was anderes, Hexe Lisbeth, wie dumm kann man nur sein! Wieder einmal ihre Großmutter, die aus der Grube auf dem Friedhof heraus flüstert, obwohl sie ein Leben lang nie geflüstert hat. Vielleicht weil ihr gerade ein Klumpen feuchter Erde den Mund verschließt.
»Du bist eine Hexe!« Lisbeth steckt das Feuerzeug wieder in ihre Jeans und fragt sich, weshalb gerade jetzt diese Gedanken wiederkommen. Was vergraben ist, soll auch vergraben bleiben. Tatsächlich hat sie ja ewig nicht mehr daran denken müssen, auch weil sie nicht mehr daran hatte denken wollen. In jedem Menschen stecken schließlich unendlich viele Biografien. Hat sie darüber gelesen oder es einfach irgendwo aufgeschnappt? Vielleicht von Schwester Alma, die an esoterischen Kram glaubt wie andere Leute an Jesus? Die ernsthaft mit ihrem Leitungswasser spricht, um es von allen Schadstoffen zu erlösen und nur ja keinen Bauchspeicheldrüsenkrebs zu bekommen.
Aber doch stimmt es: In jedem Menschen steckt ein anderer und darin wieder jemand. Mit tausend neuen Gedanken und noch viel mehr Träumen. Kein Quatsch über Wiedergeburt, eher eine philosophische Betrachtungsweise der Fragilität des Lebens. Das Mädchen von damals ist fortgegangen, Lisbeth hat es in einem imaginären Garten vergraben, um es nicht mehr betrachten zu müssen. Und mit ihm die hässlichen Erinnerungen an die Hellsichtigkeit oder besser gesagt: an die vermeintliche Hellsichtigkeit. Dennoch kommen immer wieder Leute zu ihr, verzweifelte Menschen. Vor allem Menschen aus der Umgebung, die sich noch an früher erinnern können, als es geheißen hatte, Lisbeth wäre so etwas wie ein Wunderkind. Jetzt gerade muss sie darüber lachen, so laut, dass sie erschrocken die Hand vor den Mund schiebt, weil sie nicht will, dass Marlene fragt, was denn da oben so amüsant ist.
Eigentlich ist es nur eine Art Zaubertrick, nicht mehr und nicht weniger. Denn die Leute wollen ja glauben, wollen nichts lieber, als an irgendetwas glauben. Deshalb gehen sie schließlich auch in die Kirche: um an ein Himmelreich zu glauben. So wie manche Krankenschwestern einen Krampfanfall vorhersagen können, aufgrund einer Erkrankung, einer Medikation oder anderer Faktoren, kann Lisbeth halt Schlüssel finden oder entlaufene Tiere. Aber ist das tatsächlich schon Hellsichtigkeit? Oder schlicht eine Aneinanderreihung merkwürdiger Zufälle?
Hast du nicht auch den verrückten Jungen des Polizisten wiedergefunden? Jene Stimme in ihrem Kopf, ein Echo der Stimmen aller Toten.
»Haltet endlich den Mund!« Lisbeth steht viel zu schnell auf und stößt sich dabei den Kopf am Dachbalken. Als Kind war sie gern hier oben gewesen, dem Himmel nahe. Viel lieber als unten im Keller, Kartoffeln holen oder eingemachtes Obst. In einem Haus alles vereint: Grabestiefe und Himmelsnähe. Aber sie ist dem entwachsen, nicht nur körperlich – der Dachboden wirkt fremd und viel kleiner als in jeder Erinnerung. Hier oben sind nur mehr die Reste ihres früheren Lebens versammelt, diejenigen Dinge, die ihre Mutter hochgeschleppt hatte, um sie verstauben zu lassen. Und hätte Marlene nicht unbedingt blaue Christbaumkugeln gewollt, wäre Lisbeth gar nicht erst auf die Idee gekommen, hier jetzt fast schon eine Stunde danach zu suchen. Neue Kugeln für einen geraden Baum, hat Marlene gefordert, und Lisbeth hat an die blauen Glaskugeln ihrer Kindheit gedacht. Nicht nur, dass es auf dem Dachboden vor Spinnen und anderem komischen Getier nur so wimmelt, es ist hier oben auch ziemlich kalt. Schneespuren dringen durch die fingerdicken Fugen im Dach und erinnern sie wieder einmal daran, dass sie das Haus unbedingt renovieren muss, bevor es eines Tages einfach über ihnen zusammenbricht.
»Keine Kugeln. Pech, Madam!« Lisbeth zieht den Reißverschluss ihrer alten Jacke hoch und fragt sich, weshalb sie in aller Welt nicht an Handschuhe gedacht hat. Klamm die Finger, die Zehen sowieso. Sie wird noch ein paar alte Schachteln durchsehen und sich dann auf den Weg nach unten machen, um sich in ihrem Lieblingssessel mit einer Wärmflasche und einer großen Tasse Kaffee dumme Nachmittagsserien im Fernsehen anzusehen. Vielleicht würde sogar irgendwo Columbo laufen, und der Tag wäre wieder gerettet.
Unten singt Doris Day vom Weihnachtswunder, Marlene singt leise mit, in ihrer wunderbaren Stimme. Lisbeth hört sie gern singen, und so steht sie da, frierend, mit einer großen Atemwolke vor dem Gesicht, und lächelt zufrieden. Nur noch drei Tage bis zum Heiligen Abend, und langsam freut sie sich sogar darauf. In ihrer Kindheit waren die Weihnachtstage meist dunkel gewesen, bemalt von Schreien und Nörgeleien, vom ersten Wanken, wenn Vater wieder einmal zu viel getrunken hatte. Vom späteren Weinen ihrer Mutter, und nicht selten stand schon am nächsten Morgen der Christbaum vor dem Haus, als hätten sie alle genug von den Feiertagen und dem Weihnachtspunsch. Vielleicht wird sie ja doch Utrecht zum Weihnachtsessen einladen, einfach so.
»Na gut, noch ein Versuch, und dann gehen wir wieder nach unten.« Lisbeth haucht sich in die Hände und reibt sie warm. Vermutlich sind die meerblauen Kugeln ja doch nur eine lose Einbildung, oder Mutter hatte sie längst weggeworfen und mit ihnen jegliche Erinnerung an missglückte Tage.
Dann aber hebt Lisbeth eine der Schachteln empor und öffnet damit ein Grab, hundert Meter tief. Stickige, faulige Luft steigt empor, als würde ein Dutzend Münder ihr einen Abschiedshauch entgegenatmen.
Zwischen vergilbten Büchern mit fehlenden Seiten und Kinderzeichnungen aus den ersten Schulklassen: Zeitungsausrisse, an den Ecken ausgefranst und von den Mäusen angefressen. Lisbeth sieht sich selbst als kleines Mädchen auf einer körnigen Schwarz-Weiß-Fotografie. Vermisster wiedergefunden, steht darübergeschrieben. In kurzen Zeilen ein fahriger, ungenauer Bericht über einen alten Mann, der vier Tage als abgängig galt und den Lisbeth angeblich in einem verlassenen Keller fand. Der Mann hatte sich den Fuß gebrochen und sich deshalb nicht selbst retten können. Daran erinnern kann Lisbeth sich allerdings nicht mehr, egal, wie sehr sie sich anstrengt. Unbeachtet flattert der spröde gewordene Papierschnipsel zu Boden. Sie liest von wiedergefundenen Tieren, die meisten davon Katzen und sogar eine Schildkröte. Von Kindern, die in den Sommerferien am Abend nicht nach Hause gekommen waren, und davon, dass man nur Lisbeth B. fragen musste, um ihre Verstecke zu finden. Brüchig das Papier, das Mädchen auf den Bildern allmählich größer werdend. Mit seinen pechschwarzen Haaren, damals immer zu zwei Zöpfen gebunden und wild an den Seiten abstehend, als wäre es eine Piratenbraut.
»Wer bist du?« Lisbeth berührt die Fotografien und spürt nichts. Das Mädchen eine Fremde, die nur zufällig ihren Namen trägt und so aussieht, wie sie selbst als Mädchen ausgesehen hat. Aber kein Herzschlag synchron, nichts davon sich in ihrem Bauch wiederfindend.
Wunderkind, steht dort geschrieben.
Und da: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht.
Aber all das war gelogen, nichts davon konnte wahr sein. Die Menschen wollen nicht nur glauben, sie verlangen auch Wunder.
»Hier, siehst du! Hier!«, flüstert ihre Großmutter abermals, als Lisbeth liest: Unheimliche Kindermorde – Behinderter Sohn von Polizisten aufgespürt.
Aus der Küche hört Lisbeth Wham und ihr »Last Christmas«, in ihrem Kopf klingen die Stimmen verzerrt und hässlich. Wenn du jetzt nicht aufpasst, wirst du ohnmächtig, denkt sie sich und setzt sich auf den Boden. Sie zittert so stark, dass das Papierstück in ihren Fingern zerreißt.
Er hatte sich in einem dieser großen Abwasserrohre versteckt, weil er Angst gehabt hatte. Weil sie ihn alle für den Kindermörder gehalten hatten. Emporlodernde Erinnerungsbilder, unscharf und weit entfernt. Scharf nur die Wahrnehmung, dass er es nicht gewesen sein konnte. Sie hatte seinen Herzschlag gehört. Wie andere Leute Bienen hören können, noch hundert Kilometer weit entfernt. So laut wie den Trommelwirbel im Zirkus. Und dann? Dann war sie dem Geräusch einfach gefolgt, Schritt für Schritt. Ein Herz, das andere Herzen zerschneidet, kann nie und nimmer so fest schlagen, hatte sich Lisbeth damals gedacht.
Der Schnee glitzert durch die Dachbalkenritzen, der Himmel ist nah und bleigrau. Ein Winternachmittagshimmel, die Windböen lassen die Häuser und Schuppen der Umgebung knarzen.
Moritz, Moritz, warum schaust du so dumm? Kindergesänge, vom Wind herbeigetragen.
»Ich hab nix gemacht. Nix!« Die Stimme aus dem Abflussrohr.
»Gib mir deine Hand, komm!«
»Aber ich hab nix gemacht. Hab sie nicht totgemacht.«
»Dann komm jetzt!«
»Machen sie mich jetzt tot? Ganz tot? Komm ich dann in den Himmel?«
»Soll