Mensch befand sich auf der Straße.
»Heute abend habe ich keine Zeit, Angie. Ich bin bei einem alten Studienkollegen in Lübeck eingeladen. Aber morgen. Würden Sie mir die Freude machen, morgen abend mit mir essen zu gehen?«
Angie überlegte. Sie konnte das neue Sommerkleid anziehen. Endlich mal heraus aus den staubigen Klamotten und sich für einen Mann – für Thomas Hassberger – herrichten. Es war herrlich. Sie nickte.
»Ich kenne ein kleines Restaurant am Seeufer. Man kann dort im Garten sitzen. Ziehen Sie sich etwas Warmes an.«
Sie schloß die Augen. So war das Leben. Einmal träumte sie davon, in einem hübschen Kleid an der Seite eines Mannes auszugehen, und sofort wurde der Traum wieder zunichte gemacht. Solange nichts anderes dazwischen kam, ging es ja noch. Sie war kein junges Mädchen mehr, aber Thomas Hassberger hatte sie gern. Kam es auf ein Kleid im zauberhaften Erdbeerton an?
»Gut«, sagte sie. »Und nun fahren Sie bitte weiter. Ich habe noch einiges zu erledigen.«
»Ich auch, Angie«, erwiderte er, legte seine Hände unendlich behutsam um ihr Gesicht und zog es langsam zu sich. Als sie seine Lippen auf den ihren fühlte, zuckte sie zusammen. Und dann, als sie eine wohlige Wärme spürte und ihren Körper ein Zittern überlief, erwuchs ihr daraus eine ungeahnte Kraft. Sie hob die Arme und schlang sie fest um seinen Hals.
Als sie sich nach einer endlosen Zeit in die Augen sahen, konnte keiner ein Wort sagen. Und dann, nach diesem erstaunten und doch so innigen Schweigen, wisperte Angie plötzlich:
»Ach, du meine Güte!«
Thomas lachte leise. Während er den Wagen anließ, hielt er ihre linke Hand immer noch fest. Angie fragte sich, ob das Gefühl, das sie durchflutete, eine Ahnung vom Glück war.
*
Als Angie am Freitagmorgen erwachte, sprang sie sofort aus dem Bett und zog die Gardinen beiseite. Wieder hatte ein herrlicher Tag begonnen. Der See lag spiegelglatt da, und die Sonne malte Kringel auf das Vordach. In der alten Ulme, die ihre Zweige über den Dachvorsprung hängen ließ, zwitscherten die Vögel. Angie kramte ihren kleinen Spiegel aus der Tasche und betrachtete sich gründlich.
Nein, sie konnte keine neuen Falten in ihrem Gesicht entdecken. Ihre Haut war glatt und feinporig, sie schimmerte wie Porzellan, als wäre sie noch zwanzig. Angie setzte sich auf ihr Bett und stützte die Ellenbogen auf ihre Knie.
»Thomas!« flüsterte sie. »Daß ausgerechnet du mir in diesem Nest über den Weg laufen mußtest! Du hast mir meine Jugend zurückgeschenkt. Was wohl Peter dazu sagen würde…« Sie lächelte. Ihr verstorbener Mann konnte mit ihr zufrieden sein. Thomas war ein grundehrlicher Mensch, kein Typ, der Abenteuer suchte, er war warmherzig, immer besorgt und aufmerksam. Er besaß Humor und war bestimmt ein tüchtiger Arzt. Allerdings hatte er ihr gestanden, daß Wolfi eigentlich längst wieder gesund war. Hätte er ihr das jedoch gleich gesagt, wäre er kaum täglich in der alten Villa willkommen gewesen!
Sie lachte. Dieser Tag war herrlich, so wundervoll wie der gestrige Abend dort drüben in dem kleinen Restaurant am Seeufer. Sie fühlte sich wie neugeboren. Hätte sie nicht so lange geschlafen, wäre es an der Zeit gewesen, ein Morgenbad im See zu nehmen. Aber jetzt mußte sie erst mal schauen, wie es Wolfi ging. Heute konnte er wieder draußen herumtollen. Xenia sollte sich an den alten Gartentisch setzen und ihrer Mutter einen Brief schreiben. Bestimmt hatte Natalie allmählich Sehnsucht nach Mann und Kindern.
Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und ging hinüber in Wolfis Zimmer. Er lag im Bett und grinste keck. Sie beugte sich über ihn, drückte ihm einen Kuß auf die Stirn und schob mit einer energischen Handbewegung die Gardinen auseinander. »Du kannst heute aufstehen, Wolfi! Endlich wieder in der Sandkiste spielen und herumtollen. Wenn du Lust hast, kommst du mit mir in die Stadt. Vielleicht sind die Gardinen für das große Zimmer im Parterre auch schon fertig. Dann hängen wir sie zusammen auf, und du kannst mir die Leiter festhalten.«
»Ich bin aber noch schwach, Tante Angie.«
»Schwach? Aber du hast gestern abend schon ganz schön auf der Treppe herumgetobt, mein Lieber. Da habe ich nichts von deiner Schwäche bemerkt. Am liebsten hätte ich dich persönlich ins Bett gesteckt, aber ich mußte ja fort, zu Dr. Hassberger, der schon auf mich wartete.«
»Ich hab’ noch aus dem Fenster geguckt und gesehen, wie du und der Onkel Doktor abgefahren seid«, erklärte Wolfi stolz.
»Na, siehst du, dann kannst du heute auch draußen spielen.«
»Nee, Tante Angie, das kann ich nicht. Nora hat gesagt, ich muß stramm liegen.«
»Stramm liegen? Warum das denn? Du hast seit vier Tagen kein bißchen Fieber mehr und verputzt dein Essen wie ein kerngesunder Mann.«
»Aber Nora hat es gesagt. Sie will mich auch immer pflegen. So, als wäre sie meine Mutti.«
»Wie bitte? Dich immer pflegen? Was soll denn dieser Unsinn! Du brauchst doch keine Dauerpflege.« Sie überlegte. Vielleicht sollte der Junge wirklich noch sein Frühstück im Bett einnehmen. Zuviel Hektik nach den Tagen der Bettruhe war auch nicht gut. »Also gut. Ich bringe dir, sowie ich angezogen bin, deine Cornflakes mit Milch und Zucker und dann…«
»Nora sagt, Cornflakes sind nicht gut, ich soll Vollkornbrot essen und Schinkenomelett!«
»Ja, ja, ja, mein Engel. Das bekommst du heute abend.«
»Nein, Nora sagt, morgens ist es besser.«
»Nora kann erzãhlen, was sie will.«
Sie verließ das Zimmer mit energischen Schritten, ihre Bewegungen wurden von Minute zu Minute forscher. Sie ärgerte sich. Und die kalte Dusche kühlte ihren Zorn nicht einmal ab. Erst, als sie eine frische Bluse angezogen und ein dezentes Make-up aufgelegt hatte, lächelte sie sich wieder versöhnt im Spiegel zu. Sie war noch recht hübsch für ihr Alter, und Thomas hatte es ihr hundertmal versichert, ohne allerdings einmal das Alter erwähnt zu haben. Sollte Nora Anderson sich so wichtig machen wie sie wollte, hier hatte sie – Angelika Winkler – das Sagen. Wenigstens solange bis ihr Bruder Gerd endlich von seiner Reise heimkehrte.
Unten in der Küche stand Frieda und bereitete ein Schinkenomelett vor. Angie guckte ihr verwundert über die Schulter.
»Für wen soll denn das sein?« fragte sie, nichts Gutes ahnend.
»Für Wolfi. Fräulein Anderson hat es gestern abend, nachdem Sie weggefahren sind, angeordnet. Ich muß auch gleich zum Einkaufen. Es soll heute mittag Kohlrouladen geben.«
»Kohlrouladen? An einem heißen Tag wie heute? Wir haben doch noch Kartoffelsalat und rote Grütze. Nein, es gibt keine Kohlrouladen, Frieda. Hubs kann nachher zum Fleischer gehen und Würstchen holen.«
»Ihr Sohn muß heute früh Mathematik lernen.« Frieda sprach selbst schon wie eine Gouvernante. »Und dann soll er Fräulein Anderson beim Aufhängen der Gardinen helfen.«
»Welche Gardinen denn?«
»Die für das Arbeitszimmer von Herrn Stellmann.«
»Da haben wir noch gar keine ausgesucht, Frieda. Das überlasse ich meinem Bruder lieber selbst.«
»Aber Fräulein Anderson hat sie gestern noch vorbeigebracht.«
»Fräulein Anderson? Die Gardinen für das Arbeitszimmer meines Bruders? Dabei kann es sich nur um einen Irrtum handeln.«
»Nee, Frau Winkler. Die liegen ja schon da.«
Angie verließ die Küche, eilte die Treppe ins Parterre hoch und betrat das Arbeitszimmer neben dem großen Salon. Tatsächlich, da lag ein großes Paket. Mit raschen Bewegungen riß sie das Papier auf. Blumen leuchteten ihr entgegen. Rote und orangene Blumen. Sie starrte das Muster an. Nein, es konnte sich nur um einen Irrtum handeln. Sie selbst hatte, um ja nicht zuviel falsch zu machen, weiße, lichte Bahnen für den Salon bestellt. Bestimmt hatte da etwas mit der Lieferung nicht geklappt.
In diesem Moment hörte sie Schritte in der Halle. Die Handwerker kamen also pünktlich. Wenigstens die