange bei ihrer Mutter auf. Aber sonst ist ja alles in Ordnung.«
Er hielt der völlig verdutzten Angie die Hand hin. Sie ergriff sie. Es war ein fester, warmer Händedruck. Und dabei senkte sich der Blick des Mannes tief in ihre Augen. So tief, daß sie ihn bis zum Herzen spüren konnte.
»Für Sie scheint immer alles in Ordnung zu sein«, sagte sie zum Abschied.
Da legte sich ein kaum deutbares Lächeln auf seine Lippen.
»Ja, Frau Winkler. Das habe ich auch gedacht. Bis heute.« Damit machte er kehrt und verließ das Haus.
Angie blieb wie angewurzelt stehen. Was sollte das nun wieder? Aber seine Bemerkung hatte gewiß dem Zustand dieses Hauses gegolten. Und dem konnte sie abhelfen. Wenn Xenia und Hubs sich um Wolfi kümmerten, konnte sie die Handwerker antreiben. Sie blickte auf das Rezept in ihrer Hand.
»Hubs!« rief sie dann. »Du mußt zur Apotheke!«
*
Nora trug ein weißes kurzes Höschen, das die Haut ihrer schlanken Beine noch brauner erscheinen ließ. Sie wußte, wie gut sie aussah, und sie hatte sich auf’s Geländer, das einen Teil des Jachthafens vom anderen trennte, gesetzt und schlenkerte mit ihren langen Beinen. Der Wind blies durch ihr Haar, und sie wandte ihr Gesicht der Sonne zu.
»Weißt du, was ich glaube?« sagte sie und strich dem neben ihr stehenden Hubs ganz langsam über die Schulter. »Deine Mutter will, daß Wolfi lange krank bleibt.«
»Ach, Schwachsinn! Da kennst du meine Mutter nicht! Sie will immer, daß alle Leute in ihrer Nähe glücklich sind!«
»So?« Sie schloß die Augen und lächelte. »Dann würde sie dich doch auch gern glücklich sehen, Hubs. Aber sie benutzt Wolfis Krankheit dazu, um uns auseinanderzubringen. Ist es so, oder ist es nicht so?«
»Ach, Quatsch! Warum sollte sie das denn tun? Einer muß von Zeit zu Zeit bei Wolfi sein. Er soll noch drei Tage im Bett bleiben. Doktor Hassberger hat es heute gesagt. Dann liegt Wolfi insgesamt eine Woche. Ist das nicht normal für eine fiebrige Erkältung?«
Nora lachte auf.
»Normal? Ich war als Kind niemals krank. Nur einmal habe ich eine Spritze bekommen, weil ich mit einer Wunde in den Schmutz gefallen war. Zu uns kam der Arzt nur, wenn jemand geboren wurde oder meinte, ihm sei zum Sterben zumute.«
Sie lachte hellauf, aber Hubs fand das gar nicht so komisch. »Natürlich ist Wolfi nicht ernstlich krank, aber meine Mutter fühlt sich nun mal verantwortlich. Ich würde den Arzt auch um einen Besuch gebeten haben.«
»Um einen! Ja. Aber dieser Hassberger kommt jeden Tag. Und wenn du mich fragst, so ist es etwas ganz anderes, das Wolfi aufs Krankenlager zwingt. Der Doktor hat sich nämlich in deine Mami verliebt!«
»Quatsch!« Hubs verschränkte die Arme und lehnte sich auf das Geländer. So starrte er ins Wasser hinunter. Auch Nora schwieg. Sie gab sich wieder völlig dem Sonnenbad hin, aber auf ihren Lippen lag noch immer dieses wissende Lächeln. Sie war sich ihrer Behauptung völlig sicher. Sie kannte die Männer. Und die im Alter von Dr. Hassberger besonders.
Nach einer Weile ob Hubs den Kopf und stieß sie sanft mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Meinst du das wirklich, Nora?«
»Aber mit größter Sicherheit, Hubs! Du siehst in deiner Mutter vielleicht eine Aufsichtsperson, aber sie ist doch auch eine Frau. Eine Frau wie alle anderen. Ich kann mich gut in sie hineindenken.«
Das verstand er nicht. »Nun ja«, setzte Nora fort. »Dr. Hassberger gefällt deiner Mutter. Er sieht ja auch prima aus. Ob allerdings sein Charakter…«
»Auf den ersten Blick ist er wirklich ein toller, sympathischer Typ.«
»Ja, das ist er wohl«, gab Hubs kleinlaut zu. Die Vorstellung, daß Nora einen Mann wie Thomas Hassberger ihm vorziehen könnte, bohrte plötzlich mit so einer Heftigkeit in ihm, daß er sich krümmte.
»Und was ist so toll an ihm?« erkundigte er sich grimmig.
»Er ist erfahren, er hat graue Schläfen und auch ein bißchen Geld. Die alte Remise oben am Bahnhof hat er gekauft.«
»Das weiß ich längst.«
»Ich habe in meinem Hotel gehört,