Richard Lorenz

HINTER DEN GESICHTERN


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nach einer Paracetamol-Tablette. Aber ein starker Windstoß von Osten her, der ihr Auto durchschüttelt, hält sie davon ab. Von hier aus kann sie sowieso schon fast ihr Haus sehen – ein schemenhafter Umriss mit hell erleuchteten Fenstern. Und zu Hause hat sie genügend Medikamente, um eine ganze Krankenstation zu versorgen. Krankenschwestern sind die schlimmsten Patienten, heißt es. Und das stimmt vermutlich sogar. Hinter jeder Hustenattacke ein Atemstillstand lauernd. Die Angst vor dem Versteckten, das sich in einem Überraschungsmoment jäh offenbart, liegt im Beruf begraben. Da gibt es keinen Zweifel, Krankenschwestern können Unheil auf hundert Meter Entfernung riechen. Umso verwunderlicher ist es, dass sie den toten Mann im Schockraum 2 nicht gespürt hat. Denn ein wenig von diesen Ahnungen ist ihr ja geblieben – Ahnungen davon, dass im Krankenhaus zwei Stockwerke über der Ambulanz gleich jemand sterben wird. Winzige Flackerlichtvisionen von Leben und Tod, die allerdings nach über zwanzig Jahren Hospital nicht sonderlich überraschend sind. Es gibt schließlich Krankenschwestern, die können nach zwei Minuten Patientenkontakt eine korrekte Diagnose stellen. Hellsichtig sind sie alle nicht, und jetzt, nach so vielen Jahren, ist sich Lisbeth nicht einmal mehr sicher, ob sie selbst es jemals gewesen ist. Der Fall der Schneeflocken macht ihre Gedanken schwer, und sie muss sich zwingen, die Augen offen zu halten.

      Auch darüber hat sie gelesen: dass Kinder, vor allem junge Mädchen, manchmal sehr sensibel auf die Umwelt reagieren, wenn die Eltern oft streiten. Und Herrgott, ihre Eltern hatten eigentlich unentwegt gestritten! Im hinteren Zimmer seit vermutlich hundert Jahren die uralte Großmutter mit den offenen Beinen und den wirren Gedanken im Kopf. In den letzten Jahren vor ihrem Tod schrie sie manchmal nachts, plärrte von den Teufeln unter ihrer Bettdecke.

      Vielleicht hatte ja deshalb der rabenschwarze Engel in Lisbeths Kinderkopf getanzt. Um all diese Stimmen verstummen zu lassen. Und vielleicht hatte der rabenschwarze Engel einfach nur alles irgendwo aufgeschnappt, was sie später vorauszusagen glaubte. Überhaupt kann sie sich nur schwer an die Wahrsagungen erinnern.

      Außer an jene Novemberregenvision, die so stark gewesen war, dass sie geglaubt hatte, daran sterben zu müssen.

      Aber zuvor? Weshalb hatten die Leute eigentlich Angst vor ihr gehabt? Mit sechs, sieben Jahren schien sie dem Rest der Welt entrückt zu sein. Natürlich hatte sie keine Katastrophen vorhergesagt oder schlimme Dinge aus einem offenen Fischbauch herausorakelt. Was genau also war geschehen? Katzen, ja, verloren gegangene Katzen hatte sie damals immer wieder gefunden, ohne sich dabei groß anstrengen zu müssen. Sie hatte einfach gewusst, welche Wege sie gehen musste, um sie wiederzufinden, tot oder lebendig.

      Das Lenkrad schlägt nach rechts aus, und Lisbeth erschrickt. Wenn sie etwas hasst, dann Wintertage mit verschneiten Straßen. Vor allem, wenn sie entweder von der Arbeit kommt oder zur Arbeit muss. Der Streufahrer ist ein ortsbekannter Alkoholiker, der im Vollrausch minutengenau Neuschnee vorhersagen kann – dann aber viel zu betrunken ist, um auch wirklich loszufahren. Dass er sich heute überhaupt schon auf den Weg gemacht hat, verwundert Lisbeth. Gleichzeitig lächelt sie zum ersten Mal, seit sie in das Auto gestiegen ist, denn im Laufe ihres Lebens sind ihr tatsächlich viele Leute begegnet, die etwas voraussagen können. In ihren Knochen spürend den späten Herbststurm oder den frühen Wintereinbruch. Hier draußen zwischen Stadt und Land sind Merkwürdigkeiten keine Seltenheit – viele Leute glauben immer noch daran, dass es Unglück bringt, wenn man nach Mitternacht das Haus verlässt, oder dass man Warzen am besten mit einer Mischung aus Beten und Fluchen behandelt.

      Es kann gut sein, dass es Großmutter herumerzählt hatte, diese Sache mit dem zweiten Gesicht, und dass es vor allem deshalb die Leute von Lisbeth erwartet hatten. Wie man von besonders talentierten Kindern erwartet, dass sie überall ihre Kunststücke aufführen. Weiß Gott, sie kann sich daran nur sehr schemenhaft erinnern, alles zergliedert von den lauten Schreien ihrer Eltern, dem zerbrochenen Geschirr auf dem Küchenfußboden. Und einer alten Frau, die ständig von Gestalten fantasierte, die aus den Gräbern kamen, um sie allesamt heimzuholen.

      Das eine aber wird sie nie vergessen können: die Flammen, die aus den Augenhöhlen schlugen, und die lichterloh brennenden Haare. Jetzt, als sie daran wieder denkt, kann sie das verbrannte Haar sogar riechen, und sie muss das Fenster herunterkurbeln, um den Gestank aus dem Auto und aus ihrem Kopf zu vertreiben. Und mit ihm die dunklen Erinnerungen an eine eigenartige Vergangenheit.

      Schon an der Einfahrt zu ihrem Haus kann sie Utrecht sehen, der Schnee schippt. Utrecht, der seit über zehn Jahren im Nachbarhaus wohnt und der seinen Vornamen niemandem verrät, weil er ihn nicht sonderlich mag. Der Autoscheinwerfer erhellt ihn, er hält inne und hebt die Hand. Wie immer raucht Utrecht einen dieser scheußlichen Zigarillos, die man tatsächlich nur im Freien rauchen kann. Ein Kettenraucher, wie er im Buche steht, aber wenigstens mit festen Gewohnheiten: Im Haus raucht er Zigaretten oder Pfeife, im Garten Zigarillos oder, wenn es etwas zu feiern gibt, Zigarren. Manchmal stopft er sich überdies Schnupftabak in die Nase, und Lisbeth wundert sich jeden Tag aufs Neue, dass er überhaupt noch Luft bekommt. Sie lächelt ihm zu, er lächelt zurück, während sie den Motor abstellt und merkt, dass sie ein klein wenig zittert. Wegen der Kälte und der Schlitterfahrt, aber auch wegen des Mannes im Schockraum mit dem Messer zwischen den Herzkammern.

      Herzen sind dazu da, sie zu zerschneiden.

      Lisbeth erschrickt über die Stimme in ihrem Bauch. Wer hatte das damals gesagt? Oder hatten sie es alle gesagt, als es angefangen hatte mit den Kindern?

      »Was für ein Wetter!« Utrecht zieht einen Handschuh aus und wischt sich mit der freien Hand über die Stirn. Auf seinem Kopf eine alberne Pudelmütze mit rotem Bommel, die vom Schnee nass und von der Kälte steifgefroren ist.

      »Ja, was für ein Scheißwetter!« Lisbeth lehnt sich an den Wagen und atmet tief durch.

      »Auch ein Scheißdienst, was?« Utrecht kramt in den Taschen seines Parkas, fischt eine Zigarettenpackung heraus und gibt sie Lisbeth. Sie zögert, zieht dann aber doch eine heraus. Marlene entdeckt sie nirgendwo, vermutlich sitzt sie sowieso in ihrem Zimmer und sieht sich Netflix-Serien an.

      »Ich sollte nicht so viel rauchen«, sagt Lisbeth, zündet die Zigarette an und inhaliert den Rauch tief in ihre Lungen.

      »Das sage ich mir auch immer. Hilft nur nichts.« Utrecht schnippt den Zigarillo in einen Schneehaufen und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an.

      Zu Beginn ihrer Nachbarschaft hatte Utrecht eine Zeit lang versucht, Lisbeth zu einem gemeinsamen Abendessen zu überreden. Und tatsächlich hatte sie manchmal sogar ernsthaft darüber nachgedacht. Natürlich ist Utrecht nicht wie einer dieser Dienstärzte, aber seine Augen sind gütig. Und sein Herz noch viel mehr. Irgendwie ist es dann aber doch nie dazu gekommen, auch weil alles zu viel geworden war: der Vollzeitjob, Marlenes erste Schuljahre und überhaupt. Lisbeths geschiedener Mann hielt nie sonderlich viel von pünktlichen Zahlungen, für ein, zwei Jahre verschwand er sogar gänzlich von der Bildfläche. Utrecht, der seit dem Erbe von seiner Mutter nicht mehr bei der Post arbeitete, half ihr in schweren Monaten immer wieder finanziell aus, ohne das Geld je wiederhaben zu wollen. Hat sie eigentlich jemals gewusst, wie alt Utrecht ist? Vielleicht hat er es einmal erwähnt, aber sie ist sich nicht sicher. Vermutlich vier, fünf Jahre älter als sie selbst. Vor gefühlt zwei Jahren ist sie noch dreißig gewesen und jetzt? In ein paar Monaten wird sie vierzig werden. Alleinerziehend und überarbeitet, mit einem Sack voller Erinnerungen zwischen Herz und Seele. Vergangenes Jahr hatte sich eine ihrer Kolleginnen nach dem Spätdienst zu Hause erhängt, weil sie im Jahr darauf pensioniert werden sollte. Die Zeit kann ein schlechter Verlierer sein, das weiß Lisbeth nur allzu gut.

      »Ja oder nein?«, fragt Utrecht und bläst eine große Rauchwolke zum Himmel hinauf.

      »Ja oder nein?«

      »Ich habe gefragt, ob du schon einen Weihnachtsbaum hast oder noch einen brauchst? Ich besorge morgen einen, bevor die guten alle weg sind. Kann dir einen mitbringen, kein Problem.«

      »Hab mal wieder nicht zugehört, entschuldige bitte!« Lisbeth lächelt und berührt dabei seinen Arm, ohne zu wissen, weshalb.

      »Du brauchst Urlaub, das ist alles. Also?« Utrecht schnippt die Zigarette in hohem Bogen fort und zündet sich sofort die nächste an.

      »Das wäre großartig, ja. Ich kaufe