Richard Lorenz

HINTER DEN GESICHTERN


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Mädchen! Und böse Mädchen bekommen böse Träume.

      Lisbeth öffnet die Augen und versucht tapfer zu lächeln. Marlene sieht sie ängstlich an, und Utrecht hat seine Hand auf die ihre gelegt, um sie zu beruhigen.

      »Zu wenig Schlaf. Das ist alles«, flüstert Lisbeth, obwohl sie so ausgeschlafen ist wie schon lange nicht mehr. Natürlich weiß das Marlene, dennoch nickt sie. Viel zu schnell zieht Lisbeth ihre Hand unter Utrechts weg, ohne ihn dabei anzusehen. Er schweigt.

      Utrecht wohnt jetzt in diesem Haus, in dem damals der stumme Nachbar einen Sommer lang auf der Veranda gesessen war. Jazzmusik aus dem tragbaren Radiogerät mit der ungemein langen Antenne, die in der Erinnerung wie ein Giftstachel aussieht.

      »Ich. Ich mach mich rasch frisch, ja? Bin gleich wieder da.« Lisbeth wankt ins Badezimmer, und für einen Moment glaubt sie sich tatsächlich übergeben zu müssen. Alles Vergangene mit einem Schwall aus dem Bauch zu erbrechen, um es dann betrachten zu können. Doch die Übelkeit verschwindet mit dem kalten Wasser, das sie sich über die Hände laufen lässt, und auch die Hitze geht fort. Erschrocken schaut sich Lisbeth im Spiegel an und weiß nicht so recht, was geschehen ist.

      Können Tote einfach so andere Leichen ausgraben? Nur, weil in ihnen ein Messer steckt, die Klinge verschluckt vom Fleisch und vom Blut?

      Sei nicht albern, Lisbeth.

      Und dennoch ist es so. Seitdem der Rettungswagen den Mann ausgespuckt hatte, sind die Friedhöfe der Vergangenheit wieder hell erleuchtet. Friedhöfe, die Lisbeth längst schon vergessen haben wollte. Gräber, von denen sie weiß, dass es sie gibt. Auch jene der Kinder, die bei dem Brand ums Leben gekommen sind.

      Drei Kinder. Zwei Mädchen, ein Junge.

      Lichterloh brennend die Haare. Feuerzungen aus ihren Augenhöhlen und der Geruch von verbranntem Fleisch.

      Reiß dich zusammen! Sie schiebt ihren schwarzen Rock hoch und zwickt sich selbst in den Oberschenkel. Wie man es bei Ohnmächtigen macht, die noch alles haben: Herzschlag und Atemzüge. Ein kräftiges Zwicken, am besten in die Brustwarze, um sie zu erwecken. Der aufflammende Schmerz im Oberschenkel reicht ihr allerdings vollkommen, um wieder klarer zu sehen.

      Ganz gerade stellt sie sich hin und spürt ein Pochen in ihrem Rücken. Im Badezimmerregal findet sie ohne langes Suchen eine Ibuprofen 400, sie legt sie wie eine Hostie auf die Zunge und spült sie mit einem Schluck Leitungswasser hinunter. Würde es nicht reichen, hätte sie zur Sicherheit noch ein Fläschchen Novalgin-Tropfen parat.

      Was ist los? Sie hat doch gewusst, dass Utrecht jetzt in diesem Haus wohnt, das jahrelang den im Dorf herumirrenden Gespenstern ein Zuhause bot. Inmitten der blutigen Episoden war der fremde Nachbar weggezogen, von einem Tag auf den anderen. Das alles weiß sie, tief in ihren Eingeweiden verborgen.

      Und natürlich kann sie sich daran erinnern, ohne Erlaubnis in dieses Haus geschlichen zu sein. Um herauszufinden, ob sie diese merkwürdigen Musikfetzen nur erträumt oder wirklich gehört hatte. Tatsächlich war in einem der oberen Räume das Radiogerät gestanden, und sie hatte es angemacht. Aber Jazzmusik war keine aus dem Lautsprecher gekommen, weil es ja dort gar keinen Strom mehr gegeben hatte. Nur das leise Klacken des Schalters in einem stillen Haus. Mit den Spinnweben und den Flecken auf dem Holzboden und den Schattenwürfen hinter den Ecken.

      Doch.

      Was?

      Erinnerst du dich nicht mehr? Kinder haben gesungen. Die toten Kinder haben aus dem Radiogerät gesungen. Ganz, ganz leise. Von dir haben sie gesungen.

      Quatsch! Still ist es gewesen, totenstill sogar. Ein nasskalter Herbsttag, und in der Luft der Geruch von geronnenem Blut und kaltem Regen. Mehr nicht. So kalt wie das Wasser aus der Leitung, das sich Lisbeth nun ins Gesicht spritzt, um endlich ganz wach zu werden. Um jede dumme Erinnerung auszulöschen.

      »So, jetzt bin ich wieder da. Gibt es noch Wein?« Lisbeth fühlt sich besser, viel besser sogar. Vielleicht, doch darüber will sie eigentlich noch gar nicht nachdenken, sollte sie zu einem Arzt gehen oder wieder mal zu einem Psychologen. Wobei sie Psychologen nicht sonderlich ausstehen kann und Ärzte eigentlich auch nicht. Geh zu einem Irrenarzt, und du wirst verrückt, heißt es.

      Aber vielleicht braucht sie auch einfach nur Ruhe und ein wenig Abstand von den Notfällen in der Arbeit. Von den offenen Wunden und den fehlenden Fingern, von den Schreien und, noch viel schlimmer, von der Stummheit der Nulllinienpatienten.

      Sie hat sich frisches Parfüm aufgetragen und sich nachgeschminkt, und sie ist bereit für den Weihnachtsabend, für die Bratäpfel zur Nachspeise und die Bescherung, die eigentlich längst schon über die Bühne hätte gehen sollen.

      »Wein ist noch genügend da«, sagt Marlene.

      »Wo ist Utrecht?«

      »Der ist nach Hause gegangen.«

      »Oh.« Lisbeth setzt sich auf seinen Platz, zieht ihr Glas zu sich und trinkt es in einem Zug leer.

      »Keine Krankenhausgeschichten, bitte!« Marlene löst ihre Hochsteckfrisur und reibt sich die Augen.

      »Also, ich hätte ein paar interessante auf Lager. Von dem Mann, der sich einen Nagel in den Kopf …«

      »Hör auf!«

      Und natürlich hört Lisbeth damit auf, sie lächelt und umschließt mit ihren Händen die Hand ihres Herzschlagmädchens. Vielleicht wird sie morgen zu Utrecht rübergehen, mit einem selbst gebackenen Kuchen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Sicherlich ist Utrecht nicht gekränkt oder gar beleidigt. Sie hat ihm einfach nur Angst gemacht.

      »Bescherung?«

      »Besser als die Bratäpfel. Die sind nämlich auch im Eimer.« Marlene schaut zur Küche. Vier einst prachtvolle Äpfel sehen jetzt aus wie fauliges Herbstobst.

      »Wir haben noch Eis. Immerhin.« Lisbeth schenkt sich Wein nach und trotz allen Dingen, die schiefgegangen sind, fühlt sie sich gut. Fühlt sich gut in der Nähe ihrer Tochter, die immer noch alles heilen kann. Allein mit ihrer Anwesenheit.

      »Immerhin. Eis ist eh besser. Utrecht hat dir was dagelassen.«

      »Ein Geschenk?«

      »Sieht ganz danach aus.« Marlene überreicht es ihr. Ein unbeholfen eingepacktes Präsent, das Papier viel zu kitschig und die Schleife darauf windschief gewickelt. Obwohl sie ahnt, dass es eigentlich nichts anderes als ein Bilderrahmen sein kann, ist sie eine Sekunde lang sprachlos.

      »Bist das du?« Marlene nimmt ihr die Fotografie aus den Händen.

      Vor dem Haus schippt Utrecht Schnee.

      Denn der fällt gerade wieder in ziemlich großen Flocken vom Himmel, so als wäre sie doch wahr: diese Weissagung von einem Jahrhundertwinter.

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