Wetter, um eine Kahnfahrt zu machen«, stellte Nora am nächsten Tag fest. »Es ist kalt, und morgens war es sogar neblig.«
»Das ist nicht wahr!« lachte Hubs.
Schon ziemlich früh war er wach geworden und hatte sich über seine Bücher gesetzt. Seine Zuneigung zu Nora hatte auch ihr Gutes. Sie veranlaßte ihn zu ernsten Gedanken über seine Zukunft.
Und darum schaute er doch manchmal auf die Vokabeln.
»Doch, ich habe es gesehen«, betonte sie. »Von meinem Fenster aus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Und über dem See lag Milch.«
Diesmal lachten Xenia und Wolfi. Sie saßen im Bootshaus des Jachtklubs und warteten auf den Hafenwart, der den Schlüssel für die Kettenbefestigung des alten Ruderkahns holte.
Hubs achtete nicht auf das Gelächter der Kinder.
»Du warst auf, bevor die Sonne aufgegangen ist?« wunderte er sich. »Warum?«
»Warum?« Sie kuschelte sich enger in den weiten Kragen ihres dicken weißen Pullovers. »Ich kann nicht schlafen. Ich denke und denke und komme zu keinem Ergebnis. Mein Leben ist so verworren, Hubs. Seitdem ich hier bin.«
»Ja? Sprich weiter, Nora.« Er erwartete ein Geständnis, und weil Wolfi aus der Tür schaute und Xenia ihm gefolgt war, berührte er sogar ihre Hand und formte seine Lippen zu einem Kußmund.
Nora lächelte, aber ihr Blick drang durch ihn hindurch. »Ja«, antwortete sie nach einer langen Pause. »Mein Leben ist verworren, Hubs.«
»Habe ich etwas damit zu tun?« Wenn sie doch diese Frage bejahte, der Himmel würde für ihn voller Geigen hängen. Er würde ganze Nächte pauken und das Abitur schaffen und in Stockholm studieren. Bis dahin würde ihm auch einfallen was. Hauptsache, er konnte immer in ihrer Nähe bleiben. Immer, ein ganzes Leben lang.
Aber Nora antwortete nicht. Sie hatte den Blick zur Tür gewandt und flüsterte:
»Wie ich diese Kinder liebe!«
Hubs verstand nicht recht. »Liebst du Kinder? Ja? Nora, wollen wir…«
Er kam nicht weiter, denn Wolfi kündigte schreiend vor Aufregung an, daß der Bootswart jetzt endlich mit dem Schlüssel käme. So griff Hubs nur etwas fester nach Noras schmaler Hand. Doch Nora entzog sich ihm, und Hubs wurde nur noch begieriger, ein ernstes, klärendes Wort mit ihr zu wechseln.
Der Kahn machte keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck, aber der alte Mann beruhigte die jungen Leute. Der Kahn wäre nicht morsch. Das Wasser auf den Bohlen war vom Himmel gekommen, nicht durch die Ritzen. In dieser Nacht hatte es doch geregnet.
Nora und Hubs amüsierten sich köstlich über dieses Wundermärchen, aber sie baten doch um eine leere Konservendose. Denn wenn es noch einmal regnen würde, müßte man ja das Wasser ausschöpfen.
Wolfi und Xenia setzten sich neben Nora, diese schlang die Arme um die Kinder und strahlte. Zu ihren Füßen befand sich ein kleines Körbchen, das Angie den Kindern mitgegeben hatte. Da waren Schinkenbrote, Äpfel und eine Packung Kekse drin. Somit war für die Seeleute gesorgt.
Hubs legte sich in die Riemen. Er heftete seinen Blick dabei auf Nora. Sie saß dort wie eine glückliche, junge Mutter, und ohne viel Phantasie war es ihm möglich, in ihr die Mutter seiner Kinder zu sehen. Darum fühlte er sich sehr stark. So vergaß er ganz, mal nach rückwärts zu schauen. Und Nora beugte sich jetzt vornüber und begutachtete die Leckereien in dem Körbchen.
»Tante Angie war ganz froh, daß sie uns heute los ist«, kicherte Xenia. »Die Waschmaschine ist wieder heil, aber nun müssen die Heizungsleute noch ein Rohr verlegen.«
»Ja?« Nora mußte mit lachen. Wie schön, daß sie nichts mit diesem Haus zu tun hatte. Noch nicht…
Als sie wieder aufsah, bemerkte sie zunächst Hubs’ verliebten Blick auf sich. Sie lächelte kokett, aber da erschien hinter dem Kopf des Jungen eine Boje. Sie näherte sich mit recht eindrucksvoller Geschwindigkeit.
»Halt!« schrie Nora. »Du mußt nach rechts!«
Hubs steuerte, sah sich um, wich auch nach recht aus, aber gerade das war die falsche Seite.
»Steuerbord«, ächzte Nora noch, und dann krachte es schon gegen die Bootswand. Der Kahn legte sich ein wenig zur Seite, Nora erhob sich, sie lachte, es war ja nichts passiert. Aber in diesem Augenblick fiel das Körbchen um, die vier Äpfel kullerten in das Wasser auf den Bohlen. Xenia, die kleine gute Hausfrau, erhob sich jetzt auch. Die Apfel sollten nicht in das schmutzige Wasser kullern. Wolfi aber interessierte die Boje. Und so stand der Junge ebenfalls auf. Zudem beugte er sich noch über die Planke und versuchte, die Kette der Boje zu erhaschen. In diesem Moment kippte das Boot zur Seite, Nora und Xenia verloren das Gleichgewicht und fielen zu Hubs’ Füßen, aber Wolfi rutschte einfach ins Wasser. Platsch! machte es, und er war weg!
Hubs reagierte schnell. Er riß sich den Pullover vom Körper und sprang sofort hinterher. Xenia und Nora waren vorerst damit beschäftigt, den schaukelnden Kahn wieder zur Ruhe zu bringen. Dann aber griff Nora beherzt und energisch zu, als Hubs ihr den zappelnden Wolfi entgegenhielt. Mit gemeinsamen Kräften hoben sie den Jungen ins Boot zurück. Hubs kam nach, und so traten sie so schnell wie möglich die Heimfahrt an.
»Die Boje«, erklärte Wolfi, am ganzen Leib zitternd und mit den Zähnen klappernd, »gehört dem Wassermann. In meinem Bilderbuch steht das so.«
»Das hättest du ruhig früher sagen können, Wolfi«, tadelte Nora ihn. »Dann hätte ich dir schon einiges über den Wassermann erzählt!« Sie war erregt, und obwohl auch Hubs am ganzen Leib vor Kälte zitterte, fand er es süß, wie sie vor Zorn lispelte. Dann aber traute er seinen Augen kaum. Nora riß sich den Pullover vom Leib, zog Wolfi die nasse Strickjacke und das T-Shirt aus und hüllte ihn darin ein. Sie trug einen Bikini unter dem Pullover. Obwohl der Himmel grau war und kein einziger Sonnenstrahl ihre Haut schimmern ließ, wirkte sie noch reizvoller auf Hubs als sonst. »Um Gottes willen!« Angie schloß die Augen, als Hubs den Leichtfuß Wolfi ins Haus trug. »Da hätte wirklich etwas Ernstes geschehen können.«
»Ach, Tante Angie! Wolfi spinnt. Wenn er so einen Unsinn vom Wassermann glaubt, kann er auch segeln. Das ist dann auch nicht gefährlicher.«
Hubs wandte sich kurz um. »Vom Mitsegeln will ich nichts gehört haben, verstanden?«
»Siehste«, raunte Angie ihrer Nichte zu. »Das habt ihr nun davon. Nächstes Mal rudere ich mit euch.«
»Mensch, Mami, Wolfi braucht was Warmes!« schimpfte Hubs. »Und ich auch! Schalte Frieda mal ein, oder koch uns selbst einen Tee!«
Angie und Xenia sahen Hubs ehrfurchtsvoll nach, wie er mit dem triefnassen Wolfi die Treppen emporstieg. Sein Benehmen paßte nicht zu einem netten Sohn, er verhielt sich eher wie ein Hausherr.
»Komm, Xenia, wir schauen mal, was wir für Wolfi heißmachen können«, seufzte Angie und ging nachdenklich die Stufen ins Souterrain hinunter.
Dort unten hatte sich die Lage verbessert, Frieda stand in der Waschküche und bügelte die Hemden des abwesenden Hausherrn. Sie faltete jedes von ihnen liebevoll zusammen.
»Wolfi ist ins Wasser gefallen!« verkündete Xenia. »Wir müssen ihm einen heißen Tee kochen, Frieda.«
Frieda nickte mit offenem Mund und bügelte seelenruhig weiter. Aber Angie war schon nebenan in der Küche und hatte Wasser aufgesetzt.
»Ruf mich, wenn es kocht, Xenia« bat sie und rannte wieder nach oben. Ganz unversehens war ihr klar geworden, daß Wolfi krank werden könnte und sie dann wenigstens Gerhard benachrichtigen müßte. Als sie die Oberhemden ihres Bruders auf Friedas Bügelbrett gesehen hatte, begriff sie aber auch, in welcher dummen Lage sie sich befand. Sie kannte Gerhards Frankfurter Adresse gar nicht. Also mußte sie doch wohl bei Natalie anrufen.
Wolfi lag schon in seinem Bett. Hubs hatte ihm sogar den warmen Schlafanzug übergestreift. Der kleine Abenteurer grinste schon wieder ganz zufrieden aus den Kissen.
»Wo bleibt der Tee für den Jungen?«